Titelbild Osteuropa 9-11/2019

Aus Osteuropa 9-11/2019

Editorial
Parallelgeschichten


Abstract in English

(Osteuropa 9-11/2019, S. 5–6)

Volltext

Das Ende der Sowjetunion war der Anfang einer großen Auswanderung. Seit den frühen 1990er Jahren verließen mehr als eine Million Menschen die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten – und fanden ihre Heimat in Israel. Gleichzeitig erhielten gut 2,3 Millionen „russlanddeutsche Spätaussiedler“ und fast 250 000 Menschen „jüdischer Nationalität“ dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Es kamen Frauen und Männer, Alte und Junge, Juden, Christen, Agnostiker. Die einen hatten in Millionenstädten gelebt, die anderen in Dörfern, manche brachten akademische Bildung mit, andere waren Traktoristen in Kolchosen gewesen. Sie alle mussten sich ein neues Leben aufbauen.

Seitdem sind drei Jahrzehnte vergangen. In den 1990er Jahren galt die Integration dieser Menschen als große Herausforderung für die Aufnahmegesellschaften wie für die Zuwanderer. Heute gilt sie als gelungen. Das sagt ebenso viel über die Aufnahmegesellschaften aus wie über die Einwanderer. Doch gleichzeitig stellen sich neue Fragen. Integration wird nicht mehr als Einbahnstraße, als Eingliederung in eine gegebene Gesellschaft verstanden, sondern als wechselseitige Beeinflussung mit offenem Ausgang. Wie veränderte sich das Selbstbild der Menschen in ihrer neuen Heimat? Welche Geschichten erzählen sie von den Gründen ihrer Migration und ihrem Zurechtfinden am neuen Ort? Prägt in der Familie tradierter Habitus oder die neue Umgebung die Wahl des privaten Umfelds, die beruflichen Wege und die politischen Einstellungen? Welche Rolle spielt die Sprache – als Marker der Ausgrenzung, als Motor der Gruppenbildung und als Mittel professioneller Kommunikation? Was unterscheidet diejenigen, die noch Kinder waren, als sie nach Deutschland oder Israel kamen, von ihren Eltern? Was bedeutete die Zuwanderung für die Aufnahmegesellschaften? In welcher Weise prägen diese Menschen das kulturelle Leben und die politische Kultur ihrer neuen Heimat? Welche Verbindungen unterhalten sie zu ihrer alten Heimat?

Es liegt nahe, diese Fragen vergleichend zu beantworten. Dies ermöglicht, Gemein­sam­keiten und Unterschiede zwischen den Aufnahmegesellschaften wie zwischen den Einwanderern zu erfassen. In Israel wurden jüdische Einwanderer als „Heimkehrer“ betrachtet, ebenso in Deutschland die Spätaussiedler. Ausgrenzung und Stigmatisierung erfuhren im Alltag und der öffentlichen Debatte gleichwohl beide Gruppen. Israel verlieh den „Heimkehrern“ sofort die Staatsbürgerschaft, bot jedoch kaum soziale Unterstützung. In Deutschland wurden nur die „Spätaussiedler“ umgehend Staatsbürger, doch auch die jüdischen Zuwanderer wurden in die Sozialsysteme aufgenommen. Die Auswirkungen der unterschiedlichen Ansätze sind ambivalent. In Israel erlebten viele Einwanderer einen sozialen Abstieg, in Deutschland wurden die Schwierigkeiten der beruflichen Neuorientierung abgefedert. Erzwungene Selbsthilfe und familiärer Zusammenhalt legten jedoch in Israel häufig den Grundstein für einen späteren Aufstieg, während in Deutschland die Ungleichbehandlung der jüdischen Zuwanderer im Rentenrecht heute für Altersarmut sorgt. Vielen russlanddeutschen Spätaussiedlern wiederum ist der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen.

Der Einfluss der einstigen Einwanderer auf die Politik in Deutschland ist, anders als oft behauptet, gering. Selbst in Israel, wo sie eine relevante Wählergruppe stellen, sollte er nicht überschätzt werden. Wahlanalysen zeigen zwar, dass sie schon seit Anfang der 2000er Jahre überdurchschnittlich häufig Parteien wählen, die in sicherheitspolitischen Fragen mehr auf Stärke denn auf Dialog setzen. Doch dies ist ein Trend, der die gesamte israelische Gesellschaft erfasst hat und eher auf Entwicklungen im Nahen Osten als auf den Einfluss der Eingewanderten zurückgeht.

Dies lenkt den Blick auf die internationale Politik. Zwar entpuppt es sich als Mythos, dass die Russischsprachigen in Israel wie in Deutschland Anhänger einer besonders russlandfreundlichen Politik seien und die Außenbeziehungen Jerusalems und Berlins beeinflussen würden. Umgekehrt gilt aber, dass die internationalen Beziehungen erheblichen Einfluss auf das Schicksal gerade solcher Menschen haben, die mehr als nur einer Gesellschaft angehören.

So hatte der mit Antisemitismus untrennbar verschmolzene Antizionismus der Sowjetunion die Grundlage dafür geschaffen, dass so viele Juden Ende der 1980er Jahre dieses Land verlassen wollten. Das „Neue Denken“ in der sowjetischen Außenpolitik unter Michail Gorbačev führte zur Abschaffung der Ausreisebeschränkungen und löste die Migrationswelle aus. Seitdem hat sich die Welt grundlegend geändert. Ungeachtet zahlreicher Differenzen pflegen Russland und Israel pragmatische Beziehungen. Russland ist seit seinem militärischen Eingreifen in den Syrienkrieg im Jahr 2015 eine neue Regionalmacht im Nahen Osten. Israel ist zugleich der militärisch mächtigste und der am stärksten bedrohte Staat der Region. Wo immer sich Moskau und Jerusalem von koordiniertem Vorgehen Vorteile versprechen, arbeiten sie zusammen. Was beide Staaten aus ganz unterschiedlichen Gründen verbindet, ist eine Sicht auf die internationalen Beziehungen, in der Völkerrecht wenig, staatliche Macht, vor allem militärische, jedoch viel zählt.

Dies trennt beide Staaten von Deutschland. Noch immer ist es das Menschheitsverbrechen der Shoah, Deutschlands Bekenntnis zu seiner Schuld und die daraus abgeleitete spezifische Verantwortung für die Gegenwart, das Jerusalem und Berlin verbindet. Doch die historische Klammer wird brüchig und die Differenzen wachsen. Die beiden Gesellschaften entwickeln sich auseinander, im von friedlichen Nachbarn umgebenen Deutschland fällt es vielen schwer, sich in die Lage einer Gesellschaft zu versetzen, die in einem weitgehend feindlich gesinnten Umfeld lebt. Diese Differenzen zerren auch am Zusammenhalt in der Europäischen Union. Die ostmitteleuropäischen Staaten, insbesondere Polen und Ungarn, deren amtierende Regierungen politisch und weltanschaulich der Regierung Netanjahu in Israel nahestehen, betreiben mit einer eigenständigen, betont auf Harmonie abstellenden Israelpolitik auch symbolische Europapolitik. In dieser neuen Welt müssen sich auch all die Menschen in Deutschland und Israel orientieren, die familiäre, sprachliche und kulturelle Bindungen nach Russland, in die Ukraine oder Kasachstan haben.

Der vorliegende Band entstand im Rahmen des ersten Jahrgangs des Sylke-Tempel-Fellowship-Programms der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum (DIZF) unter Mitwirkung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und dem Zentrum Liberale Moderne (LibMod).   

Berlin, im Dezember 2019                                       

Manfred Sapper, Volker Weichsel