Titelbild Osteuropa 3-4/2020

Aus Osteuropa 3-4/2020

Die PiS, das Virus und die Macht
Präsidentschaftswahlen in Zeiten der Pandemie

Marta Bucholc, Maciej Komornik

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Abstract in English

Abstract

Polens Regierung hat zur Bekämpfung des Corona-Virus erhebliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft sowie der Rechte und Freiheiten der Bürger erlassen. Per Dekret wurde der Epidemiezustand ausgerufen. Ungeachtet dessen will die PiS an der Durchführung der Präsidentschaftswahlen am 10. Mai 2020 festhalten. Dazu hat sie das Wahlrecht geändert: Nun ist die Briefwahl obligatorisch. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit verhindert einen gleichen und fairen öffentlichen Wahlkampf. Dieses Vorgehen löst verfassungsrechtliche Bedenken aus. Es steht zu befürchten, dass die europäische Öffentlichkeit in Zeiten des gemeinsamen Kampfes gegen das Corona-Virus Fragen der Rechtsstaatlichkeit zu wenig Aufmerksamkeit schenkt.

(Osteuropa 3-4/2020, S. 49–64)

Volltext

Die Corona-Virus-Pandemie rückt die Problematik der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes von Grundrechten und Grundfreiheiten in ein gänzlich neues Licht. In nahezu allen Ländern werden derzeit die Rechte und Freiheiten der Bürger eingeschränkt, doch die konkreten Maßnahmen differieren von Fall zu Fall. Das Spektrum reicht von der Maximalvariante – dem absoluten Verbot, ohne notwendigen Grund die Privatwohnung zu verlassen, und der annähernd kompletten Stilllegung des Wirtschaftslebens – bis zur selektiven Isolierung der Risikogruppen und der schnellen Feststellung der Infizierten ohne radikale staatliche Eingriffe in ökonomische und soziale Prozesse. Die verschiedenen Strategien und Rechtsmittel zeitigen unterschiedliche epidemiologische und soziale Effekte. Wo bisher ein funktionierender Rechtsstaat umfassende Bürgerfreiheiten garantierte, mag der Kontrast zwischen gestern, als diese Freiheiten vollständig genutzt werden konnten, und den Einschränkungen von heute, besonders krass erscheinen.

Gerade die Situation in jenen Ländern, in denen der Rechtsstaat schon vor Ausbruch der Pandemie in Frage stand, verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier könnte nämlich die außergewöhnliche Lage leicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen genutzt werden, die unter normalen Bedingungen nicht durchsetzbar wären.

Die Pandemie und der Wahlkampf

Polen ist eines der Länder, das Anlass zur Sorge gibt, ob bestimmte Grundrechte und Grundfreiheiten geschützt sind.[1] Der Grund ist eine Regierungspolitik, die auf die Unterordnung der Judikative unter die Exekutive und somit auf die Aushöhlung der Gewaltenteilung durch die Beschränkung des Bürgerrechts auf ein unparteiisches Verfahren sowie der Kompetenzen der Justiz abzielt.[2] Nach dem erneuten Sieg der seit 2015 regierenden Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) bei den Parlamentswahlen 2019 wurden die für den 10. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen zum meisterwarteten politischen Ereignis des Jahres 2020. Mit Blick auf diese Wahlen eröffnete die PiS in einem Klima des sich zuspitzenden Konflikts mit der Judikative, der inzwischen zur Einleitung Verfahrens vor dem EuGH gegen Polen führte, die nächste Phase der Festigung ihrer – damals noch durch nichts bedrohten – Vormachtstellung in der polnischen Politik. Mit der Justizreform erhielt der Präsident eine Reihe zusätzlicher Kompetenzen. Die PiS, die nach wie vor über eine absolute Mehrheit im Sejm verfügt, braucht einen Präsidenten aus dem eigenen Lager, um wie bisher ohne Verhandlungen oder Kompromisse mit politischen Gegnern regieren zu können.

Der von der PiS nominierte, amtierende Präsident Andrzej Duda galt angesichts des enormen gesellschaftlichen Rückhalts zwar als Favorit für die Wiederwahl. Fraglich schien, ob Duda einen Sieg bereits im ersten Wahlgang erringen könnte, was laut Wahlrecht bei einer Mehrheit von mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen der Fall ist, oder ob ein zweiter Wahlgang erforderlich werden würde. In diesem Fall würde laut Umfragen die Kandidatin der stärksten Oppositionspartei Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, PO) Małgorzata Kidawa-Błońska eine gewisse Gefahr darstellen.[3] Denn rein theoretisch wäre es möglich, dass die Oppositionskandidatin alle Stimmen der liberalen, linken und nicht PiS-affinen konservativen Wähler auf sich vereinigen würde. Angesichts dessen eröffnete die PiS den Wahlkampf offiziell bereits am 15. Februar 2020, nur zehn Tage nachdem der Wahltermin veröffentlicht worden war.[4] Präsident Duda zeigte großes Engagement und suchte den intensiven Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern, was ihm schnell einen Vorsprung vor der Konkurrenz sicherte. Kidawa-Błońskas Wahlkampf startete dagegen schwach, wodurch sie in den Umfragen ihren Vorsprung auf die übrigen Präsidentschaftskandidaten einbüßte. Das ließ die Wiederwahl des Amtsinhabers im ersten Wahlgang wahrscheinlicher werden. Als die Regierung die ersten Maßnahmen gegen die Pandemie ergriff, darunter tiefgreifende Einschränkungen im öffentlichen Leben, hatte Kidawa-Błońska ihre relativ gute Position verloren.[5] Angesichts der Pandemie und als Protest gegen die Absicht der Regierungspartei, die Wahlen unter solchen Umständen durchzuführen, hat sie am 29. März ihren Wahlkampf ausgesetzt und zum Boykott der Wahlen aufgerufen.[6] Zu dieser Zeit war bereits nicht nur das politische Leben vom Corona-Virus lahmgelegt.

