Ungarns autoritärer Notstandsstaat
Machtergreifung durch Pandemiebekämpfung
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Abstract
Das Orbán-Regime in Ungarn hat die Sars-CoV-2-Epidemie genutzt, um die autoritäre Daumenschraube weiter zu drehen. Mit einem verfassungswidrigen Ermächtigungsgesetz hat sie jede parlamentarische und gerichtliche Kontrolle für die Dauer des Notstands außer Kraft gesetzt. Aufgehoben werden kann der Notstand nur mit einer Mehrheit, für die es eines Winks des Regimes bedarf. Doch auch wenn das Ermächtigungsgesetz außer Kraft gesetzt ist, wird Ungarn wieder ein Stück undemokratischer geworden sein. Denn die Regierung nutzt die Pandemiebekämpfung zur Oppositionsbekämpfung. Insbesondere den Kommunen, wo im Herbst 2019 erstmals seit langer Zeit Oppositionsparteien den Bürgermeister stellen – allen voran Budapest –, schneidet das Regime die Finanzierung ab.
(Osteuropa 3-4/2020, S. 3348)
Volltext
Fast alle europäischen Staaten haben zur Bekämpfung der Sars-CoV-2-Epidemie Maßnahmen ergriffen, die tief in die Grundrechte eingreifen. Ob in Portugal oder in Dänemark, in Rumänien oder in Großbritannien – überall hat die Exekutive die Macht in ihren Händen konzentriert. Doch es gibt einen Staat, in dem die Regierung noch viel weiter ging: Ungarn.
Drei Dinge unterscheiden das Vorgehen des bereits seit seinem Machtantritt 2010 immer autoritärer agierende Orbán-Regime von dem aller anderen europäischen Staaten: Das Parlament hat mit der Zweidrittelmehrheit der seit zehn Jahren regierenden Partei Fidesz am 20. März ein „Ermächtigungsgesetz“ verabschiedet, mit dem es seine Kontrollfunktionen praktisch aufgegeben hat – und dies ohne zeitliche Befristung; sollte das Orbán-Regime diese Machtergreifung nicht bald selbst rückgängig machen, hat sich Ungarn in eine Diktatur verwandelt.
Darüber hinaus nutzte das Regime die Pandemie für ihre bereits zuvor verfolgten ideologischen Ziele. Es stellte bewusst die Schließung der Grenzen zum Zwecke der Eindämmung der Epidemie in einen argumentativen Zusammenhang mit der Verteidigung der Grenzen gegen eine angebliche Gefahr, die von Flüchtlingen und Migranten ausgehe. So instrumentalisierte das Regime die Krise, um sein Konzept einer geschlossenen, ethnisch homogenen Gesellschaft und eines souveränen Nationalstaats ohne einengende Bindung an europäisches Recht zu propagieren. Ebenso nutzte die Regierung die Pandemie, um die Opposition in noch stärkerem Maße als bereits zuvor als Verräter zu stigmatisieren, die mit ihrer Kritik an dem Ermächtigungsgesetz eine existentielle Bedrohung für die von der Pandemie bedrohte ungarische Volksgemeinschaft darstellen würden.
Ein drittes Spezifikum des ungarischen Vorgehens berührt nicht den Charakter der politischen Ordnung, fällt jedoch gleichwohl auf: Während das Regime wie in keinem anderen Staat der Europäischen Union die Macht an der Spitze der Exekutive konzentrierte und zugleich die Pandemie für seine populistische Propaganda von Feindbildern nutzte, sind die Maßnahmen, die die Regierung zur Abfederung der ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemiebekämpfung beschlossen hat, äußerst zurückhaltend.
Krisenmanagement als Machtergreifung
Die Pandemiebekämpfung und ihre Instrumentalisierung zur Aushebelung der Verfassung verliefen in vier Phasen. Zunächst agierte die Regierung im Rahmen des geltenden und üblichen Rechts, Mitte März rief sie dann eine „Gefahrenlage“ aus, die ihr – ebenfalls noch von der Verfassung gedeckt – besondere Kompetenzen verleiht. In einer kurzen Phase Ende März galten nach dem bewusst herbeigeführten Auslaufen des Notstands die zuvor in diesem Rahmen verabschiedeten Erlasse nur noch auf der Basis einer Amtsanweisung des Leiters der staatlichen Gesundheitsbehörde. Dieser verfassungswidrige Zustand wurde durch das Inkrafttreten eines am Vortag verabschiedeten Ermächtigungsgesetzes am 31. März nicht aufgehoben, sondern auf Dauer gestellt.
Bis zum 11. März agierte die Regierung im Rahmen der – in den Jahren zuvor immer stärker auf die Regierung zugeschnittenen – politisch-konstitutionellen Ordnung. Zur Koordinierung aller Maßnahmen der Pandemiebekämpfung gründete sie lediglich am 31. Januar 2020 eine „Operative Gruppe“ unter Vorsitz von Innenminister Sándor Pintér.[1] Ihre täglichen Pressekonferenzen finden seit dem 20. März nur noch als Fernseh- und Internetübertragung statt. Journalisten können Fragen nur noch vorab per E-Mail einreichen.[2]
Die ersten beiden laborbestätigten Infektionen mit dem Sars-CoV-2 in Ungarn wurden am 4. März gemeldet.[3] Es handelte sich um zwei iranische Studenten. Obwohl die beiden Studenten Aufenthaltsgenehmigungen hatten und das Orbán-Regime seit 2010 eine proiranische Politik betreibt,[4] beeilten sich regierungsnahe Medien augenblicklich, illegale Migration als Ursache der Pandemie darzustellen.[5]
Eine zweite Phase der Epidemiebekämpfung begann, als die Regierung am 11. März nach Artikel 53 des ungarischen Grundgesetzes eine „Gefahrenlage“ ausrief.[6] Damit war sie nicht mehr an die bestehenden Gesetze und die üblichen Vorschriften der Haushaltsplanung und -verwaltung gebunden, sondern konnte gemäß den Regelungen des Katastrophenschutzgesetzes[7] die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit begrenzen, und die Kontrolle der Verwaltungsgerichte über ihre Tätigkeit einschränken oder gar ausschalten. Einen solchen Notstand kann die Regierung gemäß Verfassung für 15 Tage ausrufen. Danach ist nur das Parlament befugt, den Notstand zu verlängern. Alle Verordnungen, die die Regierung in dieser Zeit erlassen hat, müssen vom Parlament nachträglich als Gesetz verabschiedet werden, andernfalls verlieren sie ihre Gültigkeit. Zeitgleich mit der Ausrufung der „Gefahrenlage“ führte die Regierung Kontrollen an den Grenzen zu Österreich und Slowenien – den Transitländern für Reisende aus Italien – und erließ ein Einreiseverbot für alle Personen nichtungarischer Staatsbürgerschaft, die von einem Ort in China, Italien, Iran und Südkorea nach Ungarn zu kommen beabsichtigten.[8]
Am 26. März lief der von der Regierung verhängte Notstand aus. Da der regierende Fidesz über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt und die Oppositionsparteien überdies ihre Bereitschaft signalisiert hatten, den Notstand bis Ende Juni zu verlängern, bestand kein politischer Handlungsbedarf.[9] Doch am 20. März präsentierte die Regierung einen Entwurf für ein Gesetz, das es ihr erlauben sollte, nahezu ohne zeitliche und inhaltliche Beschränkung per Dekret zu regieren und die Kontrolle der Regierung durch das Parlament und die Gerichte fast vollständig zu suspendieren.[10] In einer dem Gesetzesentwurf beigefügten Erklärung hieß es, die Pandemie könne dazu führen, dass das Parlament nicht tagen könne. Daher sei eine zeitlich unbefristete Ausweitung der Befugnisse der Exekutive notwendig. Dass es sich um ein vorgeschobenes Argument handelte, zeigte sich bereits daran, dass der Gesetzesentwurf Regelungen zur Abhaltung von Videositzungen des Verfassungsgerichts enthält, während für den Fall eines parlamentarischen Versammlungsverbots keine entsprechenden Regelungen vorgesehen waren.
