Titelbild Osteuropa 12/2020

Aus Osteuropa 12/2020

Oskar Anweiler (1925-2020)
Ein Jahrhundertzeuge

Manfred Sapper

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(Osteuropa 12/2020, S. 179–180)

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Oskar Anweiler ist tot. Dabei hatten wir uns doch fest für den 29. September 2025 am Brandenburger Tor verabredet, um gemeinsam unseren 100. Geburtstag zu begehen. Beiläufig hatten wir herausgefunden, dass er im selben Jahr aus der Taufe gehoben wurde wie die Zeitschrift  Osteuropa – er im polnischen Rawicz, sie in Berlin.

95 Jahre hat er erlebt ‑ und was für welche! Nach dem frühen Tod seines Vaters zog seine Mutter mit dem zweijährigen Oskar zurück zu ihrer Familie nach Stanisławów (Stanislau, heute Ivano-Frankivsʼk). Dort gehörte er zur deutschen Minderheit, sprach aber von Kindheit an fließend Polnisch. In Stanisławów lebten vor allem Juden und Polen, Ukrainer und einige Deutsche. Als Jugendlicher erlebte er den Hitler-Stalin-Pakt und den Überfall auf Polen. Als 17-Jähriger wurde er in den Arbeitsdienst eingezogen, als 18-Jähriger zur Wehrmacht. Er sah noch die Grauen des Krieges, geriet in Gefangenschaft, erlebte Entnazifizierung, die Amerikanisierung des Westens und die Sowjetisierung des Ostens Deutschlands und Europas. In der Frühphase des Kalten Kriegs nahm er in Hamburg ein Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Pädagogik auf.

Russland und die Sowjetunion standen bald im Zentrum seiner Interessen. Osteuropa, Schule und Bildung, Pädagogik und Wissenschaft, Publizistik und Aufklärung, Versöhnung mit Polen, Entspannung, Aufarbeitung der Vergangenheit – das waren biographische Wegzeichen und Themen, die Oskar Anweiler umtrieben und ihn mit mehreren Generationen von Menschen aus Wissenschaft und Hochschule, Politik und Öffentlichkeit verbanden. Zur Plattform des Austauschs wurde ihm die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde mit ihrer international renommierten Zeitschrift Osteuropa. Seit den 1950er Jahren engagierte sich Anweiler jahrzehntelang als Autor, Inspirator, Organisator und Vizepräsident der DGO. Er war einer, der Interdisziplinarität im eigenen Kopf dachte und in Forschung und Lehre praktizierte. Anweiler gehörte zur Gründergeneration der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in Deutschland, lehrte und forschte von 1964 bis zu seiner Emeritierung 1990 an der Universität Bochum. 1997 wurde Anweiler als Ausländer Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, eine Ehre, die vor ihm nur dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget und der Schriftstellerin Astrid Lindgren zu Teil geworden war.

Mit seiner historischen Forschung gelangen ihm zwei große Würfe: Die Rätebewegung in Russland 1905–1921 (1958) und seine Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland vom Ende des Zarenreichs bis zum Beginn der Stalin-Ära sind bis heute Standardwerke. Oskar Anweiler hat tiefe Spuren hinterlassen, bei Generationen von Studenten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in der DGO und der Zeitschrift Osteuropa.

Oskar Anweiler starb am 31.10.2020. Nun werden wir uns nicht mehr am Brandenburger Tor treffen können. Aber wir behalten ihn in bester Erinnerung. Und wir werden an ihn denken, wenn wir 2025 den geteilten 100. Geburtstag begehen. Gemeinsam, wenn auch ohne ihn.

Manfred Sapper

 

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