Polen begann sich für den Kampf gegen die Krankheit Ende Februar zu rüsten und brachte erste Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus auf den Weg. Am 2. März 2020 verabschiedete der Sejm mit den Stimmen des Regierungslagers und unter breiter Mitwirkung der Opposition ein Gesetz über konkrete Mittel zur Prävention und Eindämmung sowie zum Kampf gegen COVID-19, andere Infektionskrankheiten und daraus resultierende Krisensituationen, das im Volksmund als „Corona-Sondergesetz“ bekannt wurde.[7] Umgehend wurden an der Notwendigkeit der Einführung detaillierter Vorschriften Zweifel laut, weil in Gestalt des Gesetzes vom 5. Dezember 2008 über die Prävention und Bekämpfung von Infektionen und Infektionskrankheiten beim Menschen bereits ein rechtliches Instrument existierte,[8] vor allem aber bezweifelte man die Verfassungsmäßigkeit der neuen Vorschriften.[9] Das Sondergesetz trat am 8. März in Kraft. Es enthielt neben Änderungen des genannten Gesetzes von 2008 auch Änderungen vieler anderer Gesetze. Es ermächtigt die Woiwoden als Repräsentanten der Regierung innerhalb der Grenzen ihrer Woiwodschaft sowie die Minister dazu, Bürgern, Unternehmen, Kommunalbehörden und Hochschulen Pflichten und Einschränkungen aufzuerlegen – und zwar auf weitgehend informellem und juristisch nur schwer überprüfbarem Wege. Nun dürfen diese Anweisungen auch mündlich oder per SMS erteilt werden.

Am 4. März 2020 war in Zielona Góra, an der Westgrenze Polens, der erste Fall einer Corona-Infektion bestätigt worden. Am 15. März führte der Außenminister per Dekret die Grenzkontrollen wieder ein. Ab 13. März wurden aufgrund des Infektionsgesetzes von 2008 unterschiedliche Sondermaßnahmen eingeführt. Am 20. März rief der Gesundheitsminister per Dekret den Epidemiezustand aus.[10] Mit diesem Dekret wurden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, des Datenschutzes, des freien Handels, der Arbeit in Betrieben und bestimmten öffentlichen Einrichtungen, der Versammlungs­freiheit sowie des Verfügungsrechts über privates Eigentum (im Falle einer Requi­rierung zum Zwecke der Epidemiebekämpfung) eingeführt. Ein weiteres Maßnahmen­paket, diesmal auf Grundlage des Gesetzes über die Prävention und Bekämpfung von Infektionen und Infektionskrankheiten beim Menschen, trat am 24. März 2020 in Kraft. Es umfasste ein Verbot aller Versammlungen und Veranstaltungen, Zusammenkünfte (ausgenommen sind Begegnungen im engsten Familienkreis oder in fester Beziehung lebender Personen) sowie eine Ausgangssperre (mit Ausnahme unbedingt notwendiger Anlässe) und die Anordnung, Abstand zu anderen Menschen zu wahren. Die Zahl der Teilnehmer religiöser Zeremonien wurde auf fünf Personen begrenzt. Ebenfalls begrenzt wurde die Zahl der Personen, die gleichzeitig ein Fahrzeug des öffentlichen Nahverkehrs nutzen können. Bei Zuwiderhandlung drohen Geldstrafen ab 5000 PLN (ca. 1100 €). Das entspricht etwa dem monatlichen Durchschnittseinkommen. Derartig drastische Geldstrafen wurden bereits verhängt.[11]

Anders als Italien, Deutschland, Spanien oder Frankreich, wo die Krankheit schon im Februar auftrat und die Zahl der Infektionen und – mit Ausnahme Deutschlands – der Todesfälle exponentiell anstieg, gehört Polen zu den Ländern der „zweiten Welle“ der Corona-Ausbreitung in Europa. Bisher verläuft die Epidemie weniger dramatisch als im Südwesten des Kontinents. Am 15. April 2020 gab es nach Angaben des Gesund­heitsministeriums 7582 Infizierte und 286 Tote (bei fast 156 493 durchgeführten Tests, was einer Quote von 4135 Tests auf eine Million Einwohner entspricht.[12] In der Frühphase des Kampfes gegen das Virus beschäftigten sich Medien und Öffentlichkeit mit den Fragen, ob das polnische Gesundheitssystem auf eine derartige Epidemie vorbereitet sei, wie es um die medizinische Versorgung, die Versorgung mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln bestellt sei und welche Maßnahmen vor Infektionen schützen. Die politische Debatte drehte sich um den Vergleich der Lage in Polen mit jener in anderen Ländern.[13] Die regierungsnahen Medien lobten die von der polnischen Regierung unternommenen Maßnahmen als „modellhaft für andere Länder“ und tadelten die EU.[14]

Der Präsidentschaftswahlkampf lief anfangs unverändert weiter. Nach der Verhängung des Versammlungsverbots war Andrzej Duda der einzige Kandidat, der de facto über die Möglichkeit zur Fortsetzung seines Wahlkampfs verfügte. Duda profitierte von seiner größeren Präsenz in den von der PiS kontrollierten öffentlichen Medien. Gleichwohl kam schon im März die Frage auf, ob sich der Mai-Termin für die Präsidentschaftswahlen halten lassen würde. Aus juristischer Sicht wurde diese Frage zur Schlüsselfrage für den Verlauf der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Krise in Polen.

Aus Sorge um die Gesundheit der Wähler

Der wichtigste Aspekt im Zusammenhang mit der Durchführung der Wahlen war und ist die Frage der Gesundheit der Wähler. Die Wahrnehmung dieses Problems hat sich im Laufe der Zeit verändert. Am 24. März sagte Premierminister Mateusz Morawiecki noch, es gebe „keinen Grund, warum die Präsidentschaftswahlen […] nicht zum geplanten Termin stattfinden sollten“. Dabei äußerte er die Überzeugung, dass man nach Ostern die Arbeit wieder aufnehmen könne.[15] Das Argument, ein Besuch im Wahllokal erhöhe das Risiko einer Infektion mit dem Virus, wurde abgetan; Präsident Duda sagte am 30. März: „Wenn man einkaufen gehen kann, dann kann man auch wählen gehen.“[16] PiS-Chef Jarosław Kaczyński äußerte in den Medien mehrfach, die Teilnahme an den Wahlen stelle keine Gefahr für die Gesundheit der Wähler dar.

