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Aus Osteuropa 9-11/2019

Auf Kurs bleiben
Die EU und der palästinensisch-israelische Konflikt

Anders Persson

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Abstract

Die EU hält trotz rasanter Veränderungen im palästinensisch-israelischen Konflikt und im gesamten Nahen Osten an einer Zwei-Staaten-Lösung fest. Dieses hatten die Staaten der Europäischen Gemeinschaft in den 1970er Jahren gemeinsam als wegweisendes Konzept für einen gerechten Frieden im Nahen Osten entwickelt. Heute steht die Nahostpolitik der EU am Rande der Bedeutungslosigkeit. Zudem fällt es den Mitgliedstaaten immer schwerer, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen. Doch jene, die das Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung kritisieren, haben keine alternativen Konzepte für einen Frieden im Nahen Osten. Die EU tut daher gut daran, mit ihrem neuen Konzept der Konfliktfestigkeit (resilience) das als richtig Erkannte nicht über Bord zu werfen.

(Osteuropa 9-11/2019, S. 429–437)

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Anders Persson

Auf Kurs bleiben

Die EU und der palästinensisch-israelische Konflikt

Die EU hält trotz rasanter Veränderungen im palästinensisch-israelischen Konflikt und im gesamten Nahen Osten an einer Zwei-Staaten-Lösung fest. Dieses hatten die Staaten der Europäischen Gemeinschaft in den 1970er Jahren gemeinsam als wegweisendes Konzept für einen gerechten Frieden im Nahen Osten entwickelt. Heute steht die Nahostpolitik der EU am Rande der Bedeutungslosigkeit. Zudem fällt es den Mitgliedstaaten immer schwerer, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen. Doch jene, die das Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung kritisieren, haben keine alternativen Konzepte für einen Frieden im Nahen Osten. Die EU tut daher gut daran, mit ihrem neuen Konzept der Konfliktfestigkeit (resilience) das als richtig Erkannte nicht über Bord zu werfen.

Im Jahr 2016 verabschiedete die Europäische Union ein neues Grundsatzdokument für die Außen- und Sicherheitspolitik. Der Schlüsselbegriff der „Globalen Strategie“ lautet: Konfliktfestigkeit (resilience).[1] Dies gilt auch für die Aktivitäten der EU im Bereich „peace building“ und damit auch für den Nahostkonflikt. Alleine die Tatsache, dass die EU und zuvor die Europäische Gemeinschaft seit über 50 Jahren als Vermittler in diesem langwierigen Konflikt auftreten, der immer wieder auch gewaltsam ausgetragen wurde, ist eine Form der Konfliktfestigkeit.

Der palästinensisch-israelische Konflikt spielte lange Zeit eine wichtige Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Die Außenminister der EU-Staaten sind sich jedoch zutiefst uneinig über die Leitlinien einer gemeinsamen Politik. Daran hat die Französische Friedensinitiative aus dem Jahr 2016 ebenso wenig geändert wie die Resolution des UN-Sicherheitsrats Nr. 2334. Griechenland sowie die vier Visegrád-Staaten haben strategische Allianzen mit Israel aufgebaut und Litauen sowie einige andere EU-Staaten pflegen enge Beziehungen zu Israel. Der Aufstieg rechtspopulistischer Regierungen in mehreren EU-Staaten, die meist proisraelisch und antimuslimisch sind, hat ein gemeinsames Vorgehen der EU weiter erschwert. Die Israelpolitik der USA unter Präsident Donald Trump hat ebenfalls dazu beigetragen, die Uneinigkeit der EU über den Umgang mit dem Nahostkonflikt zu vergrößern.

