Aktion und Reaktion
Russland: Protestbewegungen im autoritären System
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Abstract in English
Abstract
In Russland hat das autoritäre Regime den Spielraum der Zivilgesellschaft seit dem Jahr 2000 immer weiter eingeschränkt. Gleichwohl gibt es bis heute Protestbewegungen. Geht es diesen um konkrete soziale oder lokale Anliegen, haben sie gelegentlich Erfolg. Richten sie sich gegen das Regime als solches, werden sie mit den Mitteln des Polizeistaats unterdrückt. Die Grenzen des Geduldeten setzt das Regime. Seit den großen Protesten gegen Wahlfälschung im Winter 2011/2012 hat es sie immer enger gezogen. Um die Gesellschaft zu spalten, stilisiert sich der Kreml zum Bewahrer „traditioneller Werte“ und agitiert gegen viele gesellschaftliche Gruppierungen. Unterschiede zwischen den Regionen Russlands wurden durch die rigorose Durchsetzung der Machtvertikale eingeebnet. In Perm’, einst eine Hochburg der organisierten Zivilgesellschaft, ist die Lage heute kaum anders als in Rostov am Don, wo die Unterdrückung bereits in den 1990er Jahren wieder eingesetzt hatte.
(Osteuropa 6/2020, S. 109120)
Volltext
Verglichen mit den 1990er Jahren, als es angesichts der umfassenden Wirtschaftskrise, drastischen Lohnausfällen und Hyperinflation zu zahlreichen sozioökonomisch motivierten Protesten und Streiks gekommen war, gab es zu Beginn der 2000er Jahre in Russland nur wenige Proteste. Dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Erstens setzte dank des steigenden Ölpreises und der damit anwachsenden Staatseinnahmen ein umfassender wirtschaftlicher Aufschwung ein, der die Löhne steigen ließ und die Not verringerte. Damit erübrigten sich für viele Menschen Proteste aus sozialen und ökonomischen Motiven.
Zweitens war es seit Beginn seiner Präsidentschaft das erklärte Ziel von Vladimir Putin, den Zentralstaat zu stärken und der politischen Führung uneingeschränkte Handlungsfähigkeit zurückzugeben. Zur Errichtung dieser „Machtvertikale“ gehörte auch die systematische Marginalisierung politischer Opposition, was sich unmittelbar auf deren Protestfähigkeit auswirkte. Ein Beitrag zur Schwächung der Opposition war die Einbindung der Gouverneure, die der Kreml sukzessive in die Machtvertikale integrierte. 2004 wurde die Direktwahl der Gouverneure abgeschafft. Hatten die Gouverneure in den 1990er Jahren die Zentralregierung noch durch gezielte Förderung von lokalen Protesten unter Druck gesetzt und oft genug Zugeständnisse in Form größerer politischer Autonomie oder finanzieller Unterstützung erpresst, waren sie nun ihrer unabhängigen Machtbasis beraubt und dem Präsidenten gegenüber zur Loyalität verpflichtet.
Ähnlich erging es den Oppositionsparteien, die in den frühen 2000er Jahren systematisch gezähmt wurden und so als treibende oder stützende Kräfte für Proteste ebenfalls ausfielen. Erstens erschwerten neue Regelungen wie etwa die Parteienregistrierung oder das Verbot von Wahlblöcken im Jahr 2005 auch die Koalitionsbildung. Zweitens baute der Kreml seit 2003 unter seiner Kontrolle stehende Parteien auf – etwa Rodina (Heimat) und Spravedlivaja Rossija (Gerechtes Russland), die insbesondere der Kommunistischen Partei (Kommunističeskaja Partija Rossijskoj Federacii, KPRF) als ernstzunehmender Alternative zur Kremlpartei Edinaja Rossija einen Teil ihrer Unterstützer abspenstig machten. Drittens zeigen zwei vergleichende Studien für den Zeitraum von 2007 bis 2012, dass die drei parlamentarischen Oppositionsparteien KPRF, Gerechtes Russland und die nationalistische Liberaldemokratische Partei Russlands in jenen Gebieten, wo sie in den Regionalparlamenten lukrative Führungspositionen in den Ausschüssen einnahmen, signifikant seltener zu Protesten aufriefen als in den Gebieten, in denen ihre Repräsentanten keine Ämter innehatten.[1] Die Parlamente übernahmen also die Funktion, die oppositionellen Parteieliten in Patronagenetzwerke einzubinden und so von Protest fernzuhalten. Insgesamt errichtete das Regime in den ersten zwei Amtszeiten Vladimir Putins einige Hindernisse, die eine große und anhaltende Protestmobilisierung systematisch erschwerten.