Angesichts von Umfragen, bei denen 70 Prozent der Befragten eine Verschiebung der Wahlen erwarteten und zwölf Prozent sie explizit befürworteten,[17] entschloss sich die Regierungspartei, die Sorgen der Gesellschaft nicht komplett zu ignorieren. Am 31. März 2020 wurde eine Novelle zum Corona-Virus-Sondergesetz verabschiedet und vom Präsidenten unterzeichnet.[18] In Art. 40, Abs. 5 wurde das Wahlrecht dergestalt geändert, dass das Recht auf Briefwahl, das bislang Menschen mit Behinderung vorbehalten war, auf alle in Quarantäne befindlichen Wahlberechtigten und Wahlberechtigten im Alter ab 60 Jahren ausgeweitet wurde. Wenn man bedenkt, dass die PiS bei den letzten Wahlen gerade in der Altersgruppe 60+ mit mehr als 55 Prozent die größte Unterstützung erfuhr,[19] dann verwundern die auch aus der mitregierenden Partei Polska Razem (Polen Gemeinsam) zu vernehmenden negativen Reaktionen auf die Novelle nicht. Der Vorsitzende von Polska Razem Jarosław Gowin stellte öffentlich infrage, ob die Durchführung der Wahlen im Mai sinnvoll sei und plädierte für eine Verlegung.[20] Das lehnte der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński umgehend ab. Am 31. März brachten Abgeordnete einen Gesetzesentwurf zur Briefwahl bei der Wahl des Präsidenten der Republik Polen im Jahr 2020 in den Sejm ein.[21] Zu diesem Entwurf wurde am 2. April eine Korrektur beschlossen, mit der für beide Wahlgänge ausschließlich die Briefwahl für alle Wahlberechtigten eingeführt wurde.[22]

Auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen folgt der Gesetzgebungsprozess dem von der PiS seit 2015 praktizierten Modell: Es gab viele normative Akte, viele Korrekturen gerade erst verabschiedeter Gesetze, keine Zeit für die Abgeordneten, die eingebrachten Entwürfe zu prüfen, nächtliche Sejm-Abstimmungen, ein unerhörtes Tempo bei der Verabschiedung und die Promulgation des Gesetzes. Unter den derzeitigen Umständen könnte man diese Eile und die ständigen Nachbesserungen allerdings mit der Ausnahmesituation und dem verhängten Epidemiezustand erklären, zumal zu dem ohnehin schwer zu durchschauenden Arbeitsstand des Parlaments noch technische Probleme bei der elektronischen Fernabstimmung durch die Parlamentarier hinzukamen.[23]

Die PiS vollzog in der Frage der Briefwahl eine Kehrtwende: Noch 2017 hatte sie die völlige Abschaffung der Briefwahl angestrebt, selbst für Menschen mit Behinderung, weil sie die Gefahr von Missbrauch und Manipulation befürchtete.[24] Heute wiederum gibt es Hinweise darauf, dass sogar bei einer Briefwahl eine gesundheitliche Ge­fähr­dung der Wähler nicht vollständig auszuschließen ist, weil eine Infektion auch über die Berührung von Wahlzetteln und Umschlägen erfolgen kann.[25] Abgesehen von den Kosten, der kurzen Vorbereitungszeit und dem Fehlen jeglicher Erfahrung mit der Briefwahl in einem derart großen Ausmaß in Polen, wo 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt sind, steht in den medialen Debatten die Frage der Wähler­gesundheit an erster Stelle. Die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit der Wahlen wird unter biopolitischem Aspekt diskutiert, die verfassungsrechtlichen Aspekte rücken in den Hintergrund. Doch im Kontext des derzeitigen rechtlichen und faktischen Status quo zieht die Organisation von Wahlen mindestens zwei gewichtige Probleme konsti­tutioneller Natur nach sich. Das erste betrifft die Rechtmäßigkeit der von der PiS vorgenommenen Änderungen des Wahlrechts, das zweite den Rechtscharakter des Epidemiezustands sowie das Verhältnis des Epidemiezustands zu den in der Ver­fassung definierten Notständen.

Die konstitutionelle Problematik der Wahlrechtsänderung

Am 3. November 2006 verkündete das Polnische Verfassungsgericht ein Urteil, in dem es das in Artikel 2 der Verfassung der Polnischen Republik von 1997 formulierte Prinzip der demokratischen Rechtsstaatlichkeit mit den Anforderungen an eine Änderung des Wahlrechts verknüpfte. In diesem Urteil heißt es:

"Notwendig wäre daher in dieser Hinsicht (als spezifisches minimum minimorum) die Verabschiedung wesentlicher Änderungen im Wahlrecht […] nicht weniger als sechs Monate vor den nächsten Wahlen, wobei darunter nicht nur der Akt der Stimmabgabe, sondern die Gesamtheit der im sogenannten Wahlkalender enthaltenen Akte zu verstehen sind. Eventuelle Abweichungen von dieser Frist können nur aus außergewöhnlichen Umständen objektiver Natur resultieren. […] Es wird also an dieser Stelle unbedingt betont, dass das Erfordernis der Wahrung einer mindestens sechsmonatigen Frist ab der Einführung wesentlicher Änderungen im Wahlrecht bis zum ersten Akt des Wahlkalenders einen im Grundsatz nicht aufhebbaren konstitutiven Inhaltsbestandteil von Art. 2 der Verfassung bildet. Daraus folgt, dass das Verfassungsgericht in Zukunft alle Wahlrechtsnovellen an dem wie dargelegt verstandenen, aus dem Prinzip des demokratischen Rechtsstaats abgeleiteten Verfassungserfordernis messen wird."[26]

Bei dem Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2006 handelt es sich also um eine aus Art. 2 der polnischen Verfassung abgeleitete, wenngleich dort nicht explizit formulierte Verfassungsnorm, die kurzfristige Änderungen im Wahlrecht weniger als sechs Monate vor einem Wahltermin verbietet. Angesichts der Tatsache, dass der von der Venedig-Kommission im Jahr 2002 beschlossene Code of Good Practice in Electoral Matters verlangt, dass „fundamental changes“ im Wahlrecht mit einem Vorlauf von mindestens einem Jahr vorgenommen werden,[27] muss man dieses Urteil als liberale Interpretation internationaler Standards ansehen. Leider bestimmte das Verfassungsgericht nicht präzise, was als „außergewöhnliche Umstände objektiver Natur“ zu gelten hätte. Die Ankündigung, dass „das Verfassungsgericht in Zukunft alle Wahlrechtsnovellen an dem wie dargelegt verstandenen, aus dem Prinzip des demokratischen Rechtsstaats abgeleiteten Verfassungserfordernis messen wird“, klingt heute nicht realistisch, nachdem das Verfassungsgericht von der PiS politisiert und als unabhängige Kontroll­instanz der gesetzgeberischen Tätigkeit eliminiert wurde. Das gegenwärtige Verfassungsgericht wird mit Sicherheit keine Rechtsprechung fortführen, die dem politischen Willen der PiS widerspricht.

