„Denken ohne Geländer“
Dreißig Jahre nach der Wende
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Abstract in English
Abstract
Europas autoritäre Populisten behaupten, es habe das Wunder von 1989 nicht gegeben. Und allzu leicht schenken ihnen selbst ihre Gegner Glauben. Doch es ist schlicht falsch. Alles, was ab der Perestrojka geschah und 1989 kulminierte, war unglaublich, unerhört, voller Illusionen – aber es war keine Illusion. Seitdem sind in Europa Menschen und Gesellschaften, Räume und Kulturen, Politik und Wirtschaft in Bewegung, wenn auch anders, als es die Sozialwissenschaften mit linearen Konstrukten, Konzepten und Theorien der Transformation erwarteten. Doch statt sich mit retrospektiv teleologischen Interpretationen über die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ lustig zu machen, sollte man fragen, vor welchem Erfahrungs- und Erwartungshorizont diese entstand. Die Mikrogeschichte des „historischen Augenblicks“ als eine Geschichte der Kontingenz wird erst noch geschrieben werden. Diese Geschichte ist mehr als Erinnerung und pädagogische Unterweisung. Sie ist ein Arsenal zur Schärfung der Sinne.
(Osteuropa 12/2019, S. 314)
Volltext
Europas autoritäre Populisten behaupten, es habe das Wunder von 1989 nicht gegeben. Und allzu leicht schenken ihnen selbst ihre Gegner Glauben. Doch es ist schlicht falsch. Alles, was ab der Perestrojka geschah und 1989 kulminierte, war unglaublich, unerhört, voller Illusionen – aber es war keine Illusion. Seitdem sind in Europa Menschen und Gesellschaften, Räume und Kulturen, Politik und Wirtschaft in Bewegung, wenn auch anders, als es die Sozialwissenschaften mit linearen Konstrukten, Konzepten und Theorien der Transformation erwarteten. Doch statt sich mit retrospektiv teleologischen Interpretationen über die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ lustig zu machen, sollte man fragen, vor welchem Erfahrungs- und Erwartungshorizont diese entstand. Die Mikrogeschichte des „historischen Augenblicks“ als eine Geschichte der Kontingenz wird erst noch geschrieben werden. Diese Geschichte ist mehr als Erinnerung und pädagogische Unterweisung. Sie ist ein Arsenal zur Schärfung der Sinne.
Wer in der Woche vor dem 9. November 2019 durch Berlin ging, konnte den Eindruck haben, der große Karneval sei im Gange, von dem Guy Debord vor einem halben Jahrhundert in seinem Buch La societé du spectacle, einer frühen Studie über die „Erlebnisgesellschaft“, gesprochen hat.[1] Massen von Touristen, Halloween-Fans, Son-et-lumière-Aktionen überall in der Stadt. Aber es waren auch Tage, an denen man sich ernsthaft mit dem, was vor 30 Jahren geschehen war, beschäftigen konnte, beunruhigt von dem, was heute passiert, drei Jahrzehnte nach dem „annus mirabilis“, wie es in der lingua franca Europas heißt.
Ich bin nicht jemand, der die Geschichte von 1989 oder davon, was 30 Jahre danach daraus geworden ist, erzählen könnte. Dafür reicht meine Kompetenz nicht, aber ich habe auch nicht den Ehrgeiz, es zu tun. Es gibt andere, die das getan haben – in einer wahren Flut von Publikationen, darunter ganz ausgezeichneten.
Mein Zugang ist nicht frei von Parteinahme, er ist subjektiv, er ist erfüllt von Misstrauen gegen (vorschnelle) Generalisierungen und gegen jene Gewissheiten, die theoretische Modelle und Paradigmen zu bieten scheinen. Konferenzen wie diese – wo trifft man schon so viele kompetente und engagierte Beobachter aus so vielen Ländern an einem Ort – sind eine Chance für brain storming, oder wie es mein philosophischer Lehrer Helmut Fleischer immer genannt hat, um sich zurückzulehnen und die Gedanken spazieren zu führen, zunächst einmal frei von aller Last, partout etwas beweisen zu müssen: die Plausibilität einer These, einer Methode, eines Erklärungsmodells. Es ist das, was Hannah Arendt in einer ihrer vielen schönen Formulierungen so umschrieben hat: Denken ohne Geländer.
Ich empfinde eine große Ohnmacht, ja Verzweiflung, wenn es darum geht, auch nur in den allgemeinsten Zügen zu skizzieren, was sich in den vergangenen drei Jahrzehnten abgespielt hat, eine große Unsicherheit darüber, was unsereins – schreibende, analysierende Leute – in der Öffentlichkeit beisteuern kann zum Verständnis der Welt, wie sie vor unseren Augen aufgetaucht ist, eine große Hilflosigkeit, eine Sprache zu finden, die in der Lage wäre, diese Welt im Werden angemessen zu beschreiben: Nachkriegswelt, Nach-Kalte-Kriegs-Welt, polyzentrische, postliberale, autoritäre post-post-moderne Welt. Ich ziehe einen phänomenologisch beobachtenden und analysierenden Zugang im Unterschied zum Denken in Modellen, Paradigmen oder Idealtypen vor. Die Risiken, die damit verbunden sind, sind mir klar, daher sei vorab vor zu viel Erwartungen und einer daraus entspringenden Enttäuschung gewarnt.