Die Regierung brachte den Gesetzesentwurf zunächst als dringliche Angelegenheit im Eilverfahren am 23. März in das Parlament ein. Da eine Änderung der Tagesordnung im Eilverfahren jedoch nur mit einer Vierfünftelmehrheit beschlossen werden kann, verfügte die Opposition über eine Sperrminorität, die es ihr jedoch nur ermöglichte, die Verabschiedung des Gesetzes hinauszuzögern. Schon eine Woche später, am 30. März, verabschiedete das Parlament das Gesetz mit der Zweidrittelmehrheit des Fidesz auf dem ordentlichen Weg.[11] Noch am gleichen Tag unterzeichnete Staatspräsident János Áder das Gesetz und es wurde im Amtsblatt veröffentlicht. Damit ist es seit dem 31. März in Kraft.
Inzwischen hatten alle Verordnungen, die die Regierung seit der Ausrufung der Gefahrenlage am 11. März unter dieser Notstandsordnung verabschiedet hatte, ihre Gültigkeit verloren. Die Regierung hätte die Verlängerung des am 26. März auslaufenden Notstands durch das Parlament beantragen können. Doch dies tat sie nicht, denn sie wollte der Opposition keine Möglichkeit geben, Kooperationsbereitschaft zu demonstrieren. Vielmehr wollte sie die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes als absolut dringlich erscheinen lassen und den Eindruck erwecken, nur dieses erlaube es Ungarn, den Gefahren der Pandemie zu begegnen. Um die Gültigkeit der in den drei Wochen zuvor erlassenen Verordnungen zu verlängern, ließ die Regierung den Leiter der staatlichen Gesundheitsbehörde eine amtliche Anweisung ausgeben, die all jene Beschlüsse enthielt, die in den drei Wochen zuvor per Regierungserlass getroffen worden waren.[12]
Die Bewertung dieser Übergangsphase vom 26. März bis zum 31. März ist umstritten. Die politisch argumentierenden Oppositionsparteien erklärten, die amtliche Anweisung des Leiters der Gesundheitsbehörde sei ein weiterer Beleg dafür, dass die Regierung auch ohne das Ermächtigungsgesetz über die Kompetenzen verfügte, um die Pandemie zu bekämpfen, dass es sich also um eine autoritäre Machtergreifung handle. Verfassungsrechtler hingegen betonten, dass das Vorgehen der Regierung in dieser Zwischenperiode ein eklatanter Verfassungsbruch gewesen sei, da der Leiter der staatlichen Gesundheitsbehörde in keiner Weise die rechtliche Befugnis habe, mit einer Amtsanweisung weitreichende Einschränkungen der Bürgerrechte einschließlich strafbewehrter Verbote zu verfügen.[13] Dies ist zwar richtig, jedoch kaum noch relevant, da das nun geltende Ermächtigungsgesetz ebenfalls eklatant gegen die ungarische Verfassung verstößt. Eine Überprüfung durch ein unabhängiges Verfassungsgericht würde dies zweifellos ergeben, doch ein solches Verfassungsgericht gibt es in Ungarn schon seit vielen Jahren nicht mehr.[14] Die verfassungswidrige Übergangsphase zwischen dem 26. und dem 31. März war daher nur ein Auftakt zu dem auf Dauer gestellten Verfassungsbruch des Ermächtigungsgesetzes.
Ungarns „Ermächtigungsgesetz“ – kein Notstandsgesetz wie jedes andere
Viele europäische Staaten haben im Frühjahr 2020 auf Notstandsgesetze zurückgegriffen, um der Exekutive zum Zwecke der Pandemiebekämpfung außergewöhnliche Kompetenzen, einschließlich der Einschränkung von Grundrechten, zu verleihen.[15] Doch der ungarische Fall ist singulär. Das am 31. März in Kraft getretene Ermächtigungsgesetz sieht vor, dass die Erlasse der Regierung in keiner Weise an das geltende Recht gebunden sind.[16] Das Verfassungsgericht soll seine Funktion zwar bewahren, doch es ist seit 2013 faktisch in der Hand der Regierungspartei. Wahlen und Nachwahlen sind ausgesetzt.
Solange der Notstand in Kraft ist, sind sämtliche Erlasse der Regierung von keiner Instanz anfechtbar. Zwar tagt das Parlament gegenwärtig weiter, aber das Gesetz ermöglicht eine Einstellung der parlamentarischen Arbeit. Die parlamentarische Kontrolle ist darauf reduziert, dass die Regierung die Vertreter der Fraktionen über die ergriffenen Maßnahmen informiert. Um das Ermächtigungsgesetz aufzuheben und das Regieren per Dekret zu beenden, würde das Parlament eine Zweidrittelmehrheit benötigen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass 67 Abgeordnete, die loyal zur Regierung stehen, die Aufhebung des Gesetzes durch das aus 199 Abgeordneten bestehende Parlament verhindern können. Darüber hinaus kann Staatspräsident János Áder, ein langjähriger Vertrauter Orbáns, einen solchen Beschluss des Parlaments zurückweisen.[17] Da Wahlen ausgesetzt sind, steht es faktisch alleine in der Verfügungsmacht von Regierungschef und Parteiführer Orbán zu entscheiden, ob er weiter per Dekret regieren will, oder ob es ihm opportun erscheint, das Gesetz mit der Zwei-Drittel-Mehrheit seiner ihm untergebenen Partei aufzuheben. Dies steht eindeutig in einem starken Kontrast zu der Notstandsregelung, wie sie die ungarische Verfassung vorsieht (Artikel 53 Abs. 1). Nach dieser muss das Parlament alle unter dem Notstandsregime erlassenen Verordnungen nach jeweils 15 Tagen bestätigen.