In der Begründung des zitierten Verfassungsgerichtsurteils von 2006 heißt es unter anderem:

"Der Schutz konkreter Werte mit einem Sicherungscharakter sollte nicht zur Zerstörung von fundamentalen Werten der politischen Ordnung in der Republik Polen führen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Herrschaft nie als Selbstzweck existiert. Sie ist immer einer höheren Wirklichkeit untergeordnet, welcher sie dient und in welcher die Mitglieder der Gemeinschaft, sei es der lokalen oder der staatlichen, ihre eigene Würde, eigene Rechte und ein konkretes Gefühl von öffentlicher Ordnung in juristisch-ethischem Aspekt einbringen, aber auch ein Abwägen, mitunter sogar eine Hierarchisierung von nicht miteinander in Einklang zu bringenden Werten erwarten. Es steht außer Frage, dass etwa im Falle einer Gefährdung des Staates oder der sozialen Ordnung der Republik Polen der Vorrang bestimmter Werte über andere gerechtfertigt sein kann, insbesondere wenn es sich um prozedurale oder sichernde Werte handelt. Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass die prozeduralen Aspekte des Rechts nicht in einem normativen Vakuum existieren; sie existieren nicht als Selbstzweck, sondern haben materiell-rechtlichen Werten zu dienen."[28]

Die Lektüre dieser Passage könnte zu der Schlussfolgerung führen, das Corona-Virus habe in Polen „außergewöhnliche Umstände objektiver Natur“ hervorgerufen, unter denen die Staatsgewalt die Änderung des Wahlrechts mit der Notwendigkeit des Abwägens zweier Werte begründen könnte: dem Nutzen einer termingerechten Durchführung der Wahlen und der Gesundheit der Wähler, die durch eine Briefwahl fraglos besser geschützt wären als im Falle einer Präsenzwahl.

Besonderes Gewicht hat im neuen Kontext die Aussage des Verfassungsgerichts zu Schutz und Sicherung, welche nicht zur Zerstörung von grundlegenden Werten der öffentlichen Ordnung führen dürften. Diese Aussage lässt sich auf zwei Arten deuten. Erstens so, dass die öffentliche Ordnung die Einhaltung des Wahlkalenders selbst um den Preis prozeduraler Änderungen im Wahlprozess ohne Wahrung der sechsmonatigen vacatio legis erfordert, weil die zeitliche Begrenzung der Organe, die in der Verfassung festgelegten Amtszeiten und die termingerechte Durchführung von Wahlen zu den Fundamenten der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung gehören. Zweitens aber auch so, dass eine Regierungsgewalt, die nicht als Selbstzweck existiert, in ihren Entscheidungen zum Schutz und zur Sicherung von Werten dem Gefühl von öffentlicher Ordnung der Gemeinschaft zu folgen hat, deren Mitglieder ihren Willen durch Wahlen kundtun. Entscheidungen zum Wahlverfahren sollten mit diesem Gefühl von Ordnung korrespondieren – und damit auch dem Empfinden, inwieweit diese Ordnung verletzt wird.

Diese letztere Lesart würde signalisieren, dass es Bedarf gibt, die durch das Corona-Virus hervorgerufene Situation in Polen breiter und umfassend zu betrachten. Es müsste festgestellt werden, ob man weiterhin vom Fortbestand des Gefühls von öffentlicher Ordnung in seiner bisherigen Gestalt sprechen kann und somit die Entscheidung über die Durchführung von Wahlen nach einem neuen Verfahren unter Verletzung der durch das Verfassungsgerichtsurteil von 2006 statuierten sechsmonatigen vacatio legis gerechtfertigt wäre oder ob die öffentliche Ordnung so sehr erschüttert wurde, dass man auf Grundlage der Verfassung zu einer ganz anderen Einschätzung gelangen muss, nämlich zu der, dass die gegebene Situation die Kriterien für die Ausrufung des Notstands erfüllt.

Das konstitutionelle Problem bei der Einstufung des Epidemiezustands

Die juristische Kritik am Beharren der PiS auf dem 10. Mai als Wahltermin stützt sich vorwiegend auf die letztgenannte Lesart. Ewa Łętowska – Richterin a.D. am Verfassungsgericht und am Obersten Verwaltungsgericht – nannte die Situation in Polen in Bezug auf das Corona-Sondergesetz kürzlich einen „de facto andauernden Notstand“.[29] Zweifellos ist die Lage in Polen ebenso wenig normal wie in den meisten europäischen Ländern. Die Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungs­freiheit, die Schließung von Betrieben, Hochschulen, Schulen, Kindergärten, Geschäften und Kultureinrichtungen, die Entlassungen und Lohnkürzungen, die Reduzierung öffentlicher Abgaben, die Barrieren im Grenzverkehr oder das Verbot, öffentliche Räume wie Parks und Wälder zu betreten – das alles zeigt, dass viele zentrale Elemente des öffentlichen Lebens derzeit ausgesetzt sind, sowohl unter rechtlichem als auch unter sozialem Aspekt. Darüber hinaus waren am 6. April 2020 57 Prozent der erwachsenen Polen gegen die Durchführung von Wahlen am 10. Mai, selbst wenn diese ausschließlich als Briefwahl stattfinden sollten.[30]

Art. 228, Abs. 1 der Verfassung bestimmt, dass "in besonderen Gefahrensituationen, in denen die normalen konstitutionellen Mittel nicht ausreichen, ein entsprechender Notstand ausgerufen werden kann: der Kriegszustand (stan wojenny), der Ausnahmezustand (stan wyjątkowy) oder der Katastrophenzustand (stan klęski żywiołowej)."