Das annus mirabilis gab es wirklich: Apologie des kairos
Wenn man sich 30 Jahre nach dem Mauerfall umsieht und umhört, hat man zuweilen den Eindruck, als habe es den Augenblick der Erregung und des Glücks, den wir oder viele von uns in jenen Tagen erlebt haben, nie gegeben, verschwunden unter einem Berg von Interpretationen und Reflexionen. Der „historische Augenblick“, ziemlich häufig dekonstruiert als eine Einbildung, als eine Illusion, Selbsttäuschung und surreales Ereignis, also „in Wirklichkeit“ all das, was sich auf den Straßen von Berlin, Prag, Warschau, Bukarest und anderen Orten ereignet hat, sei nur eine Form der Täuschung und Selbstillusion gewesen. Die wirkliche Erfahrung der Menschen scheint vergessen, trotz der Dokumentarfilme, Tages- und Wochenschauen, Interviews mit den Leuten, die zum ersten Mal in ihrem Leben die geöffnete Grenze überschritten hatten, begeistert und mit Staunen eine Welt betraten und erkundeten, die bis vor kurzem ihr ganzes Leben lang verschlossen gewesen war, ein Augenblick der Befreiung, der Erregung, nun reisen zu können, wohin auch immer in Europa oder in der Welt, erstmals Zeitungen in der Hand zu haben und lesen zu können, die man nur vom Hörensagen kannte und für deren Besitz es einst Strafen gegeben hatte, endlich nahe Verwandte besuchen zu können, die ein Leben lang unerreichbar gewesen waren. Dieser Augenblick war nicht frei von Illusionen, aber er war keine Illusion, kann nicht „dekonstruiert“ und ungeschehen gemacht, allenfalls in einer reflexiven Bewegung beleuchtet und aufgeklärt werden. Er war ein Teil der großen europäischen Befreiungsbewegung. Freilich: auch „historische Augenblicke“ sind nicht immun gegen Mythologisierung. Im Rückblick ist der historische Augenblick zu einem lieu de mémoire, zu einer Ikone geworden, die eine Bruchstelle bezeichnet, eine Zäsur zwischen gestern und morgen, einen Schnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft, obwohl wir zugleich wissen, dass es eine Stunde Null nie gegeben hat.
Jeder hat seine, jede ihre eigene Erfahrung und Erinnerung an den „großen Bruch“, der nicht unbedingt zusammenfallen muss mit dem kalendarischen Datum des 9. November 1989. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls lebte ich in Berlin-Kreuzberg. Das Haus war an drei Seiten von der Mauer umgeben, wir sahen den Strom von Menschen, die über die Oberbaumbrücke, die ansonsten nur von Rentnern passiert wurde, nach Kreuzberg strömten. Es war unvergesslich, bewegend, es flossen Tränen. Aber die eigentliche Bruchstelle für mich lag weit davor und an einem anderen Ort. Es waren die Jahre 1985, 1986 und die folgenden Jahre, die ich in Moskau verbracht hatte. Ein bis dahin nicht bekannter Funktionär der KPdSU erklärte, dass die sowjetische Gesellschaft Perestrojka und Glasnost bräuchte, um sich zu reformieren und weiterzuentwickeln. Ich war wie viele auf das Auftauchen eines solchen Menschen nicht vorbereitet, man traute seinen Augen und Ohren nicht, und es war nicht ganz unverständlich, dass Helmut Kohl in einer Art Kalter-Kriegs-Reflex darauf mit dem Goebbels-Vergleich reagierte, den er freilich bald korrigieren und zurücknehmen musste.
Alles, was in diesen Jahren geschah, war „unglaublich“, „unerhört“, „irreal“. Ich erinnere mich, dass fast jeden Abend in den sowjetischen Fernsehnachrichten Meldungen kamen, die bis dahin nicht einmal andeutungsweise ausgesprochen werden konnten – über die wahren Zahlen der wirtschaftlichen Situation, über die Schauprozesse der 1930er Jahre, über den Krieg in Afghanistan, dann auch über den Super-GAU in Tschernobyl. Wir – oder jedenfalls ich – waren nicht vorbereitet auf diesen „Helden des Rückzugs“, wie Hans Magnus Enzensberger die historische Rolle und Größe Michail Gorbačevs sogleich auf den Begriff brachte. Für andere mag es wiederum eine andere „Bruchstelle“ gegeben haben. Für die einen waren es die Streikbewegung Solidarność und das Kriegsrecht in Polen, für andere der Ausbruch des Krieges in Jugoslawien, für wieder andere vielleicht die Erweiterung der Europäischen Union, der 11. September 2001 oder der Finanzcrash 2008. Es gibt also eine Kette von Ereignissen, auch die Majdan-Revolution und die Annexion der Krim gehören in diesen bis heute andauernden Prozess. Ich möchte nur mir selbst klar machen, dass die Reduktion auf die eine historische Sekunde oder einen einzigen Ort die Beziehung zwischen Fernand Braudels temps évenementiel und der longue durée und die damit gegebenen Gemengelagen und Überlagerungen unterschiedlicher Rhythmen und Zeitmaße missversteht.
Ich teile nicht die Ansicht, dass die von außen, aus dem Westen angelegte Wahrnehmung der „Wende“ in ihrem Kern enthusiastisch, triumphalistisch geprägt war, etwa nach dem Motto „Wir sind die Sieger“. Eher im Gegenteil. Es war eine zögernde, zurückhaltende Anerkennung dessen, was da geschah, ein Erstaunen über Armageddon Averted – so Stephen Kotkins Buchtitel von 1999 – eine von Überrumpelung und Verunsicherung gezeichnete Reaktion. Wie immer wissen wir im Rückblick alles besser, aber alle Geschichte hat ihr eigenes Gewicht, ihre eigene Bedeutung, unabhängig von post-festum-Deutungen. Alle Geschichte ist, wie Ranke bemerkte, „unmittelbar zu Gott“, hat ihr eigenes Recht, jenseits von retrospektiv teleologischen Interpretationen. Die Mikrogeschichte des „historischen Augenblicks“ als eine Geschichte der Kontingenz wird erst noch geschrieben werden.