Zu all dem kommt hinzu, dass die Regierung bereits am 14. März eine vorübergehende Einstellung der Tätigkeit aller Gerichte angeordnet hatte.[18] Was zunächst noch als ‒ wenn auch extreme ‒ Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie betrachtet werden konnte, entpuppte sich spätestens mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes als gezielte Beseitigung der richterlichen Kontrolle des Regierungshandelns und weitere massive Schwächung des Rechtsstaats. Dies gilt umso mehr, als die Regierung nicht einmal erwog, in dringlichen Fällen Gerichte per Videokonferenz tagen zu lassen. Und wenn die ordentliche Gerichtsbarkeit lahmgelegt ist, können auch Richter nicht im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle Erlasse der Regierung dem Verfassungsgericht vorlegen.
Das Gesetz führte zudem zwei neue Straftatbestände in das Strafgesetzbuch ein. Mit Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren kann nun bestraft werden, wer „falsche Behauptungen über den Notstand in einer Weise aufstellt oder verbreitet, die eine größere Zahl von Menschen in Angst oder Unruhe versetzt.“ Gleiches gilt für Widerstand gegen Kontrollmaßnahmen, die zur Verhinderung der Verbreitung ansteckender Krankheiten ergriffen wurden. Das Regime in Ungarn schüchtert seit Jahren unabhängige Medien ein und schneidet ihnen die Luft ab. Mit dieser Bestimmung droht das Regime jedoch erstmals, mit den Mitteln des Strafrechts gegen kritische Berichterstattung vorzugehen.
Nach Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes verlängerte die Regierung per Erlass alle Dekrete, die sie unter dem Gesetz über Gefahrenlagen zwischen 11. und 26. März zur Bekämpfung der Pandemie erlassen hatte.[19]
Trotz der Möglichkeiten zum autoritären Durchregieren, die sich das Regime mit dem Ermächtigungsgesetz geschaffen hat, ist Viktor Orbán mit diesem ein großes Risiko eingegangen. Er hat viel zu verlieren und fast nichts zu gewinnen. Das politische System wurde in den vergangenen zehn Jahren auf ihn zugeschnitten und die Zweidrittelmehrheit seiner ihm ergebenen Partei verleiht ihm einen äußerst großen Handlungsspielraum. Eines der zentralen Erfolgsrezepte seines Regimes war es, dass es sich mit der Abhaltung von Wahlen einen demokratischen Anstrich gab, während es sich in Wirklichkeit seit langem um ein kompetitives autoritäres System handelt. Mit einem auf Dauer gestellten Ausnahmezustand nimmt das Regime seine demokratische Maske ab und zeigt sich als das, was es ist. Dies könnte dazu führen, dass das Regime in Ungarn Anhänger verliert und die Europäische Union entschiedener als bislang gegen die zahlreichen Verletzungen europäischer Verträge vorgeht.[20]
Will Orbán dies vermeiden, wird er das Ermächtigungsgesetz früher oder später aufheben – es sei denn, die Pandemiebekämpfung führt zu einem generellen Bedeutungsverlust der Europäischen Union und autoritäre Staatsmodelle gewinnen in Europa und vielen anderen Staaten der Welt immer mehr an Zuspruch. Dies würde den Interessen des ungarischen Regimes entgegenkommen, doch die Regierung wird kaum ernsthaft auf eine solche Entwicklung spekulieren.
Daher ging und geht es Viktor Orbán eher darum, die Situation für kurzfristige Ziele zu nutzen. So war der erste Versuch, das Ermächtigungsgesetz in einem – von der Sache her gar nicht notwendigen – Eilverfahren durch das Parlament zu bringen, wozu eine Vier-Fünftel-Mehrheit benötigt wurde, möglicherweise nur eine Finte. Das Ansinnen scheiterte wie erwartet, doch sein eigentlicher Zweck ist erfüllt: Das Regime verweist nun unter anderem auf die ablehnende Haltung der Opposition, die sich den unabdingbaren Schritten zur Pandemiebekämpfung entgegengestellt habe. Wichtige Schritte zum Schutz vor einer Sars-CoV-2-Infektion hätten angeblich nicht unternommen werden können. Dies ist nachweislich falsch und wird doch von den regierungsnahen Medien immer wieder behauptet.[21] Die Opposition wird nicht mehr nur im übertragenen Sinne als Volksfeind dargestellt, sondern ganz konkret als eine politische Kraft, deren politischer Egoismus die Gesundheit und das Leben jedes einzelnen Bürgers gefährde.
Man könnte dies als eine präventive Strategie betrachten. Das Orbán-Regime weiß, dass das ungarische Gesundheitssystem stark unterfinanziert ist und bei einem Ansteigen der Infektionszahlen rasch überlastet wäre. Jahrelange Versäumnisse lassen sich nicht in kurzer Zeit aufholen. Viel leichter war die rasche Vorab-Produktion eines Schuldigen.
Die Nagelprobe, bei der sich zeigen wird, wie weit das Regime zu gehen bereit ist, wird dann kommen, wenn alle übrigen europäischen Staaten die Pandemie für beendet erklären und die Notstandsverordnungen aufheben. Die Erfahrung der vergangenen zehn Jahre, in denen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn immer weiter eingeschränkt und die autoritäre Macht der Regierung immer weiter ausgebaut wurden, spricht dafür, dass selbst nach einer Aufhebung des Ermächtigungsgesetzes keine Rückkehr zu dem ohnehin äußerst problematischen Zustand vor den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung geben wird. Die exekutiven Kompetenzen werden dauerhaft ausgeweitet bleiben und die Konzentration aller Macht bei Viktor Orbán noch größer als vor der Covid-19-Krise.
Fortsetzung des politischen Kampfes in Zeiten der Epidemie
Selbst in Zeiten einer Krise, von der die Regierung behauptet, sie habe die temporäre Aufhebung der Verfassungsordnung notwendig gemacht, ist das Regime darauf bedacht, seine ideologischen Ziele voranzubringen. So brachte der stellvertretende Ministerpräsident Zsolt Semjén von der eng mit dem Fidesz verbundenen Keresztényde-mokrata Néppárt (Christdemokratische Volkspartei, KDNP) am Tag des Inkrafttretens des Ermächtigungsgesetzes einen Gesetzesentwurf in das Parlament ein, der eine behördliche Umregistrierung des Geschlechts untersagt. In amtlichen Dokumenten darf künftig nur noch das biologische Geschlecht bei Geburt – männlich oder weiblich ‒ eingetragen werden.[22] Der Kampf gegen die „LGBTQI-Ideologie“ darf auch von der weltweiten Corona-Epidemie nicht beeinträchtigt werden.