Von diesen drei in Polen möglichen Notständen lässt sich der Kriegszustand sicher nicht auf die gegebene Situation anwenden. Der Ausnahmezustand kann verhängt werden „im Falle einer Gefährdung der verfassungsmäßigen Staatsordnung, der Sicherheit der Bürger oder der öffentlichen Ordnung“, der Katastrophenzustand indes „zur Vorbeugung vor den Folgen von Naturkatastrophen oder technischen Störungen mit Merkmalen einer Naturkatastrophe sowie zur deren Beseitigung“. In der aktuellen Lage ist sowohl eine Gefährdung der Sicherheit der Bürger (ihrer Gesundheit) als auch ein Naturereignis gegeben, das als Katastrophe klassifiziert werden kann und dessen Folgen beseitigt werden müssen. Am ehesten trifft wohl der Katastrophenzustand auf die in Polen herrschende Situation zu – diesen Standpunkt vertreten auch die meisten Experten, die sich zu dieser Frage äußern.[31] Viele Selbstverwaltungsorgane in Polen sind gegen die Durchführung von Wahlen in einer völlig anormalen Situation.[32] Viele Nichtregierungsorganisationen fordern die Ausrufung des Katastrophenzustands, darunter die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte.[33]

Die Ausrufung des Katastrophenzustands hätte eine Reihe von ernsten Konsequenzen. Erstens eine zeitliche Begrenzung: Ein Notstand kann nur für eine bestimmte Zeit erklärt werden (der Ausnahmezustand für 90 Tage, der Katastrophenzustand für 30 Tage, jeweils mit der – prozeduralen Beschränkungen unterliegenden – Möglichkeit zur Verlängerung). Zweitens eine Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative, was in einer Situation, in der der Vorsitzende der Regierungspartei nicht Premierminister, sondern einfacher Parlamentarier ist, durchaus von Relevanz ist. Drittens würde in diesem Fall der Katalog der Rechte und Freiheiten, die beschränkt werden können, von der Verfassung vorgegeben. Viertens eröffnet der Katastrophen­zustand Betroffenen die Möglichkeit, vom Staat in bestimmtem Umfang Entschädigungen für Vermögensschäden einzufordern, die sie durch die eingeführten Beschränkungen erlitten haben. Fünftens gehen nach einem Gesetz von 2002 über den Katastrophenzustand, das die Verfassungsregeln präzisiert,[34] mit der Verhängung des Katastrophenzustandes zahlreiche Kompetenzen auf die Organe der kommunalen Selbstverwaltung über, die dadurch die wichtigsten Akteure im Kampf gegen die Katastrophe würden, was einer gewissen Dezentralisierung des Staates entspräche, die der zentralistischen Regierungsphilosophie der PiS eindeutig zuwiderliefe.[35]

Am fundamentalsten sind im aktuellen Kontext aber wohl Art. 228 Abs. 6 und 7 der Verfassung, in denen es heißt:

6. Während des Notstands dürfen nicht geändert werden: die Verfassung, die Wahlordnungen für Sejm, Senat und die Organe der territorialen Selbstverwaltung, das Gesetz über die Wahl des Präsidenten der Republik Polen sowie die Notstandsgesetze.

7. Während des Notstands sowie in den 90 Tagen nach seiner Beendigung darf weder die Legislaturperiode des Sejms verkürzt noch ein landesweites Referendum durchgeführt werden, dürfen keine Wahlen zu Sejm, Senat und den Organen der territorialen Selbstverwaltung sowie zum Amt des Präsidenten der Republik Polen durchgeführt werden. Die Legislaturperioden und Amtszeiten dieser Organe werden entsprechend verlängert. […]

Die Ausrufung des Notstands würde also sowohl Änderungen im Wahlrecht als auch die Durchführung von Wahlen unmöglich machen. Sie bedeutete gleichzeitig die Verlängerung der Amtszeit von Präsident Duda um die Dauer des Notstands plus die 90 Tage, die zwischen Ende des Notstands und Wahltermin liegen müssen.

Die Regierung hat sich bisher nicht zur Ausrufung eines verfassungsmäßigen Notstands entschlossen. Statt dessen wurde mit einem einfachen Gesetz ein von der Verfassung nicht vorgesehener Epidemiezustand eingeführt; die Einschränkung einer Reihe grundlegender bürgerlicher Rechte und Freiheiten erfolgte durch Verordnungen, die auf diesem oder anderen Gesetzen basieren oder aber durch Entscheidungen, die nicht einmal den Status allgemeinverbindlicher Rechtsakte besitzen, etwa das von den Staatlichen Forstbetrieben verhängte Verbot, öffentliche Wälder zu betreten.[36]

Viele Fachleute sehen in all dem eine Schwächung der Verfassungsordnung. Das polnische Rechtssystem kennt durchaus (Art. 31, Abs. 3 der Verfassung) die Möglichkeit der Einschränkung konstitutioneller Freiheiten und Rechte per Gesetz, sofern dies zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder dem Schutz der Gesundheit notwendig ist. Doch die Verfassung führt gleich darauf die Institution des Notstands ein, um eine gleichzeitige und weitgehende Einschränkung mehrerer Rechte und Freiheiten auszuschließen bzw. dieser einen präzisen Rahmen zu geben und Missbrauch vorzubeugen. Es besteht zwar in keinem Fall eine verfassungsmäßige Pflicht zur Ausrufung des Notstands, doch die per einfaches Gesetz vollzogene Einführung der Institution des Epidemiezustands, der hinsichtlich der mit ihm einhergehenden Einschränkungen dem Notstand entspricht, kann als Ersetzung des Normalzustands unter Umgehung der von der Verfassung vorgesehenen Regeln angesehen werden.

Es gibt zahlreiche politikwissenschaftliche Analysen zu den möglichen Gründen, weshalb die PiS keinen Notstand ausrufen möchte, angefangen von der Sorge um einen eventuellen Rückgang der Unterstützung für Präsident Duda im Falle einer Wahlverschiebung bis hin zur Abneigung, regionale und kommunale Behörden vorübergehend mit besonderen Kompetenzen zu ermächtigen. In den ersten Apriltagen galt das größte Interesse der Frage, inwiefern materielle Verluste, die durch die Anwendung außergewöhnlicher Maßnahmen im Katastrophenzustand erlitten wurden, entschädigt werden können. Jarosław Gowin sagte, der Staat könne es sich aus finanziellen Gründen nicht erlauben, den Katastrophenzustand zu verhängen, weil ihn die zu erwartenden Entschädigungen für ausländische Konzerne in den Ruin treiben würden.[37] Dieser Deutung widerspricht Ewa Łętowska:[38] Anders als in der derzeitigen Situation, in der kein Notstand erklärt wurde, sei im Katastrophenzustand die Möglichkeit von Entschädigungsforderungen begrenzt. Im Normalzustand hingegen seien unbegrenzte Entschädigungsforderungen möglich, das heißt auch hinsichtlich ausbleibender Gewinne, sofern der Schaden durch einen unrechtmäßigen Akt der öffentlichen Gewalt verursacht wurde. Łętowska betont, die Entschädigungen im Falle des Katastrophenzustands seien „weder als Entschädigung für Geschäftsverluste gedacht“ noch als Kompensation von direkt durch die Epidemie verursachten Verlusten. Zugleich schränkt sie aber ein, dass die Entschädigungsregelung aus dem Jahr 2002 „vage formuliert und dadurch konfliktträchtig“[39] sei – sicher habe niemand erwartet, dass man sie eines Tages in der Praxis würde anwenden müssen.