Transformation, Transition: teleologische Rhetorik in „Zeiten der Wirren“
Transformation und Transition sind Begriffe, die nur sehr ungenügend die charakteristischen Züge und die Spezifik der Prozesse am Ende des Sozialismus und dem Neubeginn danach erfassen. Die Begriffe selbst implizieren expressis verbis und noch viel mehr implizit eine verborgene Linearität, ja Teleologie. Transformation und Transition waren nicht nur mehr oder weniger elaborierte Seminar-Theorien, sondern – verständlicherweise – auch eine Art des Redens über einen von allen erfahrenen und mitgemachten Prozess, eine façon de parler. Die Begrifflichkeit – lange vor Karl Polanyis Buch The Great Transformation von 1944 – stammt aus der sowjetischen Industrialisierungsdebatte zum Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, etwa bei Evgenij Preobraženskij und Nikolaj Bucharin.[2] Es handelte sich um ein ungemein ambitioniertes theoretisches Werk, gedacht als Instrument für die Steuerung des Aufbaus der Planwirtschaft, die Aufhebung des Wertgesetzes, die Überwindung der chaotischen, anarchischen kapitalistischen Produktionsweise. Für das Management des Übergangs, für den „Weg zurück“ vom Sozialismus zum Kapitalismus gab es freilich keinen Präzedenzfall.
Ich glaube nicht, dass die Konzeptionen einer konkreten Schule – sei dies Jeffrey Sachs von Harvard oder Milton Friedman aus Chicago – verantwortlich waren für den Weg, der in Osteuropa eingeschlagen wurde, sondern eher die spontanen Prozesse der Desintegration der staatlich geplanten Ökonomie. Zudem gab es ganz unterschiedliche Wege in der Anwendung von theoretischen Hilfsmitteln und Modellen, denke man nur an so verschiedene Akteure wie Leszek Balcerowicz in Polen oder Anatolij Čubajs und Egor’ Gajdar in der Sowjetunion und Russland. Die konkreten Schritte basierten nicht auf der Übernahme von Lehren von außen, sondern weit mehr auf den spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Volkswirtschaften. Da wären etwa zu nennen: Die Sowjetunion als Imperium, das sich in nationale Ökonomien auseinanderlegte, die Differenz von „großen“ und „kleinen“ Ländern, die unterschiedliche Dauer der Existenz verstaatlichter Wirtschaft – in Russland seit der Revolution, in Ostmitteleuropa erst seit den 1940er Jahren.
Und dennoch: Es scheint mir, dass die der „Transition“ inhärente Teleo-Logik – von A nach B sozusagen – eine der intellektuellen oder theoretischen Blockaden war, die verhinderten, dass man nach angemesseneren Kategorien – oder: einer neuen analytischen Matrix – Ausschau hielt. Es brauchte eine Weile, um aus dem Käfig der überkommenen Kategorien, den Weberianischen „Idealtypen“, die den Gesellschaften des Westens abgewonnen waren, herauszutreten und sich den neuen Strukturen zuzuwenden, die sich am Ende der sozialistischen Entwicklung ergeben hatten und für die Autoren wie Rudolf Bahro, György Konrád und Iván Szelényi und andere bereits versucht hatten, angemessenere Kategorien zu finden.[3]
Die Prozesse, um die es dabei geht, haben den analytischen Rahmen der gewohnten westlichen Standardkonzeptionen unterminiert und gesprengt. Die nachsowjetische Zeit war eine Zeit des „wilden Denkens“, faszinierend, inspirierend – und zugleich Angst einflößend. Die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Prozesse, die Überlappung und Interaktion dieser Prozesse erzeugten einen Grad und ein Maß an Verwirrung, die von den etablierten Disziplinen und routinierten Diskursen nicht erfasst und integriert werden konnten. In meinen Augen ist die These, dass es eine Gruppe hätte geben können, die in der Lage gewesen wäre, den Prozess der Reform von oben nach unten durchzusetzen, dass es ein souveränes Management der spontan ablaufenden Vorgänge hätte geben können, ziemlich naiv. Es gab jene Herren des Verfahrens, jene Akteure, die den Tiger hätten reiten können, einfach nicht, die im Nachhinein so nachdrücklich gefordert werden. Wo hätten sich die Kompetenzen und Kapazitäten auch herausbilden und zur Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit verfestigen können? „Geschichte findet statt“ – so auch in diesem Augenblick. Um nur einige wenige dieser gleichzeitig ablaufenden und sich überkreuzenden Prozesse anzudeuten: das Management der Dekolonisierung des Imperiums, die Auflösung des Imperiums und die Staats- und Nationsbildung, die Konstruktion oder Rekonstruktion von Souveränität der bis dahin unselbständigen Republiken oder Mitgliedstaaten, der Rück- und Umbau der staatlichen Bürokratie und der Aufbau von Strukturen des gesellschaftlichen Lebens, die Auflösung der grenzüberschreitenden imperialen Infrastrukturen und die Integration in die Weltwirtschaft und die globale Entwicklung, die Herausforderungen, die mit Grenzöffnung, open sky und brain drain verbunden waren, die Modernisierung der eigenen Produktionsbasis, die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Lösung der Probleme des Alltags der Gegenwart. Es kam, wie nicht anders denkbar, zu den phantastischsten Kombinationen und Allianzen in der riesigen social fabric des zerfallenden Imperiums, aus alten Funktionärsseilschaften, Newcomern und Selfmademen, mit Korruption als einer historisch gewachsenen Form des Lebens; es kam zur Herausbildung neuer „moderner“ Strukturen, dem Zusammenwachsen von kleptokratischem Kapital und Geheimdienst- und Machtstrukturen, der Verschmelzung von Macht, Kirche und medialer Ästhetik à la Hollywood.