Doch auch jenseits des Ermächtigungsgesetzes schränkt das Regime unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung bzw. der Abfederung der ökonomischen Folgen den Spielraum politischer Konkurrenten ein. So strukturierte die Regierung den Haushalt neu, um einen Fonds zur Pandemiebekämpfung und einen Fonds zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu schaffen. In diesem Zuge wird die Parteienfinanzierung aus dem Staatshaushalt halbiert werden. [23] Oppositionsparteien entzieht dies die Arbeitsgrundlage. Insbesondere schränkt es massiv ihre Möglichkeit ein, im Jahr 2022 einen Wahlkampf zu führen. Der Fidesz hingegen ist kaum betroffen, da viele der üblichen Aufgaben einer Partei in seinem Falle von den staatlichen und regimenahen Medien oder auch den staatlichen Behörden übernommen werden. Zudem kann der Fidesz sich auf regimetreue Oligarchen verlassen.[24] Dass dies kein notwendiger Schritt in einer schwierigen Finanzlage war, zeigt sich daran, dass von den 663 Milliarden Forint (1,8 Milliarden Euro), die der Fonds zur Pandemiebekämpfung umfassen soll, nur ein winziger Bruchteil ‒ ganze 1,2 Milliarden Forint (3,3 Millionen Euro) ‒ durch die Halbierung der Parteienfinanzierung bereitgestellt werden können.
Zugleich setzte sich ein Vorgehen gegen die Opposition fort, das bereits vor der Pandemie Praxis war. Mitte April verhängte der ungarische Rechnungshof eine Strafe wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung gegen die Partei Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány.[25] Die Entscheidung des Rechnungshofes ist nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar. Der DK, die derzeit neben der liberalen Partei Momentum zu den führenden Kräften der Opposition gehört, droht der Entzug ihrer restlichen Haushaltsfinanzmittel für 2020. Seit Ende 2017 hat der Rechnungshof bereits mehrmals solche Strafen gegen Parteien der Opposition verhängt, das Finanzgebaren der Regierungspartei hingegen beanstandete er noch nie. Die Strafzahlung, die die rechtsradikale Oppositionspartei Jobbik Ende 2017 zu leisten hatte, brachte diese wenige Monate vor den Parlamentswahlen 2018 an den Rande des Bankrotts.[26]
Weiter geht die Regierung dort gegen die Opposition vor, wo diese vor einiger Zeit erstmals seit zehn Jahren gewisse Erfolge erzielen konnte: auf der Ebene der Kommunen. Seit den Kommunalwahlen im Herbst 2019, bei denen die Opposition in einigen Kommunen unerwartete Erfolge erzielte, sind die rechtlichen Kompetenzen und die steuerliche Finanzierungsbasis von Städten zu einem zentralen Schlachtfeld geworden. Vor allem die Hauptstadt Budapest, wo Mitte Oktober 2019 Gergely Karácsony vom Mitte-Links-Bündnis Párbeszéd-MSZP den Fidesz-Politiker István Tarlós als Oberbürgermeister abgelöst hat, ist umkämpft.
Einen ersten Versuch, den Einfluss der Städte zu beschneiden, startete der Leiter des Büros des Ministerpräsidenten am 31. März. Er legte einen Gesetzesentwurf vor, demzufolge während der Geltung des Gefahrenzustands alle Entscheidungen von Bürgermeistern der Zustimmung der kommunalen und regionalen Verteidigungskomitees bedürfen, die im Zusammenhang mit dem Notstand ins Leben gerufen wurden. Diese Komitees sind fest in die hierarchische Befehlskette der Exekutive eingebunden. Wäre dieser Entwurf angenommen worden, hätte dies eine totale Entmachtung aller Kommunen bedeutet. Dass es dazu nicht kam, lag an einigen politisch einflussreichen Bürgermeistern aus den Reihen des Fidesz, die gegen dieses Ansinnen protestierten.[27]
Der zweite Versuch der Regierung, Befugnisse der von der Opposition dominierten Lokalverwaltungen zu beschneiden, war ausgeklügelter. So ordnete die Regierung – angeblich zum Zwecke der Pandemiebekämpfung – an, dass das Parken auf öffentlichen Stellplätzen während der Gefahrenlage kostenfrei zu sein habe. Dies sorge für eine geringere Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Damit sind die meisten Stadtbezirke von Budapest einer ihrer wichtigsten Einnahmequellen beraubt. Zweitens ordnete die Regierung an, dass kommunale Steuern, zu denen in Ungarn auch die Kfz-Steuer gehört, in den zentralverwalteten Corona-Fonds einfließen müssen. Auch dies schwächt die Handlungsfähigkeit der Kommunen, die eine zentrale Rolle bei der Pandemiebekämpfung spielen und deren soziale Folgen aus ihren Kassen abfedern müssen. Kommunen, an deren Spitze ein Bürgermeister aus den Reihen des Fidesz steht, können auf informellem Weg ohne größere Probleme einen Ausgleich für die entgangenen Steuereinnahmen erhalten. Kommunen, in denen die Opposition im Herbst 2019 die Wahlen gewonnen hat, haben diese Mittel verloren.[28]
Ebenfalls eindeutig gegen die kommunale Selbstverwaltung richtet sich das Dekret, das die Regierung in der dritten Aprilwoche an einem späten Freitagabend erließ und sofort anwendete.[29] Es ermöglicht die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen. Die Entscheidungskompetenz über diese Gewerbegebiete wird der jeweiligen Kommune ebenso entzogen wie die dort anfallenden Gewerbesteuern. Bevollmächtigt sind alleine die Komitate – die im Unterschied zu den Kommunen nahezu ausschließlich in der Hand des Fidesz sind. Angewendet wurde das Dekret auf ein Gewerbegebiet in einer Gemarkung der Kleinstadt Göd nahe Budapest, wo der koreanische Konzern Samsung ein Batteriewerk betreibt, das er mit einer Investition von über eine Milliarde Euro ausbauen will.[30]
Weniger gegen die Kommunen, als gegen die freie Wirtschaft richtet sich ein Dekret vom 18. März, in dem die Regierung 140 Betriebe aus Schlüsselsektoren wie Energieversorgung, Transport, Telekommunikation und öffentliche Daseinsfürsorge unter Militärverwaltung stellte. Dies solle einen reibungslosen Ablauf aller Betriebsprozesse garantieren.[31] Am 28. März wurden auch die Krankenhäuser der Armee unterstellt.[32] Eine der besonders fragwürdigen Entscheidungen, die die Regierung in Zusammenhang mit der Militärverwaltung traf, betraf den börsennotierten Verpackungshersteller Kartonpack. Die Regierung entließ das gesamte Management und unterstellte das Unternehmen einem staatlichen Verwalter.[33] Die Behauptung der Regierung, es handele sich um ein systemrelevantes Unternehmen, ist fadenscheinig. Kartonpack liefert zwar Verpackungen nicht zuletzt auch an Pharmaunternehmen, doch das Unternehmen spielt, anders als die Regierung behauptet, keine wichtige Rolle für die Arzneimittelversorgung während der Pandemie.[34] Vieles spricht dafür, dass die Regierung die Gelegenheit nutzte, um alte Konflikte zwischen dem Staat und dem Unternehmen mit einem Schlag zu ihren Gunsten zu entscheiden.