Vizepremier Gowin argumentierte mit der Frage der Entschädigungen für den Verzicht auf die Ausrufung des Notstands und schlug stattdessen eine alternative Lösung vor: die Verfassungsänderung und die Verlängerung der Amtszeit des (amtierenden und aller künftigen) Präsidenten um zwei Jahre. Das weckt dieselben verfassungsrechtlichen Zweifel wie die Änderung des Wahlrechts: Wenn man annimmt, dass in Polen de facto Notstand herrscht, dann ist gemäß Art. 228 Abs. 6 der Verfassung eine Verfassungsänderung nicht zulässig. Unabhängig davon fand Gowins Idee in der PiS keine Unterstützung. Den anschließend eingebrachten Vorschlag, die Wahl nur um drei Monate zu verschieben, machte Gowin zur Bedingung für seine Zustimmung zur gesetzlichen Einführung der Briefwahl für alle. Weil die PiS auch darauf nicht einging, erklärte Gowin am 6. April seinen Rücktritt als Vizepremier und Minister für Wissenschaft und Hochschulwesen – für dessen höchst kontroverse, aber inzwischen in vollem Gange befindliche Reform er jahrelang mit seinem Namen stand. Der Rückzug der von Gowin angeführten Parlamentariergruppe aus dem Regierungsbündnis würde für die PiS den Verlust der absoluten Mehrheit im Sejm bedeuten. Obwohl Gowin erklärte, seine Gruppierung werde die PiS weiter unterstützen, um eine Pattsituation im Sejm und vorgezogene Neuwahlen zu verhindern, bedeutet sein Ausscheiden aus der Regierung gleichwohl eine leichte tektonische Verschiebung in Polens Politik. Zumindest schien es so, bis am späten Abend des 6. April der Sejm mit den Stimmen von PiS und Gowins Gruppierung, allerdings ohne dessen persönliche Beteiligung, endgültig die Korrektur des Gesetzes zur Einführung der ausschließlichen Briefwahl in beiden Präsidentschaftswahlgängen verabschiedete. Am Vormittag des 6. April war das Gesetz mit 228:228 Stimmen bei drei Enthaltungen im Sejm durchgefallen, ein Abgeordneter hatte an der Abstimmung nicht teilgenommen. Dieser Abgeordnete berief sich auf einen Fehler im Fernabstimmungssystem, was zu einer erneuten Abstimmung über die Korrektur führte. Diesmal stimmten 230 Abgeordnete mit Ja, 226 mit Nein, zwei enthielten sich der Stimme. Jetzt ist das Gesetz im Senat, wo die PiS keine Mehrheit hat. Der Senat hat jetzt für die Stellungnahme 30 Tage Zeit, dann kommt das Gesetz zurück in den Sejm, der die entscheidende Stimme hat. Eine maximale Beratungszeit im Senat bedeutete also, dass die Wahl nicht am 10. Mai stattfinden könnte, weil das neue Wahlgesetz noch nicht in Kraft wäre. In einem solchen Fall kann jedoch der Wahltermin innerhalb des von der Verfassung bestimmten Zeitfensters von der Sejmmarschallin verschoben werden. Am 6. April wurden die entsprechenden Vorschriften novelliert. Damit erhielt sie die Möglichkeit, während des Epidemiezustands den früher angekündigten Wahltermin zu ändern.[40]

Unter der Annahme, dass der Epidemiezustand in den nächsten Tagen nicht aufgehoben wird, steuert Polen also auf Präsidentschaftswahlen unter den Bedingungen einer Epidemie zu. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński behauptet, es gebe keinen Anlass zur Ausrufung des Notstands. Zudem betonte er bis vor kurzem, die Wahlen dienten der „Konsolidierung“ – gewiss des Staates und genauer gesagt der Herrschaft der regierenden Partei.[41] Dies ist ein weiteres Beispiel für die praktische Anwendung der Staats- und Rechtsphilosophie der PiS. Die Einheit und Homogenität der Regierung, die in der Praxis als zentralisierte Kontrolle auftritt, versteht sie als Ausdruck der Eigenständigkeit des Volkes als Souverän und des Staates in Gestalt der Institutionen, die diese Souveränität verkörpern.[42]

Weitere Probleme mit den Wahlen

Die Organisation von Wahlen bringt weitere rechtliche Probleme mit sich. Nicht alle hängen unmittelbar mit der Pandemie zusammen, manche resultieren auch unmittelbar aus den seit 2015 in Polen durchgeführten Reformen.[43]

Ein Beispiel: Die Staatliche Wahlkommission (Państwowa Komisja Wyborcza, PKW) als Kontrollorgan besaß seit ihrer Gründung den Charakter eines quasi-richterlichen Organs. Ihre neun Mitglieder wurden von den drei wichtigsten polnischen Gerichten abgeordnet: dem Obersten Gericht, dem Verfassungsgericht und dem Obersten Verwaltungsgericht. Das sollte die Unparteilichkeit und politische Unabhängigkeit der Kommission garantieren. Gegen den Widerspruch der Opposition beschloss die PiS eine Änderung der Zusammensetzung der Wahlkommission: Derzeit ist der Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts nicht mehr Mitglied der Kommission und sieben von neun Mitglieder der Staatlichen Wahlkommission werden vom Parlament gewählt. Die Kandidaten müssen zwar über die juristische Qualifikation zur Ausübung des Richteramts verfügen, aber sie müssen keine Richter sein und erhalten ihren Sitz in der Kommission als Nominierte der politischen Parteien. Diese Änderung ist ein weiterer Beleg für das Bestreben der PiS, den unabhängigen Einfluss der Richterschaft auf den Lauf der Dinge im Land zu minimieren. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, die nach den Abstimmungen des Sejm am 6. April mit großer Wahrscheinlichkeit stattfinden werden, werden die ersten sein, in der sich die Staatliche Wahlkommission in ihrer neuen Besetzung bewähren muss. Die Wahlkommission hat zwar am 9. April alle Behörden aufgerufen zur "Zusammenarbeit in Fragen der Organisation und Durchführung von Wahlen, wobei sowohl die Gesundheit und das Leben der Wähler als auch das Wohl der Republik Polen zu berücksichtigen sind, und folglich Entscheidungen zu treffen, die die Möglichkeit der tatsächlichen Umsetzung der verfassungsmäßigen Wahlrechte der Bürger gewährleisten."[44]