Die 1990er Jahre als die „Zeit danach“ können als eine Zeit des wilden Denkens bezeichnet werden, was befreiend und erschreckend zugleich war. Alle Sujets, die Semantik aller Begriffe, die Werte mussten neu gedacht und neu definiert werden. Und dies vollzog sich nicht – oder nicht primär – in einem elitären Philosophie-Seminar, sondern im Alltag und jederzeit, am Küchentisch, im öffentlichen Raum, in der Demontage von Denkmälern, der Umbenennung von Straßen, in den Diskussionen im Fernsehen usf. Es handelte sich dabei um ein Kräftespiel ohne Regeln, das mehr an Darwins „struggle for survival of the fittest“ erinnerte als an einen ordentlichen Prozess der Implementierung von Institutionen und Regeln. Das Subjekt, das die Kapazität gehabt hätte, diese Vorgänge zu analysieren und zu konzeptualisieren, die Menschen, die vorbereitet waren, den „Totalitarismus“ spätsowjetischer Machart zu beenden, hatten nicht genügend Zeit, nicht ausreichend Potenzial, Antworten auf all diese Probleme zu finden, sie wurden bald überspielt und ausmanövriert durch den Aufstieg all jener, die im rechten Augenblick zur rechten Stelle waren und rücksichtslos und präzise zugegriffen haben. Für die Sturzgeburt dieser neuen Klasse und dieser Gesellschaft gab es kein Vorbild, keine Sprache, und das gilt bis auf den heutigen Tag, wenn man sich das Hantieren mit Hilfsbegriffen – wie etwa „die Oligarchen“ oder „die Mafia“ – ansieht. Wir sind nach wie vor in einer Zeit der Verwirrung, in den Jahren wilden Denkens.
Unterschiedliche „Erfahrungsräume“, unterschiedliche „Erwartungshorizonte – Generationen-Perspektiven
Es ist ein Gemeinplatz der letzten Jahre geworden, konfrontiert mit den Rückschlägen, dem Anwachsen von populistischen und extremen Parteien in Europa und anderswo, über die Illusionen zu jammern, denen die Aktivisten von 1989 verfallen gewesen seien. Und es ist zur Regel geworden, sich in diesem Zusammenhang über Francis Fukuyama und sein „Ende der Geschichte“ lustig zu machen. Die Frage ist aber, warum und wie es dazu kam, dass Menschen eben so dachten. Dabei handelt es sich nicht einfach um Illusionen, sondern um etwas, was ernster zu nehmen war: Gedanken und Projektionen, die aus dem, was Reinhardt Koselleck Erfahrungs- und Erwartungshorizont genannt hat, der Raum von Erfahrungen und Erwartungen unterschiedlicher Generationen, die unter verschiedenen Lebensumständen groß geworden waren und verschiedenen Epochen und verschiedenen Erfahrungsräumen angehörten. Darüber, wie dauerhaft sie wirken, können wir heute Überlegungen anstellen. „Wir“ – diese „imagined community“ der heutigen Nach-Nachkriegs-Generation, die in einem noch in Ost und West geteilten Europa aufwuchs, lebten zu gleicher Zeit in verschiedenen Welten und in unterschiedlichen Zeiten im selben europäischen Raum. Geboren und sozialisiert in der westlichen Hemisphäre, versuche ich zu verstehen, was sich „auf der anderen Seite“ getan hat, indes war dies nie meine eigene Erfahrung, und umgekehrt. Es wäre künstlich und nicht frei von Gewaltsamkeit, diese verschiedenen Erfahrungen vorschnell integrieren oder homogenisieren zu wollen. Alles, was wir tun können, ist: die jeweiligen Geschichten zu erzählen, sich die Geschichten anzuhören, sie zu tolerieren oder sogar zu akzeptieren. Europa als ein Raum der Erzählung von Geschichten, der Erinnerung, des Gedenkens, des Erforschens – das ist kein idyllischer Spaziergang. Wie wir wissen, hat immer eine enorme Asymmetrie in der wechselseitigen Wahrnehmung existiert. Leute aus dem Westen waren nie sehr vertraut – und dies gilt bis auf den heutigen Tag – mit der Geschichte der Menschen im Osten. Es hat einen gewissen ausgleichenden Fortschritt in den letzten 30 Jahren gegeben, aber der generelle Mangel, das Fehlen von Kenntnissen, der Mangel an Einfühlung ist geblieben. Um diese Asymmetrie zu überwinden, braucht es Zeit. Jedes Land, jede Gesellschaft hat ihre eigene Zeit, um mit der Vergangenheit klar zu kommen, es gibt hier nicht einen „Königsweg“, und die Deutschen, die als Weltmeister in der Bewältigung ihrer Vergangenheit bekannt sind, sollten sich eher zurückhalten, andere zu belehren. Jeder, der mit der Geschichtspolitik in den letzten Jahrzehnten zu tun hatte, weiß, wie delikat und sensibel diese Angelegenheiten sind, und es ist eine große Herausforderung für „uns“ – wieder die „imagined community“ der Generation –, die Geschichten zu erzählen, die sich irgendwann fügen werden zu einer europäischen Sammlung von Geschichten, immer noch weit entfernt von „der“ Geschichte Europas.