Folgen hatte die Sonderverwaltung auch für zwei Krankenhäuser und deren Direktoren. Diese wurden von Gesundheitsminister Miklós Kásler versetzt, nachdem sie ihre Einrichtungen nicht, wie von der Regierung angeordnet, nahezu vollständig geräumt hatten, um Kapazitäten für potentielle Covid-19-Patienten vorzuhalten. Die Regierung hatte – bei einer Zahl von damals 1500 offiziell bestätigten Sars-CoV2-Infektionen ‒ verfügt, am 15. April müssten 36 000 Krankenhausbetten für Coronapatienten bereitstehen. Proteste gegen die Entscheidung, zu deren Umsetzung Tausende schwerkranke Patienten aus den Krankenhäusern nach Hause geschickt werden mussten, erstickte die Regierung mit der Zwangsversetzung, die abschreckende Wirkung entfaltete.[35]
Grenzkontrollen und Grenzschließung
Erste Reisebeschränkungen führte Ungarn am 9. März ein, als die Regierung die Flughafenbehörde in Budapest anwies, für Flüge aus Norditalien keine Landegenehmigung mehr zu erteilen. Am 11. März erfolgte nach Ausrufung des Gefahrenzustands mit Erlass 41/2020 eine Wiedereinführung von Kontrollen an den Grenzübergängen zu Österreich und Slowenien. Zu diesen gehörte auch ein Gesundheitscheck, dessen Sinnhaftigkeit jedoch wiederholt angezweifelt wurde.[36] Der Zug- und Busverkehr aus diesen Ländern wurde unterbrochen. Ein komplettes Einreiseverbot wurde für alle Personen nichtungarischer Staatsbürgerschaft erlassen, die von einem Ort in China, Italien, dem Iran und Südkorea nach Ungarn zu kommen beabsichtigten. Ungarische Staatsbürger, die aus diesen vier Ländern – den hotspots der Pandemie zu diesem Zeitpunkt – zurück nach Ungarn kamen, hatten sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen und sich in eine vierzehntägige Quarantäne zu begeben. Am 15. März wurde das Einreiseverbot auf Flugreisende aus Israel ausgeweitet, am 16. März verkündete Ministerpräsident Orbán, dass um Mitternacht eine vollständige Schließung der Grenze in Kraft treten werde. Dies führte dazu, dass Tausende rumänische und bulgarische Staatsbürger auf der Rückreise von ihrer Arbeitsstelle in Westeuropa in Österreich steckenblieben. Spontane Proteste der an einer Rückkehr in die Heimat gehinderten Arbeitsmigranten führten zu einer Blockade des Grenzübergangs Hegyeshalom, so dass ungarische Staatsbürger auf der Heimreise ebenfalls zeitweilig festsaßen.[37]
Erst nach Gesprächen zwischen dem ungarischen Außenminister Péter Szijjártó und seinen rumänischen und bulgarischen Amtskollegen Bogdan Aurescu und Ekaterina Zaharieva richtete Ungarn einen „humanitären Korridor“ ein und erlaubte eine Durchreise in der Nacht vom 17. auf den 18. März.[38] Am folgenden Tag musste die Regierung einsehen, dass die einmalige Genehmigung für Staatsbürger dieser beiden Länder das Problem nicht löst. Sie verlängerte daher die spezielle Durchreiseerlaubnis auf unbegrenzte Zeit und erweiterte sie auf ukrainische Staatsbürger.[39]
Die Bilanz der frühen und sehr weitreichenden Maßnahmen an den Grenzen ist eher gemischt. Die Regierung tat im Wesentlichen das, was die anderen ostmitteleuropäischen Regierungen zeitgleich und die meisten anderen europäischen Regierungen etwas später auch taten. In vielerlei Hinsicht handelte es sich aber um symbolische Maßnahmen, da zunächst weder die Gesundheitskontrollen an der Grenze noch die Quarantäne für die Heimkehrer aus Risikogebieten ernsthaft durchgesetzt wurden. In den ersten Tagen führte die Schließung der Grenze – ähnlich wie in Polen ‒ zu erheblichen Problemen beim Güterverkehr, der eigentlich von den Regelungen ausgenommen war.[40] Schwierigkeiten gab es auch für Personen aus den grenznahen Gebieten mit einer Arbeitsstelle in Österreich. Pendler sollten die Grenze zwar weiterhin überqueren dürfen, jedoch nur nach Vorlage eines schriftlichen Arbeitsvertrags. Über einen solchen verfügen jedoch viele in Österreich in der Landwirtschaft arbeitende Ungarn nicht.[41]
Die Regierung nutzte die Pandemiebekämpfung auch, um die ohnehin drakonische und völkerrechtswidrige Asylpolitik weiter zu verschärfen. Am 1. März – noch bevor die erste Sars-CoV-2-Infektion in Ungarn in einem Labortest bestätigt wurde, untersagte die Regierung jeden Eintritt in die sogenannte Transitzone auf der ungarischen Seite des Sperrzauns, den die Regierung in Budapest 2015 an der Grenze zu Serbien hatte errichten lassen. Zuvor war diese Transitzone der einzige Ort gewesen, an dem Asylsuchende einen entsprechenden Antrag hatten abgeben können. Nun ist es in Ungarn überhaupt nicht mehr möglich, Asyl zu beantragen. Die Behörden behaupteten, viele Asylbewerber – in der Sprache der ungarischen Regierung: illegale Migranten – kämen entweder aus dem Iran oder würden durch den Iran reisen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kritisierten den Schritt als nicht zweckdienlich und instrumentell. Tatsächlich waren zu diesem Zeitpunkt bereits Sars-CoV-2-Infektionen in Österreich bekannt, doch die Grenze wurde erst zwei Wochen später geschlossen – und ungarische Staatsbürger konnten selbstverständlich weiter einreisen. In Serbien war hingegen zum Zeitpunkt der vollständigen Aufhebung des Asylrechts keine einzige Infektion bekannt. Asylsuchende, die sich dort aufhielten und tatsächlich auf ihrer Flucht durch den Iran gekommen waren, mussten dies schon Monate vor dem Ausbruch der Pandemie in China getan haben, denn die Reise auf dem Landweg vom Iran bis an die serbisch-ungarische Grenze dauert für Flüchtende lange. Zudem muss jeder, der dort angekommen ist, Monate in Serbien warten, bevor er die Transitzone betreten darf und damit eine Chance auf Abgabe eines Asylantrags erhält.[42] Am 1. März befanden sich 321 Personen in der Transitzone. In den folgenden sieben Tagen forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg in drei Eilentscheiden die Regierung in Budapest dazu auf, diese Menschen in geregelter Weise mit Lebensmitteln zu versorgen.[43] Seit langem versuchen die ungarischen Behörden, durch Unterlassung der Lebensmittelversorgung Asylsuchende davon abzubringen, sich in die Transitzone zu begeben, um dort einen Asylantrag zu stellen.[44] Die Europäische Kommission bewertet die künstliche Lebensmittelverknappung zwar als klaren Verstoß gegen EU-Recht und hat im Juli 2019 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eröffnet,[45] doch es ist der Europäischen Union nicht gelungen, diese massive Menschenrechtsverletzung zu beenden. Der EGMR muss daher immer wieder in Einzelfällen entscheiden. Zwischen Oktober 2015 und April 2020 forderte er Ungarn bereits 24 Mal auf, die Menschen in der Transitzone mit Lebensmitteln zu versorgen.[46]