Der diplomatische Dienst der EU will jedoch weiter die Palästinensische Autonomiebehörde unterstützen und zur Umsetzung von Regelungen eines zukünftigen Friedensabkommens auch finanziell beitragen.[2] Mehr als die Hälfte der 30 Milliarden US-Dollar, die der Autonomiebehörde seit ihrer Gründung 1994 zugeflossen sind, kamen von der EU und ihren Mitgliedstaaten.[3]

Während die Autonomiebehörde in den ersten anderthalb Jahrzehnten seit ihrer Gründung nicht zuletzt dank dieser Hilfe große Fortschritte beim Aufbau staatlicher Institutionen machte, schwand im gleichen Zeitraum die Bereitschaft der EU, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Im Jahr 1999 hatte die EU noch festgehalten, dass sie „bereit ist, die Anerkennung eines palästinensischen Staates zu gegebener Zeit zu erwägen“.[4] Ein Jahrzehnt später hieß es nur noch, sie werde dies „falls angemessen“ tun.[5] Mittlerweile hat die EU es komplett aufgegeben, einen gemeinsamen Standpunkt zu formulieren. Als der Präsident der Autonomiebehörde Mahmoud Abbas Anfang 2018 in Brüssel die Anerkennung eines palästinensischen Staats forderte, erklärten EU-Diplomaten vor der Presse, die Anerkennung sei „Sache der nationalen Regierungen, nicht der gesamten EU“.[6] Andere EU-Diplomaten erklärten, die Anerkennung könne nur „als Teil einer Friedenslösung erfolgen.“[7]

In den 1970er Jahren, vor allem nach dem Krieg von 1973[8], wurde der Konflikt ein Testfall für die in Entstehung begriffene gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Gemeinschaft. Die EG bestand den Test. Es gelang den Mitgliedstaaten, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen und eine von allen Regierungen geteilte Vorstellung von einem gerechten Frieden im Nahen Osten zu entwickeln. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte verabschiedete die EG, später die EU, hunderte Erklärungen. Viele von ihnen waren zum Datum ihrer Veröffentlichung ihrer Zeit voraus, so etwa 1973 die Feststellung, dass die Palästinenser „legitime Rechte“ haben, und 1977, dass sie ein „Volk“ mit einer „nationalen Identität“ seien, das eine „Heimstätte“ brauche,[9] oder 1980 die Forderung nach „palästinensischer Selbstbestimmung“.[10] Andere in den Konflikt involvierte externe Akteure, insbesondere die USA, vollzogen später nach, was die Europäische Gemeinschaft skizziert hatte. Alles sprach zu dieser Zeit dafür, dass die EU eine wichtige normsetzende Rolle spielen würde.[11]

Je länger sich allerdings die Umsetzung der in der ersten Hälfte der 1990er Jahren im Friedensprozess Oslo entwickelten Zwei-Staaten-Lösung hinzog, desto mehr verschob sich der politische Fokus. Die EU konnte nicht mehr darauf verweisen, dass sie zur Vorbereitung auf einen zu gründenden palästinensischen Staat die Autonomiebehörde fördert, sondern musste sich mit der Frage auseinandersetzen, mit welchen rechtlichen Mitteln sie darauf hinwirkt, dass dieser Staat auch gegründet wird.[12]

Das Konzept der Konfliktfestigkeit

In der Sicherheitsstrategie der EU aus dem Jahr 2003 heißt es einleitend, Europa sei „nie zuvor so prosperierend, so sicher und so frei gewesen. Auf die Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte eine Phase des Friedens und der Stabilität, wie sie Europa niemals zuvor erlebt hat.“[13] Im Jahr 2018 ist Europa nicht weniger wohlhabend als 15 Jahre zuvor, jedoch weniger sicher und weniger frei. War die EU einst von einem „Ring von Freunden“ umgeben, so steht sie heute in Brand.[14] Die internationalen Beziehungen und die Verhältnisse in vielen Staaten Europas sind viel stärker von teils vehement geführten Konflikten geprägt als zu Beginn des Jahrhunderts. Diese Einschätzung bildete die Grundlage dafür, dass in der „Globalen Strategie“ aus dem Jahr 2016 „Konfliktfestigkeit“ (resilience) zum Schlüsselbegriff wurde. Resilienz ist heute oberste strategische Priorität der EU in ihrer gesamten südlichen und östlichen Nachbarschaft.[15] „Resilienz“ wird in der in der „Globalen Strategie“ definiert als „die Fähigkeit von Staaten und Gesellschaften, sich zu reformieren und auf diese Weise inneren und äußeren Krisen standzuhalten und sich von ihnen zu erholen.“[16]