Es ist sehr aufschlussreich, sich im Rückblick zu vergegenwärtigen, wie die europäischen Intellektuellen jeweils mit ihrer Zeit fertig geworden sind. Wir hatten die Generation von 1945, die das Zeitalter totaler Herrschaft, der Erfahrung von Krieg und Revolution, von Massenzerstörung, Genozid, Exil auf den Begriff gebracht hat, Autoren wie Hannah Arendt, Franz Neumann, aber auch Viktor Kravchenko und die Autoren von Ein Gott, der keiner war.[4]
Wir haben die Generation des geistig-intellektuellen Wiederaufbaus nach dem Krieg, jene, die aus dem Exil zurückgekommen sind, die eine neue Sprache gefunden haben für das, was auf einem in Trümmern liegenden Kontinent geschehen war: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie die jungen Pioniere wie Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, die „1968“ im Westen mit vorbereiteten, Czesław Miłosz, Jerzy Giedroyc, Leszek Kołakowski und andere im Osten, in ihrer Heimat oder im Exil.
Wir haben die Dissidenten-Generation, die Pioniere, die das Sowjetimperium und die Ost-West-Teilung unterminierten wie Aleksandr Solženicyn, Andrej Sacharov, István Bibó, Vaclav Havel, Adam Michnik, die Pioniere, die „nicht in der Lüge leben“, sondern „die Wahrheit sagen“ wollten, das historische Epos erzählten und die grenzüberschreitende Gemeinschaft der Dissidenten begründeten. Sie fanden die Sprache, den „Ton“ für die neue Zeit, die in „1989“ kulminierte.
Die Frage, die sich mir stellt, ist: Was hat die Generation der Nach-1989er Jahre zu bieten? Die Generation, der ich angehöre, war eine gesegnete Generation, ohne die Bedrohungen, Gefährdungen und Risiken, denen die Generation ihrer Eltern ausgesetzt war. Die meisten von „uns“ – wieder die „imagined community“, die vielleicht illusionär ist – lebten in wohlgeordneten Verhältnissen, weit weg von Krieg, Gewalt, Gräueln, ein komfortables Leben mit einem gewissen Mangel an Erfahrung mit den Härten des Lebens, ja in einer Art von Komfortzone, einer Welt des Wohlstandes und der Sicherheit, in der Reisen in der ganzen Welt als etwas Selbstverständliches galten ebenso wie das Funktionieren einer effektiven staatlichen Verwaltung und der Institutionen der liberalen Demokratie. Die bedenkliche und dunkle Seite dieses Lebens in der Komfortzone ist ein Mangel an Erfahrung und damit die Basis für die Illusion, dass dies das Maß aller Dinge und unsere Lebensform auch die für alle anderen sei. Dies ist einer der Gründe für die mangelnde Sensibilität und die Grenzen der Wahrnehmung und des Engagements. Es reicht eben nicht zu bekennen, dass „wir“ ein paar Illusionen hatten nach 1989 – ein Missverstehen des Liberalismus hier, eine Nichtbeachtung der nationalen Frage dort –, wie es jetzt in manchen selbstkritischen Anfällen gang und gäbe geworden ist; nein, es ist notwendig, die intellektuelle Umgebung zu analysieren, die solche „Missverständnisse“ generiert und mitbedingt hat. „Wir“ sind die verwöhnten Kinder von Schengen-Europa und die Kinder der Blase, in der wir groß geworden sind.
Europa jenseits des „Traumlandes“. Denken ohne Geländer
Die Einsicht, dass der Verlauf der Geschichte nicht Erwartungen, Visionen, „Träumen“ folgt, ist nicht so neu. Es gab sie viele Male: nach dem Kollaps der Imperien und den Verwüstungen des Großen Kriegs, als die Menschen hofften, dass nun der „ewige Friede“ angebrochen sei. Ernst Troeltsch, einer der feinfühligsten Beobachter im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg beschrieb die geistige Situation in den frühen 1920er Jahren als „Traumland“, wo alles denkbar war: Friede, Erholung, ein Europa, dessen Wunden verheilten.[5] „Traumland“ ist der Terminus für die Offenheit der Zukunft, für Projektionen, große Entwürfe, Visionen.
Generationen, die durch die Katastrophen gegangen sind, glauben häufig, dass sie für immer immun geworden seien gegen Aggressivität, Xenophobie, Hass, Gewalt, Intoleranz und andere Sünden der Vergangenheit. Und dann müssen sie auf einmal wieder lernen, dass es keine Lehren oder Rezepte dafür gibt, wie die Konflikte, mit denen sie in ihrer Gegenwart konfrontiert sind, zu lösen sind. Jede Generation ist gezwungen, sich immer wieder neu „aufzustellen“ und immer wieder die altbekannten, aber bedrohten Tugenden zu erlernen: Anstand, Courage, Solidarität. Auch heute gilt: Es gibt keine Garantie, dass „wir“ fähig sind, standhaft zu bleiben, der Versuchung zu einfachen Lösungen und kurzem Prozess zu widerstehen. Die Zukunft wird erweisen, wie diese „unsere“ Generation in einer Zeit der Wirren, des Chaos, der Wellen von Gewalttätigkeit bestehen wird. Die Ankunft in der realen Welt der Gegenwart ist manchmal härter, als sich den Grausamkeiten einer bloß erinnerten und vergegenwärtigten Vergangenheit auszusetzen. Ideologien, Worte, Slogans sind gewiss nicht belanglos, aber weit mehr entscheidend ist das wirkliche Verhalten, die Haltung, Courage oder Feigheit, Indifferenz (permissive Toleranz, um Herbert Marcuses Begriff in einem anderen Sinn zu benützen) oder riskanter Einsatz der eigenen Person für andere. Ein Beispiel für gewöhnlichen Heroismus gaben jene Passagiere auf Flug 93 von United Airlines, die mit dem Ruf „roll on“ auf den Lippen nach vorn zum Cockpit stürmten, um die Entführer und Terroristen zu überwältigen, die das Flugzeug am 11. September 2001 in ihre Gewalt gebracht hatten und die so Schlimmeres verhüteten. Sich in Kämpfen in der Gegenwart zu bewähren, ist manchmal weitaus schwieriger, als sich in Konflikten einer nur vergegenwärtigten Vergangenheit auf die rechte Seite zu schlagen. Wir, die Spät- und Nach-Geborenen, haben ohne eigenes Verdienst das Privileg, zu wissen, wie die Geschichte, in die wir selbst nicht verwickelt waren, weitergegangen ist. Wir haben den Überblick, wenigstens bilden wir uns das ein. Gegenwart aber ist unübersichtlich, tumultuarisch, verwirrend, in Ernst Blochs Worten: „das Dunkel des gelebten Augenblicks“. Wie sich darin zurechtfinden?