Graswurzelaktivismus und politischer Protest
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger keine Mittel gefunden hätten, ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Seit Mitte der 2000er Jahre nahmen die Proteste in Russland wieder zu. Die französische Soziologin Carine Clément hat die in dieser Zeit in Russland entstehenden Graswurzelinitiativen dokumentiert. Dazu zählen insbesondere Initiativen gegen die bauliche Verdichtung von Wohngebieten, für den Erhalt von Grünflächen und Wäldern wie etwa in Chimki nordwestlich von Moskau, für niedrigere Mietnebenkosten oder kommunale Gebühren und für die Selbstverwaltung von Mehrfamilienhäusern.[2] Darüber hinaus nahm auch der Protest für die von der Verfassung garantierten bürgerlichen Freiheitsrechte wie etwa das Versammlungsrecht deutlich zu.[3] Ein Grund für das Aufleben des Protests war das Erstarken des Zentralstaates, der nun wieder zum Adressat der Beschwerden wurde.[4] Ein weiterer Grund ist im wirtschaftlichen Aufschwung zu sehen, der zwar vielen Menschen in Russland ein besseres Auskommen bescherte, aber auch neue Probleme wie wachsende Umweltzerstörung und dichtere urbane Bebauung schuf.[5]
Selten entwickelten sich diese dezentralen Initiativen zu einer zusammenhängenden, koordinierten „Bewegung“, dennoch waren sie manchmal erfolgreich, wie etwa die Proteste gegen die sogenannte „Monetarisierung von Sozialleistungen“ zeigt. Im August 2004 beschloss die Staatsduma ein Gesetz, das direkte Sozialleistungen für Rentner, Veteranen oder Studierende wie etwa die kostenlose Nutzung des Öffentlichen Nahverkehrs oder die freie Gesundheitsversorgung abschaffte und sie durch Geldzahlungen ersetzte. Tatsächlich waren diese Zahlungen niedriger als der reale Wert der Sozialleistungen, sodass viele sozial und wirtschaftlich ohnehin schlecht gestellte Menschen erhebliche Einbußen zu erwarten hatten. Dagegen regte sich in ganz Russland Protest von höchst unterschiedlichen Personengruppen. Demonstrationen, Blockaden und der unerwartet breite Widerstand stellten die Regierung vor eine ernsthafte Herausforderung. Einige Regionen setzten die Reformen weit weniger radikal um als geplant. Zudem erhöhte die Regierung kurz nach Ausbruch der Proteste die Renten. Beides ließ auf die Bereitschaft schließen, dem Konflikt durch Zugeständnisse „die Spitze zu nehmen“.[6]
Aus vielen der damals entstandenen Protestgruppen entwickelten sich dauerhaft aktive, lokale zivilgesellschaftliche Kräfte. Allerdings versuchte der Staat, den Zusammenschluss thematischer und politischer Ziele zu unterbinden: Zusätzlich zum systematischen Ressourcenentzug und dem Aufbau bürokratischer Hindernisse für oppositionelle Politik entwickelte der Kreml in den späten 2000er Jahren einen „hybriden Umgang“ (Graeme Robertson) mit Protest: Einerseits zeigt das Beispiel der Proteste gegen die Monetarisierung von Sozialleistungen, dass der Kreml unter bestimmten Umständen bereit war, Zugeständnisse zu machen. Andererseits zog der Kreml durch selektive, harsche Repression unmissverständlich die Grenze zwischen legitimen und illegitimen Anliegen und Akteuren. Als legitime Träger der Proteste gelten für den Kreml bis heute sozial orientierte Nichtregierungsorganisationen, die sogar auf staatliche Unterstützung hoffen können. Als illegitim gelten liberale, linke und radikal nationalistische Gruppen, die weitreichende Veränderungen des politischen Systems anstreben.[7]
Das Kalkül des Kreml ging insofern auf, als breite Allianzen zwischen thematisch orientierten Aktivisten und politischer Opposition selten waren. Allerdings solidarisierten sich verschiedene politische Lager untereinander. Beispielhaft zeigt sich dies an den „Märschen der Unzufriedenen“ (maršy nesoglasnych), die zwischen 2005 und 2008 von einer bunten Koalition Oppositioneller organisiert wurden und aus denen sich unter Führung des im März 2020 verstorbenen Nationalbolschewisten und Schriftstellers Ėduard Limonov die Strategija-31 entwickelte. Diese Gruppe organisierte ab Juli 2009 an jedem 31. Tag des Monats zunächst in Moskau, bald auch in anderen Städten Kundgebungen, mit denen sie auf Art. 31 der Verfassung anspielten und auf das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf friedliche Versammlung verwiesen. Denn dieses Recht hatten Russlands Behörden zunehmend eingeschränkt.[8] Der demonstrative Verweis auf die Rechtsgrundlage war in doppelter Hinsicht ein kluger Schachzug. Zum einen nahmen Limonov und seine Mitstreiter gezielt Anleihen bei der sowjetischen Dissidentenbewegung. So sprachen sie auch liberale Personen an und konnten prominente Persönlichkeiten der Menschenrechtsbewegung wie etwa Ljudmila Alekseeva und Vladimir Bukovskij vorübergehend als Mitstreiter gewinnen. Zum anderen bereiteten sie damit, wie der australische Politikwissenschaftler Robert Horvath zutreffend analysiert, dem Putin-Regime ein Problem:
„Dieser Legalismus konfrontierte die Behörden mit einem Dilemma. Die Demonstranten auseinanderzutreiben, bedeutete, ihren Vorwurf der Zerstörung der verfassungsmäßigen Rechte durch das Regime zu bestätigen. Ihnen zu erlauben, ungehindert zu demonstrieren, bedeutete, den öffentlichen Raum den Gegnern des Regimes zu überlassen.“[9]
Dass die Proteste von Strategija-31 quantitativ überschaubar und ideologisch heterogen blieben, war auch das Ergebnis der staatlichen Strategie, die Träger des politischen Protests zu marginalisieren. Zugleich stellten die Demonstranten aber ihre strategische Finesse unter Beweis, mit der sie dem hybriden Regime begegneten, das einerseits durch seine formalen Institutionen den Anschein eines demokratischen Rechtsstaats aufrechterhalten will und andererseits politischen Wettbewerb unterbindet. Indem sie ihre formalen Rechte nutzen und den Staat zur Übertretung seiner eigenen Regeln bringen, machen Protestierende immer wieder die große Kluft zwischen Norm und Praxis öffentlich, die „hybride Regime“ wie das russländische kennzeichnet.[10]
„Für faire Wahlen“
Obgleich der Handlungsspielraum der Protestbewegung stark eingeschränkt und politische Opposition geschwächt war, brachten die Proteste, die auch unter der Bezeichnung „Für faire Wahlen“ (za čestnye vybory) bekannt wurden, zwischen Dezember 2011 und Mitte 2012 landesweit Hunderttausende Menschen auf die Straße. [11]
Einigkeit herrscht in der Literatur darüber, dass es weniger ein besonders hohes Ausmaß an Fälschungen war, das die Menschen nach den Wahlen zur Staatsduma im Dezember 2011 zu den größten Protesten seit den frühen 1990er Jahren veranlasst hat. Der Missbrauch administrativer Ressourcen und Manipulationen bei dem gesamten Wahlprozess und bei der Stimmenauszählung waren seit längerem Teil der Entwicklung zu einem autoritären politischen System unter Präsident Putin. Auch unter Präsident El’cin waren sie keineswegs unbekannt gewesen. Entscheidend war vielmehr, dass die Belege für Manipulation und offene Fälschungen öffentlich wurden und sehr viel mehr Menschen als jemals zuvor zugänglich waren. Aufgrund verschiedener Initiativen, die sich in den Monaten und Jahren zuvor gegründet hatten – etwa Graždanin Nabljudatel’ (Bürgerbeobachter) oder die liberale Gruppe Solidarnost’– hatte es viel mehr einheimische, freiwillige Wahlbeobachter als früher gegeben. Viele Menschen gewannen persönliche Eindrücke von der Manipulation, dokumentierten Fälschungen und gaben ihrer Empörung Ausdruck. Durch soziale Medien verbreiten sich diese Belege für die Fälschungen und emotionale Berichte so schnell und weit wie nie zuvor.[12] Die Mischung aus Empörung, lange angestauter Unzufriedenheit über die politische Stagnation und die von vielen als Hohn empfundene Ankündigung vom September 2011, Putin werde nach seiner vierjährigen Amtszeit als Ministerpräsident im März 2012 wieder als Präsidentschaftskandidat antreten, führte zu einer enormen Mobilisierung. Carine Clément schreibt dazu:
„Den Anstoß zum Protest hatte ein konkretes Problem gegeben, das jeden einzelnen Menschen unmittelbar betraf: Die massenhaften Fälschungen bei den Wahlen zur Staatsduma 2011 gaben vielen Russen das Gefühl, dass ihnen ihre Stimme gestohlen wurde – nämlich die Stimme, die sie nicht Einiges Russland, der Regierungspartei, gegeben hatten. Die Fälschung […] wurde als persönliche Beleidigung wahrgenommen.“[13]
Was das Gros der Protestierenden verband, war also weniger eine geteilte politische Position, und schon gar nicht die Unterstützung einer konkreten Gegenelite, als der Ärger darüber, von der Staatsführung in wichtigen Entscheidungen arrogant übergangen, nicht angehört worden zu sein. Die Forderung nach Anstand erreichte und vereinte zahlreiche Menschen, die zwar politisch interessiert, aber bisher inaktiv gewesen waren.[14] Der Kreml hatte die Rechnung ohne die Moral gemacht.
Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Zunächst kündigte Präsident Medvedev noch im Dezember 2011 einige Zugeständnisse an: Die Direktwahl der Gouverneure wurde wieder eingeführt und das Gesetz zur Registrierung von Parteien liberalisiert. Dies führte zu einer hohen Zahl kleiner Parteien bei den folgenden Regionalwahlen, was auf die Dominanz der Regierungspartei Einiges Russland jedoch keinen Einfluss hatte.
Zweitens erhöhte das Regime merklich die Repression gegen seine Gegner. Dies begann mit den sogenannten Bolotnaja-Prozessen gegen mehrere Dutzend Protestierende, denen die Staatsanwaltschaft vorwarf, bei einer Demonstration in Moskau am 6. Mai 2012 Gewalt gegen Polizisten angewandt zu haben. Richterinnen und Staatsanwälte verletzten in den Verfahren systematisch die Rechte der Angeklagten, Beweise und Zeugen wurden nicht zugelassen, und viele der 19 Freiheitsstrafen waren selbst gemessen an den offiziellen Aussagen der Polizisten unverhältnismäßig hart.[15]
Beobachter interpretierten daher die Prozesse als inszenierte Abschreckung.[16] Zudem schränkte die Duma von 2012 bis 2015 die Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit ein und erhöhte die repressiven Befugnisse der Sicherheitsbehörden. Neue Regularien erlaubten es, den Zugang zu Websites und sozialen Netzwerken ohne Gerichtsbeschluss zu blockieren. Änderungen des Strafgesetzbuches führten den Straftatbestand der „Verleumdung“ in den Medien wieder ein, und die seit den 2000er Jahren geltenden Normen zur Bekämpfung von „Extremismus“ wurden erweitert. Die bekannteste dieser repressiven Maßnahmen war die gesetzliche Diffamierung von NGOs als „ausländische Agenten“, wenn sie „politisch tätig“ waren und Mittel aus dem Ausland erhielten.[17]
Drittens setzte das Regime auf die Rückgewinnung der moralischen Deutungshoheit, indem es sich als Verteidiger traditioneller Werte und Lebensweisen präsentierte. Diese Retourkutsche war kein Zufall. Denn die Bolotnaja-Proteste hatten eine stark ethische Stoßrichtung, da die Demonstranten dem Regime vorwarfen, grundlegende Regeln des Anstands im Umgang mit den Bürgern zu missachten. Die Politologin Gulnaz Sharafutdinova sieht gar die Essenz von Putins Antwort auf die Proteste in einer neuen Moralpolitik. Ab 2012 richtete Putin „seine Aufmerksamkeit auf Gesellschaft und Kultur und wurde zum Hüter der traditionellen Werte, von Moral und Spiritualität Russlands.“[18] Exemplarisch zeigte sich dies am Umgang des Staates und der regierungsfreundlichen Medien mit der Punkgruppe Pussy Riot, die bei einer Performance in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale im Februar 2012 satirisch die Gottesmutter aufforderten, Putin zu verjagen und Feministin zu werden. Die drei Protagonistinnen wurden des „vorsätzlichen Hooliganismus […] aus religiösem Hass“ beschuldigt und unter lautstarker Orchestrierung durch kremlfreundliche Medien zu je zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Der Urteilsspruch enthielt die Feststellung, dass Feminismus das Potential habe, eine auf Religion basierende soziale Ordnung zu untergraben.[19]
Diese „moralische Wende“ war eng mit einer Strategie des Teile und Herrsche verknüpft. Politiker und kremlfreundliche Medien portraitierten die Protestierenden regelmäßig als reiche, arrogante Großstädter, die auf eine traditionsbewusste, orthodoxe und patriotische Mehrheit herabsähen.