Ob unter den aktuellen Umständen eine Briefwahl alle diese Bedingungen erfüllen würde, ist höchst fraglich; es scheint aber das wahrscheinlichste Szenario zu sein. Es gibt also nicht nur ein neues Verfahren, sondern auch ein neues Kontrollorgan, das stärker unter politischem Einfluss steht, als dies früher der Fall war. Und im Parlament treibt die PiS als Mehrheitsfraktion weitere Veränderungen voran, nach denen die Wahlkommission neue Kompetenzen erhalten soll. Sie soll in einigen Bereichen eigenständige Entscheidungen treffen können, die bislang der gesetzlichen Regelung bedurften.[45]

Ein anderes Problem betrifft die Rolle der Kammer für Außerordentliche Kontrolle und Öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts[46] und die Frage, inwiefern sie von dem angekündigten Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Disziplinarkammer des Obersten Gerichts betroffen sein wird. Die Einwände, welche die Europäische Kommission in ihrer Beschwerde gegen Polen im laufenden Verfahren der Disziplinarkammer vor dem Europäischen Gerichtshof vorgebracht hat, gelten fast in vollem Umfang auch für die Kammer für Außerordentliche Kontrolle. Am 8. April hat der Europäische Gerichtshof auf Antrag der Kommission eine einstweilige Anordnung erlassen, dass Polen die Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der Disziplinarkammer für Disziplinarsachen gegen Richter unverzüglich auszusetzen hat.[47] Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass die Klage wegen der „fehlenden Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage erscheint“[48]. Die Kammer für Außerordentliche Kontrolle ist aber von diesem Urteil nicht betroffen.

Wenn trotz alledem die Präsidentschaftswahlen am 10. Mai durchgeführt werden, dann könnte dies dazu führen, dass es Gründe gibt, ihre Gültigkeit anzufechten, denn eben diese Kammer wird über die Gültigkeit von Wahlen befinden. Wenn sie nicht den EU-Anforderungen an Gerichte genügt, dann sind ihre Urteile ungültig. Was wären die Konsequenzen in Hinblick auf die Gültigkeit der Wahlen und die Legitimation des neu gewählten Präsidenten?

Die Kumulation von Neuerungen, juristischen Zweifeln und politischen Scharmützeln in der durch die Pandemie hervorgerufenen Krisensituation ist in Polen präzedenzlos. Die Aufmerksamkeit der europäischen und weltweiten Öffentlichkeit konzentriert sich heute auf den Kampf gegen das Corona-Virus, für Fragen der Rechtsstaatlichkeit ist nur wenig Raum. Mehr noch, die Pandemie bewirkte eine entschiedene Stärkung der Rolle des Nationalstaats als letzte Entscheidungsinstanz über das Leben und die Gesundheit der Bürger. Die Staaten versuchen nicht nur jeder auf seine Weise, die Krise zu bewältigen, sondern auch jeder für sich, denn Isolation ist einer der grundlegenden Abwehrmechanismen. In dieser Situation kann leicht übersehen werden, was jenseits der eigenen Grenzen geschieht, zumal wenn es nicht unmittelbar mit der gemeinsamen Bedrohung zusammenhängt. Umso mehr Wachsamkeit ist aber erforderlich, denn die Pandemie – so glauben wir alle – wird vorübergehen, während die während ihrer Dauer etablierten Standards, Gepflogenheiten und Normen – auch die zweifelhaften, ad hoc geschaffenen, undurchdachten und kurzfristigen Interessen dienenden – bleiben werden.

Manuskript abgeschlossen am 16.4.2020

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Duisburg

 

 


[1]   Democracy Index 2019. The Economist, <www.eiu.com/topic/democracy-index>.

[2]   Marta Bucholc, Maciej Komornik: Finaler Akt. Die Unterwerfung der polnischen Justiz, in: OE, 12/2019, S. 23–37. – Dies.: Gewaltenteilung ausgehebelt. Der Umbau der polnischen Justiz 2017, in: OE, 3–5/2018, S. 7–18. – Dies.: Die PiS und das Recht. Verfassungskrise und polnische Rechtskultur, in: OE, 1–2/2016, S. 79–93.

[3]   Duda kontra Kidawa-Błońska. W drugiej turze niemal remis. Dziennik, 19.1.2020.

[4]   Andrzej Duda rozpoczął kampanię. „Najważniejszym celem ‒ żeby Polakom żyło się lepiej“. RMF 24, 15.2.2020,. ‒ Dziennik Ustaw. Rzeczypospolitej Polskiej, 5.2.2020,  <http://prawo.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20200000184/O/D20200184.pdf>.

[5]   Takiej różnicy jeszcze nie było. Duda miażdży Kidawę-Błońską . Dziennik.pl, 19.3.2020.

[6]   Kidawa-Błońska wzywa do bojkotu wyborów prezydenskich. Gazeta Prawna.pl, 29.3.2020.

[7]   <http://prawo.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20200000374/T/D20200374L.pdf>.

[8]   Dz.U. z 2019 r. poz. 1239 ze zm.

[9]   Specustawa na wypadek epidemii. Łętowska: Samowola i opresja pod szyldem ochrony zdrowia. Wyborcza.pl, 2.3.2020, <https://wyborcza.pl/7,75398,25750695,specustawa-na-wypadek-epidemii.html>. ‒ Prof. Zajadło: Trzy grzechy specustawy dotyczącej koronawirusa. OKO.press, 4.3.2020, <https://oko.press/prof-zajadlo-trzy-grzechy-specustawy-dotyczacej-koronawirusa/>. ‒ Prof. Ewa Łętowska: Ustawa o koronawirusie narusza konstytucję. Nadaje się do kosza. Wyborsza.pl, 4.3.2020, <https://wyborcza.pl/7,75398,25755535,prof-ewa-letowska-ustawa-o-koronawirusie-narusza-konstytucje.html>.

[10] <http://dziennikustaw.gov.pl/DU/2020/491>.

[11] Koronawirus w Polsce: Nałożono już ponad milion zł kary za łamanie przepisów. TVP.info, 7.4.2020, <www.tvp.info/47467002/koronawirus-w-polsce-nalozono-juz-ponad-milion-zl-kary-za-lamanie-przepisow>.