Beschränkungen der Wirtschaftstätigkeit und des Alltagslebens
Erste Beschränkungen der Wirtschaftstätigkeit verfügte die ungarische Regierung am 6. März, als sie den Export essentieller medizinischer Güter verbot. Am 7. März wurden die Feiern zum Nationalfeiertag am 15. März in Budapest abgesagt, kurz darauf auch in allen anderen Städten des Landes. Nach der Ausrufung der Gefahrenlage am 11. März wurden Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern in geschlossenen Räumen und mit mehr als 500 Teilnehmern unter freiem Himmel untersagt. Eine Schulschließung ordnete die Regierung hingegen zunächst nicht an. Vielmehr verbot sie in einem Erlass Schuldirektoren und lokalen Behörden, eine solche Entscheidung eigenständig zu treffen.[47] Noch am 13. März sprach sich Viktor Orbán am Vormittag in einem Radiointerview gegen eine Schulschließung aus. Da sich jedoch im Parlament alle Fraktionen – inklusive des Fidesz – für diesen Schritt aussprachen, ordnete die Regierung am Abend des gleichen Tages an, dass die Schulen ab dem darauffolgenden Montag (16. März) geschlossen bleiben.[48] Ungarn war damit zusammen mit Serbien das letzte Land in Ostmittel- und Südosteuropa, das die Schulen schloss.[49] Budapest und alle großen Städte des Landes schlossen ebenfalls zum 16. März die Krippen und Kindergärten, organisierten jedoch eine Notbetreuung für die Kinder von Eltern in „systemrelevanten“ Berufen.
Da die Regierung die Schulschließung als „Umstellung auf online-Unterricht“ bezeichnet hatte, wiesen mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen darauf hin, dass ein solcher in den rückständigen Regionen im Nordosten und Südwesten Ungarns gar nicht möglich sei, da es in vielen Familien keinen Computer oder Internetanschluss gibt und manche Haushalte nicht einmal an das Stromnetz angeschlossen sind. Zudem traf die Schulschließung benachteiligte Familien auch deswegen besonders hart, da die Schulspeisung für sie von großer Bedeutung ist.[50]
Am 16. März verfügte die Regierung auch die Schließung von Cafés, Restaurants, Theatern, Kinos sowie Bibliotheken und verbot alle Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, unabhängig von der Teilnehmerzahl. Ausnahmen gab es allerdings für religiöse Anlässe, also für Hochzeiten, heilige Messen und Beerdigungen. [51]
Am 21. März erließ die Regierung eine Ausgangssperre. Ausgenommen sind der Weg zur Arbeit, lebenswichtige Einkäufe, Arztbesuche und individuelle sportliche Betätigung. Die Kirchen wurden nicht geschlossen, seit dem 22. März werden jedoch Messen nicht mehr vor der Gemeinde abgehalten, sondern nur noch übertragen. Verstöße gegen die Ausgangssperre können mit Bußgeldern zwischen 5000 und 500 000 Forint (14‒1400 Euro) geahndet werden. Die zunächst für zwei Wochen verhängte Ausgangssperre wurde am 10. April auf unbefristete Zeit verlängert.[52] Zudem wurden die Einkaufszeiten in den weiterhin geöffneten Lebensmittelgeschäften für unterschiedliche Altersgruppen reglementiert. In den Vormittagsstunden von 9‒12 Uhr dürfen ausschließlich Personen über 65 Jahre einkaufen, die in Zusammenhang mit besonders schweren Verläufen von Covid-19 als Risikogruppe eingestuft wurden.
Wirtschaftliche Auswirkungen und Maßnahmen zu ihrer Dämpfung
Einige Ökonomen rechneten bereits Anfang April damit, dass die Pandemiebekämpfung zu einem Einbruch des ungarischen BIP um zehn Prozent führen werde.[53] Die Regierung arbeitet an der Umstrukturierung des Haushalts für das Jahr 2020 zum Zwecke der Schaffung eines Coronavirus-Verteidigungsfonds mit einem Finanzvolumen von 663 Milliarden Forint (1,8 Milliarden Euro) und eines Fonds zur Stimulierung der Wirtschaft in Höhe von 1,345 Billionen Forint (3,8 Milliarden Euro).[54] Um die Fonds zu speisen, nimmt die Regierung jedoch nicht in großem Umfang neue Schulden auf. Sie hält vielmehr an ihrer strikten Fiskalpolitik mit einer Neuverschuldung von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts fest, obwohl die Europäische Union dabei ist, von dieser jahrelang verfolgten Politik abzugehen und auf eine schuldenfinanzierte Wirtschaftsförderungspolitik zu setzen.[55]
Dieses Festhalten an der strengen Fiskalpolitik ist eher von politischen als von ökonomischen Erwägungen geprägt. Die finanziellen Hilfen, die Ungarn von der Pandemiebekämpfung betroffenen Menschen und Betrieben aus dem laufenden Haushalt geben kann, sind geringer als die anderer Staaten. Bricht aber das BIP stark ein, so erreicht die Regierung trotz einer unveränderten Schuldenaufnahme das Defizitziel nicht. Es ist ein anderer Grund, der die Regierung von einem Wechsel zu einer wachstumsorientierten Politik abhält, den viele Staaten nun vollziehen. Die Regierung möchte keine Kredite aufnehmen, insbesondere nicht von der EU und vom Internationalen Währungsfonds, denn diese sind an Bedingungen geknüpft. Dies empfindet das Orbán-Regime als Einschränkung seiner Souveränität. Bereits im Jahr 2012 hatte die Regierung Orbán im Streit mit dem IMF die Beziehungen abgebrochen. Im Falle der EU könnten Kredite sogar an die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards gebunden sein. Um dies zu verhindern, ist das Regime bereit, einen hohen ökonomischen Preis zu zahlen.