Das Konzept der „Konfliktfestigkeit“ bringt zwei Politikfelder zusammen: die Entwicklungspolitik und die Sicherheitspolitik.[17] Es bewegt sich in der Mitte zwischen dem hohen Anspruch, einen liberalen Frieden zu etablieren und dem deutlich weniger anspruchsvollen Ziel, für „Stabilität“ zu sorgen.[18] Die EU selbst spricht von einem „Pragmatismus mit Prinzipien“.[19]

Die EU im palästinensisch-israelischen Konflikt

Der Europäische Rat hat im Jahr 2017 erklärt, dass Konfliktfestigkeit „einen politischen Ansatz“ voraussetzt, da es „um die Veränderung, nicht die Bewahrung eines status quo“ gehe.[20] Damit sind genau jene beiden Punkte genannt, die der EU in Bezug auf ihre Politik im palästinensisch-israelischen Konflikt – insbesondere in Sachen Schaffung eines palästinensischen Staats – am häufigsten vorgeworfen werden: Sie habe keinen politischen Ansatz und festige einen von niemandem gewollten status quo.[21]

Anders als frühere Ansätze der EU im palästinensisch-israelischen Konflikt, etwa der Fokus auf den Aufbau eines palästinensischen Staats, ist das Konzept der Resilienz keine „fertige Blaupause, die in allen Konfliktgebieten unverändert zum Einsatz kommen.“[22] Es lässt viel mehr Spielraum, um die konkreten Begebenheiten vor Ort aufzugreifen.

Die Sicherheitsstrategie der EU aus dem Jahr 2003 nannte den palästinensisch-israelischen Konflikt eine „strategische Priorität“, ohne Fortschritte in diesem Konflikt gebe es „wenig Chancen, andere Problem im Nahen Osten anzugehen.[23] Die Ansicht, dass der palästinensisch-israelische Konflikt der zentrale Konflikt der gesamten Region sei und Lösungen in diesem Konflikt auch andernorts positive Wirkungen zeitigen würden, teilten während der ersten Amtszeit von Präsident Barack Obama (2008–2012) auch die USA. In der EU-Sicherheitsstrategie wurde entsprechend betont, dass die Zwei-Staaten-Lösung, welche die EU schon lange unterstützt hatte, in der internationalen Gemeinschaft mittlerweile große Zustimmung erfahre.[24]

Ein Jahrzehnt später haben Kriege und Krisen in Europa, den USA und im Nahen Osten dazu geführt, dass der palästinensisch-israelische Konflikt in der EU nicht mehr ganz oben auf der Agenda steht.[25] In der Globalen Strategie der EU wird er nur noch in einer einzigen Passage erwähnt – und dies in recht schwammigen Worten:

 

Im palästinensisch-israelischen Konflikt wird die EU eng mit dem Quartett, der Arabischen Liga und allen zentralen Akteuren zusammenarbeiten, um die Aussicht auf eine tragfähige Zwei-Staaten-Lösung zu bewahren – die auf den Linien von 1967 mit einem gleichwertigen Gebietstausch beruht – und um wieder Bedingungen für fruchtbare Verhandlungen zu schaffen. Die EU wird sich dafür einsetzen, dass bei der Vertiefung der Zusammenarbeit mit Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde Völkerrecht und EU-Recht vollständig eingehalten wird.[26]

 

Nathalie Tocci, eine wichtige Mitarbeiterin der EU-Außenbeauftragten Francesca Mogherini, die federführend bei der Formulierung der „Globalen Strategie“ der EU war, fasst die andere Bedeutung, die der Nahostkonflikt für die EU heute hat, in diplomatische Worte. Er sei nicht herabgestuft worden, andere Konflikte seien jedoch hochgestuft worden.[27]