Die Probleme, mit denen wir zu tun haben, sind wohlbekannt: das Ende der bipolaren und die Entstehung einer multipolaren Welt, der Aufstieg Chinas als globaler Player; Russlands Rückkehr auf die internationale Bühne nach einer Periode der Zurückhaltung; das Ende des amerikanischen Zeitalters und die Destabilisierung, ja die drohende Erosion der Europäischen Union; die radikale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft unter den Auspizien von sozialen Medien und künstlicher Intelligenz.
Unter diesen Bedingungen ist alles im Fluss, was sich widerspiegelt in einer Verwirrung bisher klarer Fronten. Da gibt es eine Linke, die in ihrer Rhetorik wie gewohnt Imperialismus, Aggression, Kriegsverbrechen bekämpft, aber zu Russlands Aggression gegen die Ukraine und den Kriegsverbrechen in Assads Syrien nichts zu sagen weiß. Da gibt es Putin, einen Kriegstreiber, der sich zugleich als Friedensstifter inszeniert. Da gibt es einen amerikanischen Präsidenten, der seine kurdischen Verbündeten, die im Kampf gegen den Islamischen Staat alles gegeben haben, verrät. Da gibt es eine Europäische Union, die unfähig ist zu einer gemeinsamen Antwort auf die Massenmigration. Da gibt es eine Krise des Wohlfahrtsstaates, eine größer werdende Kluft zwischen Reich und Arm, aber ohne eine Perspektive, wie diese Kluft geschlossen werden könnte.
Der Aufstieg autoritärer starker Männer überall in Europa sagt uns, dass sie Unterstützung bekommen haben, nicht nur von den „Abgehängten“, sondern von einer ziemlich breiten Schicht der Mittelklasse. Ein Teil der Antwort, warum dies so ist – das Anwachsen der schweigenden Minderheit –, ist offensichtlich, dass die starken Männer ziemlich smart sind, wenig Skrupel haben und wissen, wie man es macht. Aber der andere Teil der Wahrheit ist, dass „die anderen“ – die Opposition, die nicht-autoritären, die nicht-nationalistisch gestimmten, die liberalen und zivilen Elemente der Gesellschaft – nicht auf die Fragen gehört haben und keine überzeugenden Antworten gefunden haben, etwa auf die Frage, wie man die Kontrolle über die Massenmigration zurückgewinnt. Sie ziehen es vor, die Verteidigung der nationalen Souveränität von Gemeinwesen als „Nationalismus“ zu bezeichnen, und sie haben keine Antwort auf die Frage, wie Gemeinschaften auf lange Sicht die Sorge für Hunderttausende, die noch kommen werden, gewährleisten können. Sie haben keine Antwort auf die Frage, wie „Integration“ funktionieren kann oder sagen wir: wie moderne Staatsbürgerschaft im 21. Jahrhundert aussehen soll.
In den 1990er Jahren hat Ralf Dahrendorf, auf den sich jetzt so viele berufen, von der Entstehung von Parallelwelten gesprochen, von der Parallelgesellschaft der „gewöhnlichen“ Bürger und der der globalisierten Klasse der „cosmocrats“.[6] Wir erkennen den Phänotyp dieser Menschenklasse auf Anhieb, da wir meist selber zu dieser Art von Leuten gehören, die heute in Berlin, morgen in Helsinki oder London zuhause sind, die zwischen Konferenzen in Los Angeles, Dubai, Paris unterwegs sind und deren Kinder internationale und mehrsprachige Kindergärten besuchen. Ich war immer schockiert, wenn ich an Universitäten an der amerikanischen Ost- oder Westküste war und Leute traf, die überall auf der Welt schon gewesen sind, aber noch nie in Gary/Indiana oder Akron/Ohio, im Land des rust belt. Der Sieg von Trump hat auch zu tun mit dieser Art von Abwesenheit, Verleugnung und Ignoranz. Etwas Ähnliches gilt, so denke ich, auch für große Teile der europäischen und deutschen Intellektuellen, die den Osten erst entdeckten, als es dort einen Erdrutschsieg der AfD gab; aber vielleicht gilt dies auch für die Warschauer Intelligenzija, die mit den Flugplänen von Brüssel vertrauter ist als mit den Zügen in Polska B, in der östlich, aber nicht weit von Warschau entfernt gelegenen Provinz. Der Schluss lautet an dieser Stelle daher: Dreamland farewell, welcome on the ground.
