Titelbild Osteuropa 5/2020

Aus Osteuropa 5/2020

Editorial
Kühler Verstand


Abstract in English

(Osteuropa 5/2020, S. 3)

Volltext

Wer über das Meer spricht, denkt nicht an Russland. Denn Russland ist der größte Flächenstaat der Welt und gilt als Inbegriff einer Landmacht. Doch Russland hat auch eine maritime Seite. Im Westen hat Russland Küsten an zwei Binnenmeeren des Atlantischen Ozeans – der Ostsee und dem Schwarzen Meer – im Osten am Pazifischen Ozean. Der gesamte Norden Russlands grenzt an die Randmeere des Arktischen Ozeans: die Barentssee, die Karasee, die Laptevsee, die Ostsibirische See und die Tschuktschensee. Mit 37 653 Kilometern ist Russlands Küste doppelt so lang wie die der USA. Während des Ost-West-Konflikts trug die Sowjetunion den globalen Systemwettbewerb mit den USA auch auf den Meeren aus. Die UdSSR unterhielt die zweitmächtigste Militärflotte der Welt.

Heute zieht Russland vor allem als Anrainer des Arktischen Ozeans internationale Aufmerksamkeit auf sich. Der Klimawandel verändert die Umweltbedingungen in der Arktis. Die Eisbedeckung des Arktischen Ozeans geht in den Sommermonaten immer weiter zurück. Das hat Folgen für die wirtschaftliche Erschließung: Bereits heute fördert Russland im Hohen Norden auf der Jamal-Halbinsel Erdgas und Erdöl, die mit Tankern auf die Märkte in Europa und Asien gebracht werden. Der Nördliche Seeweg, den Russland seit über einem Jahrhundert als dauerhaft nutzbare Schiffstraße auszubauen versuchte und den es heute als Nationale Transportmagistrale betrachtet, ist zu einer wichtigen Exportroute für das Rohstoffland Russland geworden. Russlands hochfliegende Pläne hingegen, den Nördlichen Seeweg zu einer wichtigen Transitroute für Containerschiffe von chinesischen und japanischen Häfen nach Hamburg und Rotterdam zu machen, dürften noch für viele Jahre Phantasie bleiben.

Doch aus Phantasien erwachsen Ambitionen. Ambitionen hegen auch andere Staaten. Daraus erwächst Konkurrenz; mitunter auch Angst, andere Staaten könnten schneller sein. Konkurrenz um begrenzte Güter birgt Konfliktpotential. Zahlreiche Beobachter warnen vor eskalierenden Konflikten um Souveränitätsrechte, Ressourcen und Seewege. Andere verweisen hingegen darauf, dass es in der Arktis keine territorialen Konflikte gibt und die Anrainerstaaten des Nordpolarmeers in wichtigen regionalen Fragen wie dem Umweltschutz zusammenarbeiten.

Die Studien des vorliegenden Hefts, das aus der Tagung „Meere als Raum von Konflikt und Kooperation“ der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde hervorgeht, zeigen, dass beide Beobachtungen richtig sind. Die Arktis ist kein isolierter Raum und die internationalen Beziehungen sind zunehmend von Antagonismus, Großmachtkonkurrenz und Konfrontation geprägt. Kooperation und Multilateralismus sind in der Defensive. Das gilt für das Verhältnis zwischen Russland und den USA ebenso wie für die Beziehungen zwischen den USA und China, das längst globale Machtansprüche erhebt. In einer solchen Situation bedarf es keiner unüberbrückbaren Interessengegensätze, damit sich ein globaler Konflikt in der Arktis entzünden kann.

Umso mehr gilt es, kühlen Verstand zu bewahren. Alarmismus befördert die Angst, Euphorie die Ambition. Nüchterne Analysen der Interessen aller Beteiligten helfen, das angesichts globaler Konfrontation so dringend benötigte Vertrauen zu schaffen.

 

Berlin, im Juni 2020                                                       

Manfred Sapper, Volker Weichsel