Konfliktfestigkeit in Zeiten einer neuen Nahostpolitik der USA

Die Veröffentlichung der Globalen Strategie der EU lag gerade sechs Monate zurück, als Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Trump erklärte den palästinensisch-israelischen Konflikt rasch zu einer Priorität seiner Außenpolitik. Seine erste Auslandsreise als Präsident führte ihn nach Saudi-Arabien, Israel und Palästina. Bei einer Pressekonferenz mit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas in Bethlehem sagte Trump: „Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Frieden zwischen Israel und den Palästinensern einen Friedensprozess im gesamten Nahen und Mittleren Osten anstoßen würde.“[28] Dies lag noch ganz auf der Linie der vorherigen US-Außenpolitik, die auch die EU vertritt. Bei vielen anderen Anlässen sprach und handelte Trump jedoch ganz anders. Gelegentlich schien es, als wäre er für einen Ansatz, der eine Lösung nach dem Muster „von außen nach innen“ für wahrscheinlicher hält: Erst müssen sich die Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten normalisieren, an zweiter Stelle kommt eine Lösung des Konflikts mit den Palästinensern. Darüber hinaus bekennt er sich nicht mehr klar zu der Zwei-Staaten-Lösung, erkannte Jerusalem als Hauptstadt Israels an, verlegte die amerikanische Botschaft nach Jerusalem, ohne dass er im selben Zug auf Forderungen der Palästinenser eingegangen wäre. Die EU-Außenbeauftragte erklärte nach Trumps Ankündigung zu Jerusalem vor dem Europäischen Parlament, der Friedensprozess befinde sich „in seiner dunkelsten Stunde“.[29]

Einen Tag zuvor hatte sie auf einer Pressekonferenz gesagt, der israelische Ministerpräsident Netanjahu solle sich keine Hoffnungen machen, dass die EU-Staaten dem Schritt Trumps folgen würden. Allerdings wurden in der Tschechischen Republik, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien Stimmen laut, die ebenfalls eine Verlegung der Botschaft ihres Staates nach Jerusalem forderten.[30] Die EU-Außenbeauftragte Mogherini stellte sich jedoch klar auf die Seite der palästinensischen Autonomiebehörde, indem sie erklärte: „Keinen Schritt ohne die USA, aber auch keinen Schritt nur mit den USA“.[31]

Als Trump im Jahr 2018 bekanntgab, die USA würden ihre Zahlungen an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) kürzen,[32] erklärte Mogherini, die EU werde weiter im bisherigen Umfang Zahlungen an UNWRA leisten, da dies von entscheidender Bedeutung für die Zukunft aller palästinensischen Flüchtlinge, für die Umsetzbarkeit der Zwei-Staaten-Lösung und für Stabilität und Sicherheit in der Region sei.[33]

Die Zwei-Staaten-Lösung bewahren

Die EU hat deutlich erklärt, dass der sogenannte Status quo im palästinensisch-israelischen Konflikt faktisch kein Status quo ist, dass sich vielmehr die Situation permanent verschlechtere, insbesondere für die Palästinenser und in geringerem Maß auch für Israel.[34] Seit dem Jahr 2012 hat die EU in mehreren Erklärungen ihre tiefe Besorgnis darüber ausgedrückt, dass die Entwicklungen in Israel und den besetzen Gebieten die Gefahr bergen, dass eine Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr realisierbar ist.[35] Im Jahr 2015 erklärte die EU: „[D]ie Wahrung der Realisierbarkeit der Zwei-Staaten-Lösung steht im Mittelpunkt der Politik der EU und wird auch künftig eine Priorität sein.“[36]

Die EU sowie ihre Mitgliedstaaten sind seit vielen Jahrzehnten die wichtigsten externen Akteure, die eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützen und zur Vorbereitung einer künftigen palästinensischen Staatlichkeit den Aufbau der Autonomiebehörde fördern. Im sogenannten C-Gebiet des Westjordanlands hat die EU politisch und wirtschaftlich die Stärkung palästinensischer und beduinischer Gemeinden unterstützt, um die Hoffnung der Bevölkerung auf eine bessere Zukunft aufrechtzuerhalten.[37] In Ost-Jerusalem hat die EU Palästinensern geholfen, in der Stadt zu bleiben.[38]