Wieder einmal ein deutscher Sonderweg. Die Wiederkehr der Mitte und der russische Faktor
Die Diskussion über den „deutschen Sonderweg“ hat eine lange und sehr deutsche Geschichte. Aber wenn, wie ich glaube, alle Geschichte, auch Nationalgeschichten, spezifisch, besonders, kontingent ist, verliert sich etwas von der Dramatik, die diese Diskussion gewöhnlich umgibt. Niemand bestreitet die Besonderheiten der deutschen Geschichte, die so oft und brillant erzählt worden ist. Die jüngste Zeit hat ihr weitere Kapitel hinzugefügt: der Prozess der Wiedervereinigung einer geteilten Nation, die asymmetrische Formation mit unterschiedlichem kulturellem Erbe, unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit der Nazi-Vergangenheit u.a.m. Dan Diner hat über die Wiederkehr der deutschen Frage geschrieben, bedingt durch schiere Größe, Umfang, Gewicht einer 80-Millionen-Nation im Zentrum Europas.[7] Nachdem Russland auf die Bühne der internationalen Diplomatie zurückgekehrt ist, sprechen viele Kommentatoren auch vom „Comeback des Russischen Reiches“. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine zyklische „Wiederkehr des Immergleichen“ gibt, und doch beschäftigt mich die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union, die Gefahr läuft, unter dem Druck der veränderten globalen Situation auseinanderzubrechen. Die Bundesrepublik erscheint als sehr stark, als ein Pfeiler der Stabilität, aber selbst jetzt, da von einer ökonomischen Krise (noch) nicht die Rede sein kann, ist Deutschland meines Erachtens viel verwundbarer, als es auf den ersten Blick erscheint.
Eine Mehrheit der Deutschen wünscht die Versöhnung mit Russland nach der Verschlechterung der Beziehungen im Gefolge der russischen Aggression gegen die Ukraine. Die großen Unternehmen möchten zurück zu „Business as usual“ und verlangen eine Aufhebung der Sanktionen. Der dominierende Trend ist der Wunsch nach guten Beziehungen, in der „Tradition von Bismarck“, wie oft gesagt wird. Die Deutschen fühlen sich schuldig und verantwortlich für den Tod von Millionen Opfern des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, aber sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass sich der Vernichtungskrieg gegen alle Völker und Nationen der Sowjetunion gerichtet hat, nicht nur gegen „die Russen“. Die Deutschen haben starke Gefühle für Gorbačevs Russland dank seines Beitrags zur friedlichen Wiedervereinigung, wobei die Rolle der demokratischen Bewegungen in Ostmitteleuropa oft heruntergespielt oder sogar übersehen wird. Viele Deutsche lieben das Stereotyp von der sogenannten „russischen Seele“, eine Mischung aus Bewunderung für die großen Leistungen der russischen Kultur und kitschiger Nostalgie. Immer noch werden Russland und Putin in eins gesetzt. Proputinistische Stimmungen gibt es über alle Parteigrenzen hinweg, von der Partei Die Linke bis zur Alternative für Deutschland. Darüber hinaus gibt es prominente Repräsentanten, deren bekanntester wohl Gerhard Schröder ist, Ex-Kanzler und Putins Mann in Deutschland, erster Lobbyist für die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2, die Russland und Deutschland verbindet unter Umgehung der Ostmitteleuropäer, vor allem der von Russland bedrohten Ukraine. Man darf auch die relativ große „Minderheit“ russischsprachiger Einwanderer mit ihren zwei Seelen in der Brust nicht vergessen, nicht unähnlich vielen Deutsch-Türken, die sich Erdoğan näher fühlen als Merkel. Und all dies auf dem Hintergrund einer allgemeinen antiamerikanischen Stimmung, besonders seit der Regierung Trump und ihrer mitunter desaströsen Politik. Es gibt eine Ukraine-Müdigkeit, und viele sind geneigt, die ukrainische Regierung dazu zu bringen, Kompromisse gegenüber Russland einzugehen. Das wäre nichts anderes als Appeasement und würde den Weg zur weiteren Destabilisierung Europas öffnen. Die Schlussfolgerung ist hier: Man sollte wach sein für die Verwundbarkeit Europas, erst recht aber Deutschlands.
Die Paradoxe der Europäisierung
Die Billigfluglinien Wizz-Air, Ryanair, Easyjet haben die mentalen Karten der Europäer mehr verändert als alle Konferenzen und Seminare oder öffentlichen Äußerungen von Intellektuellen es je vermocht hätten. Die Logos dieser Gesellschaften stehen symbolisch für das, was ich hier nur andeuten kann, die radikalen Veränderungen der letzten 30 Jahre: die Explosion der Mobilität über die Grenzen hinweg, die Millionen von Menschen, die in einem Prozess des learning by doing in die Welt hinausgehen, neue Netzwerke des Wissens, des Transfers von Erfahrung schaffen, Nachbarschaften wiederherstellen und die Zeit beschleunigen – „time is money“. Die Orte, von denen es heißt, sie seien gerade „in“ – the places to be – wechseln: Lemberg/L’viv, noch vor 30 Jahren eine ins Abseits gerutschte Metropole des alten Europa, ist wieder da. Neue Destinationen überall: Riga, die Stadt des Jugendstils, Warschau mit seinen Wolkenkratzern, auch die fünf internationalen Flughäfen von Moskau. Dass Kiew und Krakau Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft waren, dass Sankt Petersburg mit der European University und die Central European University in Budapest Zentren europäischer akademischer Exzellenz geworden sind, dass Städte nach Jahrzehnten des Niedergangs und der Verwahrlosung in neuem Glanz erstanden sind – all das gehört auch zur Bilanz der letzten 30 Jahre.