Hatte die Opposition die Einschränkungen des Alltagslebens nahezu uneingeschränkt mitgetragen, so sind Ausmaß und Richtung der Maßnahmen zur Eindämmung und Überwindung der Wirtschaftskrise neben dem Ermächtigungsgesetz das zweite große Schlachtfeld des Kampfs zwischen Regierung und Opposition. Die Oppositionsparteien werfen der Regierung vor allem vor, zu wenig zur Linderung der sozialen Folgen der Krise zu tun. So erhalten etwa Arbeitnehmer, die ihre Anstellung verloren haben, in Ungarn nur drei Monate Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung. Nur in wenigen Staaten in Europa ist das Schutzniveau so gering.[56] Die Prognose der ungarischen Nationalbank, die von einer Erhöhung der Zahl der Arbeitslosen um 20 000 bis 40 000 ausgeht, was einer Steigerung der Quote um 0,8 Prozentpunkte auf 4,2 Prozent entspricht, erscheint wenig realistisch.[57] Die Regierung selbst geht von mehreren hunderttausend Menschen aus, die sich in den kommenden Monaten neu arbeitslos melden.[58] Überlegungen, wie sie damit umgehen will, hat die Regierung nicht veröffentlicht.
Gleichzeitig hat die Regierung mit mehreren Dekreten zwischen 18. März und 23. März Unternehmen bis Juni 2020 von der Zahlung des Arbeitgeberanteils an den Sozialversicherungsabgaben befreit. Dies senkt die Lohnkosten erheblich.[59] Ein bis Ende 2020 geltendes Moratorium auf Schuldentilgung bewahrt zahlreiche Unternehmen vor dem Konkurs. Gleichzeitig bedeutet es eine enorme Belastung für die Banken in einer Zeit, in der sie dringend gebraucht werden, um der Wirtschaft mit Krediten einen Neuanfang zu ermöglichen.[60]
Die wirtschaftlichen Sondermaßnahmen, die die ungarische Regierung zur Linderung der Folgen der Pandemiebekämpfung beschlossen hat, sind im Vergleich zu den anderen Visegrád-Staaten sehr zurückhaltend. Offen ist, welche Folgen dies für die ungarische Volkswirtschaft haben wird, die seit vielen Jahren jene mit der geringsten Wettbewerbsfähigkeit unter den vier ostmitteleuropäischen Staaten ist. Wird sich die ökonomische Lage stärker als in den Nachbarstaaten verschlechtern, so könnte dies das Fundament der autokratischen Herrschaft von Viktor Orbán unterspülen. Denn dessen Legitimität hängt stärker von ökonomischem Erfolg ab als die demokratischer Regierungen. Fällt die Wirtschaftskrise jedoch im regionalen Vergleich schwach aus und bleibt internationaler Druck wegen des Ermächtigungsgesetzes aus, so könnte das Orbán-Regime zur ersten lupenreinen Autokratie in der EU werden.
Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Korm. határozat 1012/2020 (1.31.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=217994.379357>.
[2] Journalisten unabhängiger Medien beschweren sich seitdem immer wieder, dass Fragen nicht aufgenommen werden oder unbeantwortet bleiben. Der Übergang zur Fernübertragung sei mit einer klaren Verschiebung zugunsten der regierungsnahen Medien einhergegangen. Magyar Narancs, 20 March 2020, <https://magyarnarancs.hu/katasztrofa/operativ-torzs-sajtotajekoztato-m1-127966>.
[3] Informationsseite der Regierung zu Sars-CoV-2 <https://koronavirus.gov.hu/cikkek/orban-viktor-miniszterelnok-bejelentese-2020-marcius-4-1830-0>.
[4] Így lettek barátokból a koronavírus bűnösei az irániak. Direkt36.hu, 2.4.2020.
[5] A propaganda ott tart, mintha a koronavírus nálunk csak a rendetlenkedő iráni diákok miatt lenne probléma. 444.hu, 10.3.2020. Orbán Viktor: Kapcsolat van a migráció és a koronavírus-járvány között. Magyar Nemzet, 10.3.2020.
[6] Korm. rendelet 40/2020 (III.11.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218449.380521>.
[7] Gesetz 2011/CXXVIII, <https://net.jogtar.hu/jogszabaly?docid=a1100128.tv>.
[8] Korm. rendelet 41/2020 (III.11.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218471.380567>.
[9] Gesetzesentwurf T/9822, <www.parlament.hu/irom41/09822/09822.pdf>.
[10] Gesetzesentwurf T/9790, <www.parlament.hu/irom41/09790/09790.pdf>.
[11] Gesetz 2020/XII, <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218767.381191>.
[12] Az országos tisztifőorvos tiltó és kötelező határozata a járványügyi helyzetre tekintettel, 26.3.2020, <https://koronavirus.gov.hu/cikkek/az-orszagos-tisztifoorvos-tilto-es-kotelezo-hatarozata-jarvanyugyi-helyzetre-tekintettel>.
[13] Tímea Drinóczi, Agnieszka Bień-Kacała: Illiberal Constitutionalism at Work: The First Two Weeks of COVID-19 in Hungary and Poland, verfassungsblog.de, 31.3.2020.
[14] Während die bis 2011 gültige Verfassung eine paritätische Ernennung von Verfassungsrichtern unter Beteiligung von Regierung und Opposition vorsah, werden unter dem seit 2011 geltenden Grundgesetz Verfassungsrichter mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Abgeordneten ernannt. Da eine solche Mehrheit nur vom Fidesz erreicht werden, sind fast alle heutigen Verfassungsrichter mit den Stimmen der von Ministerpräsident Orbán straff geführten Partei ernannt worden. Siehe dazu: Herbert Küpper: Mit Mängeln. Ungarns neues Grundgesetz, in: Osteuropa, 12/2011, S. 135‒144. ‒ Gábor Halmai: Hochproblematisch. Ungarns neues Grundgesetz, ebd., S. 144‒156. Zwischen 2015 und 2018 hatte der Fidesz eine absolute, jedoch keine Zwei-Drittel-Mehrheit, so dass im November 2016 vier heute noch amtierende Verfassungsrichter mit Unterstützung der LMP gewählt wurden, einer davon auf Vorschlag der LMP.