Man könnte daher argumentieren, dass das Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung exakt das ist, was die EU seit langer Zeit tut. Als die Unterstützung der EU für die Autonomiebehörde während der zweiten Intifada in Frage gestellt wurde (2000–2005) – sei es mit dem Vorwurf, die EU unterstütze faktisch die israelische Besatzung, sei es unter Hinweis darauf, dass die Autonomiebehörde Mitverantwortung für die Gewalt gegen Israel trage – verteidigten etwa der EU-Außenkommissar Chris Patten und der Sondergesandte für den Friedensprozess im Nahen Osten Miguel Moratinos die Position der EU, indem sie erklärten, die politische und wirtschaftliche Unterstützung der Autonomiebehörde habe diese – und damit den gesamten Friedensprozess – vor dem Zusammenbruch bewahrt. In einer Plenardebatte des Europäischen Parlaments sagte Patten: „Die Alternative zur palästinensischen Autonomie ist Anarchie.“[39]

Schon heute ist klar, dass der Verlauf der Geschichte das Urteil über die Politik bestimmen wird. Sollte eines Tages ein lebensfähiger palästinensischer Staat entstehen und dieser auskömmliche Beziehungen zu Israel pflegen, wird die EU für ihre Weitsicht und ihr Durchhaltevermögen in schweren Zeiten gelobt werden. Wird die Zwei-Staaten-Lösung endgültig scheitern, wird man der EU vorwerfen, sie habe allzu lange an etwas festgehalten, was sich längst als falsches Konzept erwiesen hatte.

Fest steht, dass die EU keine Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung sieht. Die Herausforderung vor der sie steht, ist, mit Hilfe des Konzepts der Konfliktfestigkeit Methoden zu entwickeln, mit denen die bloße Absichtserklärung in eine praktische Politik zur Beendigung der israelischen Besatzung überführt werden kann. So ordnete die Außenbeauftragte Mogherini Ende 2017 an, alle Aktivitäten der EU in Israel und den besetzten Gebieten auf die Frage hin zu überprüfen, in welchem Maße sie der Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung dienen.

Der Gaza-Streifen

Ein besonders drängendes Problem des Nahost-Konflikts ist die äußerst prekäre soziale und ökologische Lage im Gaza-Streifen. Bereits im Jahre 2012 – fünf Jahre nach Beginn der Blockade durch Israel und Ägypten – kam UNWRA in einem vielbeachteten Bericht zu dem Ergebnis, dass der Gaza-Streifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sein wird, wenn nicht rasch etwas zur Verbesserung der Wasser- und Stromversorgung, der Abwasser- und Müllentsorgung und de Gesundheits- und des Bildungssystems getan werde.[40]

Natürlich lässt sich argumentieren, die Lage im Gaza-Streifen bedürfe schneller Lösungen und keines auf einen langen Zeitraum angelegten Konzepts wie jenes der Konfliktfestigkeit. Doch selbst wenn Israel die Blockade aufheben und die beiden konkurrierenden palästinensischen Organisationen – die Hamas im Gaza-Streifen und die Fatah im Westjordanland – zu einer Verständigung gelangen sollten, stünde der Gaza-Streifen weiter vor Problemen. Die soziale und ökologische Lage bliebe in diesem Gebiet, das so dicht besiedelt ist wie kaum ein anderes auf der Welt und in dem so viele junge Menschen leben wie an kaum einem anderen Ort, extrem prekär. Bereits in den vergangenen zehn Jahren hat die EU dem Druck widerstanden, ihre Politik zu ändern. So hat sie in großem Umfang humanitäre Hilfe geleistet und hält ihre Mission zur Unterstützung der Grenzabfertigung am Übergang Rafah zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten (European Union Border Assistance Mission at the Rafah Crossing Point, EU BAM Rafah), die Mitte 2007 nach der Schließung der Grenze abgezogen worden war, auch nach über zehn Jahren einsatzbereit. Zuletzt hat die EU im Jahr 2017, als eine Verständigung zwischen Fatah und Hamas möglich schien, eine Rückkehr der ca. zehn Beamten nach Rafah angeboten. Dieses Angebot wurde jedoch nicht aufgegriffen.

