Titelbild Osteuropa 10-11/2020

Aus Osteuropa 10-11/2020

Historische Orte als Chiffre
Protestbewegung und Erinnerungskultur in Belarus

Anika Walke


Abstract in English

Abstract

Der Konflikt zwischen dem Lukašenka-Regime und der Protestbewegung wird auch sprachlich ausgetragen. Ein rhetorisches Mittel ist der historische Vergleich. Er dient dazu, die Realität auf den Begriff zu bringen, Anhänger zu mobilisieren und die Gegenseite zu diffamieren. Demonstranten vergleichen die Brutalität der Gewaltapparate mit dem stalinistischen Terror. Andere nennen die berüchtigte Minsker Haftanstalt Okrestina in einem Atemzug mit Auschwitz. Das Regime will „das ganze Land zur Brester Festung“ machen, um die Protestbewegung abzuwehren. Diese historischen Vergleiche und Gleichsetzungen, so unhaltbar sie auch sein mögen, sind ein Indikator dafür, wie zerrissen Belarus ist. Auch die belarusische Erinnerungskultur ist polarisiert. Das zeigt der Čeljuskincev-Park in Minsk. Er ist auf Massengräbern errichtet. Der Opfer wird nur selektiv gedacht. Die Frage nach den Tätern unter den Belarusen wird verdrängt, die Ermordung der Juden bleibt unerwähnt.

(Osteuropa 10-11/2020, S. 385–398)