Bei alledem dürfen wir die andere, die dunklere Seite, nicht ignorieren: die Kollateralschäden des radikalen Wandels: den Brain Drain von ausgebildeten, qualifizierten und motivierten Arbeitskräften, die Waisen der Globalisierung zurücklassen und sich in die westwärts gelegene Welt aufmachen; die verrosteten Industrieanlagen in unmittelbarer Nachbarschaft zu glitzernden Super-Malls, den Abfluss von Wissen und Können – oft für immer: die CEU, die aus politischen Gründen von Budapest nach Wien vertrieben wurde, die jungen russischen Social-media-Pioniere, die sich nach Vilnius oder Dubai abgesetzt haben, ein schrecklicher Verlust von Intelligenz und zivilem Engagement. Auch dürfen wir nicht vergessen, was noch zur Nachgeschichte von 1989 gehörte – der Krieg, die Kriege, die nach Europa zurückgekehrt sind: der Zerfall Jugoslawiens, die Tschetschenien-Kriege, die Abertausenden von Opfern ethnischer Säuberung, der anhaltende Krieg in der Ukraine mit zwei Millionen Displaced Persons, mehr als 13 000 Toten, der Zerstörung einer großen Industrieregion, neue nationalistische Mythen, Hassreden nach einer Phase der Entdeckung und einer schmerzlichen Suche nach einer neuen Identität.
Vielleicht ist das nichts anderes als die Wiederherstellung des Normalzustandes Europas nach einem halben Jahrhundert der Stabilität auf einem geteilten Kontinent. Der Westen ist ebenfalls Teil dieser Normalisierung. „Der Westen“ als eine homogene Einheit hat zu existieren aufgehört. Auch der ehemalige Westen ist auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Dabei kommt es zu Fusionen, die sich niemand vor 30 Jahren vorstellen konnte. Das westliche Finanzsystem, die großen Banken als Geldwaschmaschinen für Billionen an Kapital, das aus Russland und anderen Ländern herausgeschafft worden ist. London als Ankerplatz für kleptokratische Oligarchen, Miami als Anlageplatz für schmutziges Geld, ehrwürdige börsennotierte Unternehmen wie Skanska oder die Deutsche Bank, die Jahr für Jahr als Geldwaschmaschinen fungierten. Die Korruption aus dem Osten fusionierte mit der hausgemachten Korruption des Westens. Wie wir wissen, sind Nachforschungen in diesem Milieu nicht ohne Gefahr für Leib und Leben. Man muss nur stellvertretend wenige Namen nennen: Anna Politkovskaja, Natalija Estemirova in Russland, Ján Kuciak in der Slowakei, Daphne Caruana Galizia in Malta. Sie alle sind Helden der Übergangsperiode.
Immer wieder lernen – von Anfang an
Aus all dem ergibt sich keine Botschaft. Leute wie wir sollten – physisch und intellektuell – die Komfortzone, in der zu leben wir uns angewöhnt haben, verlassen, wir sollten die Grenzen der Blase, des Biotops, in dem wir leben, bedenken und der Herausforderungen gewahr sein, die mit der gänzlich neuen Situation verbunden sind, und in aller Bescheidenheit tun, was andere vor uns getan haben – in den leicht abgewandelten Worten der Marxschen 11. Feuerbachthese: Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verändern – sie verändert sich ohne unser Zutun in rasendem Tempo –, sondern sie angemessen zu interpretieren.
Es gab einmal eine große Zeit der Erkundung, des Beschreibens, des Analysierens in der Zeit vor 1989 – ich denke etwa an die polnische Schule der Reportage, der Erkundung der Welt. Eines der zentralen Worte von Aleksandr Solženicyn und Václav Havel hieß „In der Wahrheit leben“. Diese Botschaft ist nicht überholt, „die Wahrheit“ ist auch in postmodernen Zeiten nichts Altmodisches, sondern ganz frisch und voller Risiken. Um der veränderten Welt Rechnung zu tragen, die mentalen Karten neu zu zeichnen, muss man sich über die alt-neuen Bruchlinien hinweg in Bewegung setzen, was nicht einfach ist. Dafür ist es notwendig, ein wenig mehr an Gegenwartsbewusstsein zu entwickeln, ein wenig mehr Geistesgegenwart, und Geschichte nicht so sehr als Erinnerung, Lehre und pädagogische Unterweisung zu verstehen, sondern als Arsenal, in dem man seinen Sinn schärft, bereit für die Jetztzeit – hellwach.
[1] Guy Debord: La societé du spectacle. Paris 1972.
[2] Nikolaj Bucharin: Ėkonomika perechodnogo perioda. Moskva 1922. Dt. Die Ökonomie der Transformationsperiode. Hamburg 1922. – Dazu die Analyse von Alexander Erlich: Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924–1928. Frankfurt/Main 1971 [auf Englisch 1960].
[3] Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Frankfurt/Main 1977. – György Konrád, Iván Szelényi: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Frankfurt/Main 1978.
[4] Franz Neumann: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism. London 1942. – Dt.: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Köln 1977. – Viktor Kravchenko: Ich wählte die Freiheit. Hamburg 1946. – Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler, André Gide, Ignazio Silone, Louis Fischer, Richard Wright, Stephen Spender schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr. Zürich 1950.
[5] Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922. Frankfurt/Main 1994. – Zur Bedeutung der Traumland-Formulierung: Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923. München 2018.
[6] Ralf Dahrendorf: Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: Merkur, 619/2000, S. 1057–1068.
[7] Dan Diner: Wir erleben die Rückkehr der deutschen Frage. Die Welt, 4.3.2016.
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