Die ursprünglichen Pläne, solche Missionen auch an Grenzübergänge zwischen Israel und dem Gazastreifen zu entsenden, sind nach der Machtübernahme der Hamas nicht umgesetzt worden.[41] Eine Rückkehr nach Rafah wird auch durch die Sicherheitslage verhindert, die heute ungleich schlechter ist als 2007. Es ist unklar, ob die EU-Beobachter gepanzerte Fahrzeuge benötigen würden, ob die Hamas sie schützen würde und wie groß die Bedrohung durch militante Gruppen auf der Sinai-Halbinsel ist.[42]

Schlüssel zur Verbesserung der Lage im Gaza-Streifen und Voraussetzung dafür, dass die Zwei-Staaten-Lösung im Bereich des Möglichen bleibt, ist eine Verständigung zwischen den beiden palästinensischen Gruppen. Doch die EU hat sich nicht mit allen Mitteln für eine solche Verständigung eingesetzt. Der wichtigste Vermittler zwischen der Hamas und der Fatah ist Ägypten – und Kairo hat die EU bislang nicht gebeten, sich einzuschalten. Die EU leistet humanitäre Hilfe, politische Lösungen kann sie nicht herbeiführen.[43]

Fazit

In den 50 Jahren ihres Engagements im Nahostkonflikt hat die EG/EU viele Höhen und Tiefen erlebt. Zweifellos ist die gegenwärtige Phase eine der dunklen. Doch das heißt nicht, dass nicht eines Tages der Tunnel ein Ende hat und wieder Licht zu sehen sein wird. Auch in den 1980er Jahren hatte es eine dunkle Phase gegeben. – vom Libanonkrieg bis zur Ersten Intifada. Auf diese folgte der vielversprechende Friedensprozess von Oslo in den 1990er Jahren, bei dem die EU und ihre Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle spielten. Wenn man seine Erwartungen zurücksteckt, dann kann man zu dem gleichen Ergebnis kommen, wie dies ein mit dem Nahen Osten befasster Mitarbeiter des Europäischen Außenamtes tut: „Ich habe die Passagen der Globalen Strategie zu Israel und Palästina erneut gelesen und festgestellt, dass sie gar nicht so schlecht sind: Grenzen von 1967, Landtausch, Achtung des Völkerrechts“.[44]

Bei der Eröffnung der Botschafterkonferenz der EU im Jahr 2017 sagte Mogherini: „Strategisch handeln bedeutet manchmal, stur zu sein und am richtigen Rahmen festzuhalten, wenn Zweifel und Fragen auftauchen.“[45] Angesichts der Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist – im Nahen Osten, durch die Politik der USA unter Präsident Trump, sowie in der EU selbst – ist das Konzept der Resilienz ein sinnvoller Ansatz. Das bedrückende an dem Konzept jedoch ist, wie ein Mitarbeiter der Vertretung der EU für das Westjordanland und den Gaza-Streifen in Jerusalem es ausdrückte: „[…]dass es ein Eingeständnis der Schwäche ist, dass es Realität ist, dass wir nicht helfen können.“[46]

 

Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin

 

 


·   Anders Persson (1953), Direktor am Center for Medical Image Science and Visualization sowie Privatdozent an der Linköping Universität, Schweden

[1]   Wolfgang Wagner, Rosanne Anholt: Resilience as the EU Global Strategy’s new leitmotif: pragmatic, problematic or promosing? In: Contemporary Security Policy, 3/2016, S. 414–430, hier S. 418. – Ana Juncos: Resilience as the new EU foreign policy paradigm: a pragmatist turn? In: European Security, 1/2017, S. 1–18, hier S. 6.

[2]   Interview mit einem Mitarbeiter der EU-Vertretung im Westjordanland und dem Gazastreifen, Jerusalem, 30.5.2018.

[3]   Alaa Tartir: The Limits of Securitized Peace: The EU’s Sponsorship of Palestinian Authoritarianism, in: Middle East Critique, 4/2018, S. 365–381.