[15] Siehe die Länderberichte über die Notstandsverordnungen in der Rubrik „COVID 19 and States of Emergency“ auf <www.verfassungsblog.de/introduction-list-of-country-reports>.
[16] Gesetz 2020/XII, <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218767.381191>.
[17] Gábor Halmai, Kim Lane Scheppele: Don’t Be Fooled by Autocrats!: Why Hungary’s Emergency Violates Rule of Law, VerfBlog, 22.4.2020, <https://verfassungsblog.de/dont-be-fooled-by-autocrats/>.
[18] Korm. rendelet 45/2020 (III.14), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218497.380652>.
[19] Korm. rendelet 73/2020 (III.31.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218768.381194>.
[20] Siehe dazu u.a. András Bozóki, Daniel Hegedűs: Hybridregime unter externer Kontrolle. Zum Charakter der ungarischen Politik, in: Osteuropa, 3‒5/2019, S. 149‒169.
[21] Hiába az óriási tét, az ellenzék elutasította a veszélyhelyzet meghosszabbítását. Origo.hu, 23.3.2020.
[22] Gesetzesentwurf T/9934, <www.parlament.hu/irom41/09934/09934.pdf>.
[23] A pártok költségvetésének megfelezésével a társadalmat is büntetik. Mérce.hu, 9.4. 2020.
[24] Orban’s emergency powers hit opposition funding. Financial Times, 24.4.2020.
[25] A DK szerint az ÁSZ a teljes párttámogatásuk elvételével fenyeget, a számvevőszék állítja, minden törvényes. Index.hu, 18.4.2020.
[26] Freedom House Nations in Transit Country Report on Hungary 2018.
[27] Visszavonja a kormány a polgármesterek jogkörét korlátozó javaslatot. Mandiner.hu, 1.4.2020.
[28] Trükköznek és kétségbe esnek: heteken belül elindulhat az önkormányzati csődhullám. HVG.hu, 25.4.2020.
[29] Korm. rendelet 135/2020, <https://net.jogtar.hu/jogszabaly?docid=A2000135.KOR>.
[30] Korm. rendelet 136/2020, <https://net.jogtar.hu/jogszabaly?docid=A2000136.KOR>.
[31] Regierungsbeschluss 1109/2020 (III.18.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218578.380804>. Itt a katonai irányítás alá vont cégek listája. Népszava, 19.3.2020.
[32] Korm. rendelet 72/2020 (III.28.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218759.381181>.
[33] Korm. rendelet 128/2020 (IV.17.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=219072.381897>.
[34] Az állami felügyelet alá vont Kartonpack Dobozipari Nyrt. igazi története. HVG.hu, 21.4.2020.
[35] Feszültség a Fideszben Kásler miatt, Orbán lépéskényszerbe került. Válasz.hu, 15.4.2020.
[36] Csak lázas? Bejöhet. – Megnéztük, hogy működik a határellenőrzés Hegyeshalomnál. 24.hu, 12.3.2020.
[37] Románia humanitárius folyosó nyitását kérte Magyarországtól. 444.hu, 17.3.2020.
[38] Éjjel átutazhatnak az országon az osztrák-magyar határon fennakadt románok és bolgárok. 444.hu, 17.3.2020.
[39] Szerdán egész nap 50 kilométeres dugó volt az osztrák autópályán Magyarország felé. Index.hu, 18.3.2020.
[40] 40 kilométeres sor alakult ki Hegyeshalomnál. Vezess.hu, 17.3.2020.
[41] Bizonytalan a nyugat-magyarországi ingázók munkája a koronavírus-járvány miatt. Atlatszo.hu, 1.4.2020.
[42] Miközben mindenhol a menekültek vírus miatti sebezhetőségére figyelmeztetnek, a kormány folytatja az éheztetéseket. Kettős Mérce, 7.4.2020.
[43] Ebd.
[44] Why is Hungary withholding food from migrants in its border zones? Euronews, 31.7.2019.
[45] European Commission – Press release, 26 July 2019, https://ec.europa.eu/commission/ presscorner/detail/en/IP_18_4522 and European Commission – Press release, 10 October 2019, <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_19_5994>.
[46] Miközben mindenhol a menekültek vírus miatti sebezhetőségére figyelmeztetnek, a kormány folytatja az éheztetéseket. Kettős Mérce, 7.4.2020.
[47] Korm. rendelet 41/2020 (III.11), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218471.380567>.
[48] Eduline.hu, 13.3.2020, <https://eduline.hu/kozoktatas/20200311_rendkivuli_iskolabezaras___bejelntes>.
[49] Oppositionelle Medien warfen der Regierung daraufhin vor, mit einer verspäteten Reaktion zur Ausbreitung der Pandemie beigetragen zu haben. Ellenzék: Az nem derült ki, hogyan kompenzálják az otthon maradó szülőket. HVG.hu, 13.3.2020.
[50] „Ha az étkezést megoldják, nagy baj nem lehet“. Népszava, 17.3.2020. ‒ Digitális oktatás? Itt vannak házak, ahol áram sincs! Index.hu, 21.3.2020.
[51] Korm. rendelet 46/2020 (III.16), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218547.380735>.
[52] Korm. rendelet 71/2020 (III.27), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218750.381553>.
[53] Tíz százalékos recesszió jöhet Magyarországon az elemző szerint. Euronews, 11.4.2020.
[54] Informationsseite der Regierung zu Sars-CoV-2 <https://koronavirus.gov.hu/cikkek/gulyas-jarvanyugyi-es-gazdasagvedelmi-alapot-letrehoz-kormany>.
[55] A kormány gazdaságvédelmi alapjának harmada kopizás, és nincs meg a fedezete. HVG.hu, 7.4.2020.
[56] A fejlett világ legszűkmarkúbb ellátása vár a sok százezer magyar munkanélkülire. G7.hu, 25.3.2020.
[57] Koronavírus: 20-40 ezer magyar válhat tartósabban munkanélkülivé. MFOR, 27.3.2020.
[58] A fejlett világ legszűkmarkúbb ellátása vár a sok százezer magyar munkanélkülire. G7.hu, 25.3.2020.
[59] Korm. rendelet 61/2020 (III.23.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218673.380981>.
[60] Korm. rendelet 47/2020 (III.18.), <http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218577.380802>.
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