Editorial
Nachholende Revolution
(Osteuropa 10-11/2020, S. 56)
Volltext
Noch am Morgen des 9. August 2020 ahnte niemand, dass die Präsidentschaftswahl in Belarus zu einer Zäsur werden würde. Als die Wahlkommission bekannt gab, dass 80,1 Prozent der Stimmen auf Amtsinhaber Aljaksandr Lukašenka entfallen seien, regte sich in der Bevölkerung Protest. Zu offensichtlich war dieses Ergebnis gefälscht. Das Regime versuchte, die friedlichen Demonstrationen gegen den Wahlbetrug durch Festnahmen und Gewalt zu zerschlagen. Dies fachte den Protest erst recht an. Überall im Land gingen Hunderttausende Menschen auf die Straße, Junge und Alte, Männer und Frauen, Arbeiter und Ärzte. Die Protestbewegung, der Frauen ihr Gesicht gaben, entfaltete eine Kraft und Euphorie, Kreativität und Dynamik, die an die Friedliche Revolution erinnerte, die vor drei Jahrzehnten die kommunistischen Regime in Osteuropa hinweggefegt hatte.
In solchen Phasen explodiert die Zeit. Gestern Undenkbares ist heute überholt. Informationen, die über soziale Medien in Echtzeit in die Welt drängen, sind verwirrend, widersprüchlich und mitunter schneller veraltet als eingeordnet. Das ist das „Dunkel des gelebten Augenblicks“, wie es einst Ernst Bloch ausdrückte.
Wenn Osteuropa versucht, unter solchen Bedingungen Licht in dieses Dunkel zu bringen, ist das ein Wagnis. Denn bis ein substantieller Osteuropa-Band wie der vorliegende produziert ist, der die Dokumentation der Ereignisse mit ihrer Analyse, Empirie mit Einordnung und Erklärung verbindet und dessen Aussagen länger gültig sein sollen als Posts, Zeitungsartikel und Policy Papers, gehen Wochen ins Land. Währenddessen bleibt die Entwicklung nicht stehen. Doch die grundlegenden Erkenntnisse haben Bestand. Und die Strukturen lassen sich aus dem breiten Fluss der Informationen herauspräparieren.
In Belarus vollzieht sich eine nachholende Revolution. Sie knüpft an das Jahr 1989 an. Die Protestbewegung versucht, sich von der autoritären Führung zu befreien, die seit zweieinhalb Jahrzehnten herrscht. In dieser Bewegung spielen gut ausgebildete, mobile Menschen eine wichtige Rolle, die nicht mehr im Staatssektor arbeiten. Sie hegen keine paternalistischen Erwartungen mehr, sondern streben ein Leben in Selbstverantwortung und Würde an. Sie wünschen Bürger zu sein. Mit diesem millionenfach artikulierten Anspruch konstituiert sich eine neue politische Nation, der demos, der die Macht beansprucht. Diese politische Nation will die Ordnung des Politischen selbst bestimmen, Macht ausüben und zugleich Macht durch Verfahren wie faire und freie Wahlen beschränken und kontrollieren.
Zur Friedlichen Revolution von 1989 gehört auch, dass keineswegs alle kommunistischen Regime beim ersten Protest sofort die politische Bühne räumten. In der Tschechoslowakei, der DDR klammerten sich die Führungscliquen an ihre Posten. Sie vertrauten auf ihre Zensur-, Zwangs- und Gewaltapparate. Genau das geschieht nun in Belarus. Das extrem personalisierte, auf den Führer ausgerichtete Lukašenka-System schlägt zurück. Es diffamiert die Protestbewegung als „Feinde“, als „Faschisten“ oder als von außen gesteuerte Marionetten und bekämpft sie: Fast 30 000 Menschen wurden festgenommen, etliche von „Spezialkräften“ in Polizeigewahrsam gefoltert. Menschenrechtsorganisationen zählen 160 politische Gefangene. Das „Verbrechen“ all dieser Opfer – es sei nochmals betont – besteht darin, dass sie Neuwahlen gefordert haben! Das Lukašenka-System ficht es nicht an, dass die OSZE die Wahlen als gefälscht bewertet und die EU das Wahlergebnis und die Wiedereinsetzung von Lukašenka ins Amt des Präsidenten für illegitim erklärt. Das Regime setzt auf Repression, Zwang und Gewalt – und kann sich auf Rückendeckung aus Moskau verlassen. Denn das Putin-System fürchtet nichts mehr, als dass die belarussische Bürgerbewegung in Russland Schule machen könnte.
Ob Lukašenkas Strategie der Gewalt erfolgreich sein wird, entscheidet sich nicht in Moskau. Wichtiger ist die Loyalität der eigenen Gewaltapparate. Bislang folgen diese den Befehlen des Führers, obwohl er seine Reputation und Legitimation verloren hat. Mit jedem Akt der Gewalt rücken die Angehörigen der Einsatztruppen enger zusammen. Die Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Aleksievič hat dieses Phänomen so ausgedrückt: „Diese Sonderpolizisten werden durch das Blut, das sie vergießen, zusammengehalten.“ Tatsächlich handelt es sich bei OMON, Almaz und Specnaz um „Gewaltgemeinschaften“, die sich wie die Freikorps der 1920er Jahre durch Gewalt stabilisieren. Aber ihr Auftreten zeugt von der Krise der politischen Ordnung. Hannah Arendt hat es auf den Punkt gebracht: „Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist.“ Und weiter heißt es bei ihr: „Auch die größte Macht kann durch Gewalt vernichtet werden; aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.“
Für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Gewalt kontraproduktiv. Und sie ist autodestruktiv, weil sie etwa IT-Unternehmen und deren Mitarbeiter ins Ausland treibt, die Belarus zur Modernisierung und Stärkung der eigenen Volkswirtschaft dringend gebrauchen könnte. Mit Gewalt ist auf Dauer kein Staat zu machen.
Setzt sich die Macht des Volkes gegen die Gewalt des Regimes durch? Diese Frage nimmt der vorliegende Band auf und beschreitet damit Neuland. Erstmals erscheint ein Heft mit zwei Titeln und zwei Covern. Gleichzeitig ist der Belarus-Band mehr als die gedruckte Ausgabe. Zu ihm gehören auch die digitalen Beiträge, die seit Mitte August 2020 im „Fokus Belarus“ auf der Osteuropa-Website erschienen sind. Und noch etwas ist neu: Neben der eingeführten Schreibweise von „Belarus“ und „belarussisch“ verwenden einige Autorinnen und Autoren das Adjektiv „belarusisch“. Sie folgen damit den Empfehlungen der „Belarusisch-Deutschen Historikerkommission“. Damit soll auch sprachlich deutlich werden, dass es sich bei Belarus um einen souveränen Staat handelt.
Astrid Sahm konstatiert in ihrer luziden Analyse der Etappen der Systemkrise in Belarus, dass Regime und Bürgerbewegung in einem Patt stecken. Dieses Bild ist inhaltlich wohlbegründet. Doch eines ist anders als im Schach. Dort bedeutet „Patt“ das Ende des Spiels. In Belarus dagegen ist der historische Prozess nicht beendet, der Konflikt nicht entschieden. Eher handelt es sich um eine Hängepartie. Sie wird wieder aufgenommen. Der strukturelle Wandel der Gesellschaft und die Selbstkonstitution von mündigen Bürgerinnen und Bürgern als der eigentliche Souverän sind nicht zurückzudrehen. Die Zeit des Diktators ist abgelaufen. Er will es nur nicht wahrhaben.
Berlin, im Dezember 2020 Manfred Sapper, Volker Weichsel