[4]   Berlin European Council, 24 and 25 March 1999, Presidency Conclusions, Middle East Process, <www.europarl.europa.eu/summits/ber2_en.htm#partIV>.

[5]   Press release 3058th Council meeting Foreign Affairs, Brussels, 13.12.2010, <http://europa.eu/ rapid/press-release_PRES-10-346_en.h tm?locale=en>.

[6]   Zitiert nach: Palestinian leader draws blank in appeal for EU recognition, Politico EU, 21.1.2018 <www.politico.eu/article/mahmoud-abbas-brussels-palestine-leader-draws-blank-in- appeal-for-eu-recognition>.

[7]   Abbas wins renewed EU backing for Palestinian capital in East Jerusalem’, Reuters, 21.1.2018.

[8]   Jom-Kippur-Krieg, in arabischen Darstellungen als „Oktober-“ oder „Rammadan-Krieg“ bezeichnet – Anm. d. Übers.

[9]   Der Begriff „Heimstätte“ (homeland) lehnt sich an die Balfour-Deklaration an, in der Großbritannien 1917 erklärte, dass es die Schaffung einer „nationalen Heimstätte“ (national home) für das jüdische Volk in Palästina unterstützte. – Anm. d. Red.

[10]  Anders Persson: The EU and the Israeli-Palestinian Conflict, 1971–2013: In Search of a Just Peace. Lanham 2015, S. 144.

[11]  Anders Persson: Shaping Discourse and Setting Examples: Normative Power Europe can Work in the Israeli–Palestinian Conflict, in: Journal of Common Market Studies, 6/2017, S. 1415–1431, hier S. 7.

[12]  Persson, Shaping Discourse [Fn. 11]. – Anders Persson: EU differentiation’ as a case of ‘Normative Power Europe’ (NPE) in the Israeli-Palestinian conflict, in:  Journal of European Integration, 2/2018, S. 193–208. – Hugh Lovatt, Mattia Toaldo: EU Differentiation and Israeli settlements, European Council on Foreign Affairs Policy Brief, 22.7.2015, <www.ecfr.eu/page/-/EuDifferentiation-final3.pdf>.

[13]  A Secure Europe in a Better World, S. 1. <www.cons ilium.e uropa.eu/eeas/security-defence/ european-security-strategy?lang=en>.

[14]  Nathalie Tocci: From the European Security Strategy to the EU Global Strategy: explaining the journey, in: International Politics, 4/2017, S. 487–502, hier S. 488. –  „Ring von Freunden“ ist eine Formulierung, die der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi im Jahr 2002 bei der Präsentation des Konzepts „Wider Europe“ wählte, aus dem später die Europäische Nachbarschaftspolitik entstand.

[15]  Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe, S. 25, <https://e eas.europa.eu/archives/ docs/top_stories/pdf/eugs_review_web.pdf>.

[16]  Ebd., S. 23.

[17]  Natalie Tocci: Framing the EU Global Strategy: A Stronger Europe in a Fragile World. Basingstoke 2017, S. 70.

[18]  Wagner, Anholt, Resilience [Fn. 1], S. 415.

[19]  Shared Vision [Fn. 16] S. 16.

[20]  Council conclusions on EU approach to resilience 3574st Foreign Affairs Council meeting, Brussels, 13.11.2017, S. 7, <https://ec.europa.eu/europeaid/sites/devco/files/council-conclusions- resilience-20171113_en.pdf>.

[21]  Exemplarisch: Dimitris Bouris: The European Union and Occupied Palestinian Territories: Statebuilding Without a State. Abingdon 2014, S. 3.

[22]  Wagner, Anholt, Resilience [Fn. 1], S. 417.

[23]  A Secure Europe in a Better World [Fn. 13], S. 8.

[24]  Ebd.

[25]  Siehe dazu auch Michael E. Smith: Implementing the Global Strategy where it matters most: the EU’s credibility deficit and the European neighbourhood, in: Contemporary Security Policy, 3/2016, S. 446–460, hier S. 452–453.

[26]  Shared Vision, Common Action [Fn. 15]. S. 34–35.

[27]  Interview mit Natalie Tocci am 20.4.2018.