[12] <www.worldometers.info/coronavirus/#countries>.

[13]  Jarosław Gowin: możemy rozważyć całkowite zamknięcie granicy. Polskie Radio. 12.3.2020, <www.polskieradio.pl/7/129/Artykul/2471945,Jaroslaw-Gowin-mozemy-rozwazyc-calkowite-zamkniecie-granicy>.

[14] „Polska przykładem dla innych państw“. PolskieRadio24.pl, 17.3.2020, <https://polskieradio24.pl/130/5925/Artykul/2475134,Polska-przykladem-dla-innych-panstw-Mariusz-Ciarka-o-sposobach-walki-z-koronawirusem>. ‒ Jarosław Kaczyński: epidemia unaoczniła słaboćś Unii Europejskiej. Niezależna.pl, 14.4.2020, <https://niezalezna.pl/323053-jaroslaw-kaczynski-dla-gazety-polskiej-epidemia-unaocznila-slabosc-unii-europejskiej>.

[15] Rajdowcy z Białegostoku promują miasto w Maroku. Radio Białystok, 26.12020.

[16] „Jeżeli są warunki, by chodzić do sklepu, to są warunki, by pójść do lokalu wyborszego“, tvn24.pl, 30.3.2020.

[17] Tylko 12 procent chce wyborów w maju. Rzeczpospolita, 20.3.2020.

[18] Dziennik Ustaw 2020poz. 567.

[19] PiS wygrywa w każdej grupie wiekowej. Rzeczpospolita, 13.10.2020.

[20] Jarosław Gowin chce przełożenia wyborów prezydenskich o rok. Ma w tym pomoć „jednorazowa zmiana konstytucji. Polska, 31.3.2020.

[21] <http://orka.sejm.gov.pl/Druki9ka.nsf/0/1E88BEBC6239E4C0C125853C0056A47F/%24
File/314.pdf>.

[22] <http://orka.sejm.gov.pl/Druki9ka.nsf/0/DF0794A4E15A0007C125853F00510DA0/%24 File/314-A.pdf>.

[23] Sejm rozpoczął obrady. Posłowie opozycji zgłaszali problemy z testowym głosowaniem zdalnym, nie mogli zalogować się do systemu. polskatimes.pl, 27.3.2020.

[24] “Umożliwia kupowanie głosów“. Tak politycy PiS niedawno krytykowali głosowanie korespondencyjne. wiadomosci.gazeta.pl, 28.3.2020.

[25] <www.polityka.pl/tygodnikpolityka/nauka/1946594,1,jak-dlugo-koronawirus-potrafi-przetrwac-poza-ustrojem-nowe-badania.read> źródło naukowe:     <www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMc2004973?query=featured_home>.

[26] Sygn. akt K 31/06, ust. 6.5, S. 30–31.

[27] Art. II, 2, b. <https://rm.coe.int/090000168092af01>.

[28] Ebd., S. 31.

[29] <https://oko.press/prof-letowska-to-blef-ze-groza-gigantyczne-odszkodowania/>.

[30] <www.gazetaprawna.pl/artykuly/1467012,wybory-prezydenckie-2020-kiedy-koronawirus.html>.

[31] So etwa die Verfassungsrechtler Ryszard Piotrowski <www.prawo.pl/samorzad/ zmiana-terminu-wyborow-wg-prof-piotrowskiego-trzeba-wprowadzic,498718.html>; Piotr Tuleja <www.rp.pl/Opinie/304159967-Prof-Piotr-Tuleja-Walka-z-wirusem-czy-stan-kleski-Falszywy-dylemat.html>. – Adam Bodnar <www.rpo.gov.pl/pl/content/koronawirus-i-ustawa-o-stanie-kl%C4%99ski-%C5%BCywio%C5%82owej-adam-bodnar-by%C5%82-go%C5%9Bciem-programu-kropka-nad-i-tvn24>.

[32] <www.rmf24.pl/raporty/raport-wybory-prezydenckie2020/najnowsze-fakty/news-mocny-glos-samorzadow-ws-wyborow-10-maja-nie-mozna-narazac-z,nId,4411403>.

[33] <www.hfhr.pl/en/polish-ngos-call-on-council-of-ministers-to-introduce-state-of-emergency/>.

[34] <http://prawo.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/WDU20020620558/U/D20020558Lj.pdf>.

[35] <https://oko.press/prof-letowska-dyskusja-o-wyborach>.

[36] <https://polskatimes.pl/lasy-panstwowe-na-polecenie-premiera-wprowadzaja-tymczasowy-zakaz-wstepu-do-lasu-od-3-do-11-kwietnia/ar/c1-14898421>.

[37] <www.tokfm.pl/Tokfm/7,103087,25847753,gowin-tlumaczy-dlaczego-nie-ma-stanu-kleski-zywiolowej-budzet.html>.

[38] <https://oko.press/prof-letowska-to-blef-ze-groza-gigantyczne-odszkodowania/>.

[39] Ebd.

[40] Art. 20 Abs. 2 des Gesetzes vom 6. April 2020,  <http://orka.sejm.gov.pl/proc9.nsf/ustawy/328_u.htm>.

[41] <www.polskieradio.pl/7/129/Artykul/2486063,Jaroslaw-Kaczynski-odlozenie-wyborow-byloby-sprzeczne-z-konstytucja-nielegalne>.

[42] Bucholc, Komornik, Die PiS und das Recht [Fn. 2].

[43] Marta Bucholc, Maciej Komornik: Die Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Justiz in Polen, in: Polen-Analysen, 248/2019, S. 2–7, <www.laender-analysen.de/polen-analysen/248/die-lage-der-rechtsstaatlichkeit-und-der-justiz-in-polen/>.

[44] <https://pkw.gov.pl/aktualnosci/informacje/informacja-panstwowej-komisji-wyborczej-z-dnia-9-kwietnia-2020-r>.

[45] Kommentar von Prof. Anny Rakowska-Trela zur Art. 7 des Entwurfs des Gesetzes über die Wahlrechtsänderung, <www.tokfm.pl/Tokfm/7,103087,25835594,pis-chce-glosowania-korespondecyjnego-dla-wszystkich-profesor.html>.

[46] Bucholc, Komornik, Finaler Akt [Fn. 2].

[47] <https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-04/cp200047de.pdf>.

[48] Ebd.

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