[28]  Remarks by President Trump and President Abbas of the Palestinian Authority in Joint Statements, 23.5.2017, <www.whitehouse.gov/briefings-statements/remarks-president-trump-president-abbas-palestinian-authority-joint-statements>.

[29]  Speech by HR/VP Federica Mogherini at the European Parliament plenary session on US President Trump’s announcement to recognise Jerusalem as capital of Israel, 12.12.2017, <https://eeas.europa.eu/printpdf/37336_en>.

[30]  Siehe dazu den Beitrag von Joanna Dyduch in diesem Band. S. 351–367.

[31]  Remarks by HR/VP Federica Mogherini at the joint press point ahead of the extraordinary session of the International Donor Group for Palestine (Ad Hoc Liaison Committee, AHLC)’, 15.3.2018, <https://eeas.europa.eu/printpdf/39142_en>.

[32]  Die USA waren 2017 noch mit 364 Millionen US-Dollar der größte Geldgeber, es folgten die EU mit 145 Mio., Deutschland mit 76,5 und Großbritannien mit 67 Mio. US-Dollar. Im Jahr 2018 zahlten die USA noch 60,5 Millionen US-Dollar ein, größter Geldgeber war nun die EU mit 179 Mio US-Dollar, gefolgt von Deutschland mit 177 Mio., Saudi Arabien mit 160 Mio. UNRWA Donor Charts, <www.unrwa.org/how-you-can-help/government-partners/funding-trends/donor-charts>. Zu den Hintergründen des Konflikts siehe: Hilfsorganisation oder «Flüchtlingsfabrik»? NZZ, 1.2.2018. – Anm. d. Red.

[33]  Speech by High Representative/Vice-President Federica Mogherini at the Ministerial Conference on UNRWA’, 15.3.2018, <https://eeas.europa.eu/printpdf/41408_en>.

[34]  Remarks by High Representative/Vice-President Federica Mogherini at the Ministerial Meeting on the Middle East Peace Process’, <https://eeas.europa.eu/printpdf/67996_en>.

[35]  Council conclusions on the Middle East Peace Process, Brussels, 14.5.2012, <http://europa.eu/ rapid/press-release_PRES-12-166_en.htm>.

[36]  Schlussfolgerungen des Rates zum Nahost-Friedensprozess, <www.consilium.europa.eu/de/ press/press-releases/2015/07/20/fac-mepp-conclusions>.

[37]  Das im Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen (Oslo II) von 1995 definierte C-Gebiet umfasst 61 Prozent des Westjordanlands. Dort ist die Palästinensische Autonomiebehörde in palästinensischen Gemeinden für das Gesundheits- und das Bildungssystem zuständig. – Anm. d. Red.

[38]  Interview mit einem Mitarbeiter der Vertretung der EU im Westjordanland und im Gaza-Streifen, Jerusalem, 30.5.2018. – Siehe auch European Joint Strategy in support of Palestine, 2017–2020, <https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/final_-_european_joint_strategy_english.pdf>.

[39]  The Rt Hon Chris Patten Commissioner for External Relations Situation in the Middle East European Parliament. Plenary Session Strasbourg, 12.12.2001, <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_01_627>.

[40]  UNRWA: Gaza in 2020: A liveable place?, S. 16, <www.unrwa.org/userfiles/file/publications/ gaza/Gaza%20in%202020.pdf>.

[41]  EUBAM Head: Keeping Gaza border open is the trick. The Jerusalem Post, 6.2.2009.

[42]  Interview mit einem Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes der EU, 5.5.2018.

[43]  Interview mit einem Mitarbeiter der Vertretung der EU im Westjordanland und im Gaza-Streifen, Jerusalem, 30.5.2018.

[44]  Interview mit einem Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes der EU, 5.5.2018.

[45]  Speech by HR/VP Mogherini at the opening session of the 2017 EU Ambassadors conference, 28.8.2017, <https://eeas.europa.eu/printpdf/31424_en>.

[46]  Interview mit einem Mitarbeiter der Vertretung der EUim Westjordanland und im Gaza-Streifen, Jerusalem, 30.5.2018.

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