[20] Auf diese Weise wurde Dissens mit konkreten, als gesellschaftsschädlich und „unrussisch“ dargestellten Personengruppen assoziiert und delegitimiert. Teil dieser Strategie war es nach Samuel Greene und Graeme Robertson auch, das Thema Homosexualität – etwa durch das Verbot der „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“ – mit politischer Bedeutung aufzuladen und so eine konservative Mehrheit gegen eine an rechtlicher Gleichstellung und freiheitlichen Werten orientierte Minderheit in Stellung zu bringen. Auch wenn einem Großteil der Bevölkerung das Thema bisher egal gewesen war und es politisch kaum eine Rolle gespielt hatte, gelang es der von Abgeordneten und Medien geführten Kampagne, „die ideologische Kluft zwischen der putintreuen Mehrheit und der oppositionellen Minderheit“ zu vergrößern. [21] Und selbst die Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014, die Putin mit explizitem Verweis auf die historischen Wurzeln des orthodoxen Christentums rechtfertigte und in den Zusammenhang eines ebenso kulturellen wie geopolitischen Konflikts mit dem Westen einbettete,[22] knüpfte nahtlos an diese Erzählung an, dass Russland sich in seinem moralischen und spirituellen Fundament gefährdet sehe und sich gegen innere wie äußere Feinde verteidigen müsse.
Protest seit 2013: Paralleluniversen und Wurmlöcher
Diese Strategie und die wachsende Repression wirkten sich auf das Protestverhalten aus: 2014 und 2015 gingen die politischen Proteste in Russland zurück. Ausnahmen waren kleinere Antikriegsdemonstrationen gegen Russlands Intervention im ukrainischen Donbass sowie der große Trauermarsch nach der Ermordung von Boris Nemcov im März 2015. Nichtsdestotrotz organisierten einzelne Berufsgruppen und Betroffene weiter Protestkampagnen: In Moskau setzen sich Bewohner seit 2017 gegen den Abriss von Fünfetagenhäusern aus der Chruščev-Zeit ein, im Sommer 2018 organisierten die Kommunistische Partei und unabhängige Gewerkschaften landesweit den Widerstand gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters, und LKW-Fahrer stemmten sich zwischen 2015 und 2017 gegen ein neues Mautsystem. Dies konnten sie zwar nicht verhindern, es gelang ihnen aber zumindest, die negativen Auswirkungen auf ihre Einkünfte zu mindern, indem sie die Regierung durch einen gut koordinierten Streik zwangen, die Strafen für Zuwiderhandlungen drastisch zu kürzen. Außerdem zeigen Proteste gegen eine geplante Mülldeponie in der Region Archangel’sk und die Mobilisierung gegen den Bau einer Kathedrale in einem Stadtpark von Ekaterinburg im Sommer 2019, dass auch urbane und Umweltproteste – zwei Konstanten der 2000er Jahre – weiterhin stark und bisweilen sogar erfolgreich sind.[23]
Die Initiatoren stellen viele dieser Kampagnen bewusst als übergreifende, unpolitische Projekte dar und distanzieren sich von oppositionellen Akteuren – teils aus berechtigter Furcht vor Repression bei zu starker Politisierung, teils weil sie direkt an den Präsidenten appellierten, teils aus Abneigung gegenüber Politik als solcher. Insofern wirkt die gezielte Spaltung in legitime und illegitime Anliegen, die das Regime verfolgt, sich weiterhin auf die Bildung von Bündnissen und die öffentliche Positionierung von Aktivisten aus. Doch auch politische Proteste sind wieder im Kommen, zuletzt medienwirksam zu beobachten rund um die Wahlen zum Moskauer Stadtparlament im September 2019, als Dutzende oppositionelle Kandidaten aufgrund angeblicher formaler Fehler von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen wurden. Parallel zum Versuch junger Demokraten, in die lokalen Parlamente einzuziehen, ist insbesondere der liberale, ideologisch pragmatische Oppositionspolitiker und Anti-Korruptionsaktivist Aleksej Naval’nyj darauf aus, Dissens zu bündeln, politische mit sozialen Themen zu verknüpfen und Verbindungen zwischen den Paralleluniversen thematisch orientierter Graswurzelaktivitäten und politisch orientiertem Protest zu schlagen – allerdings bisher mit mäßigem Erfolg.[24]
Die meisten Allianzen und Protestgruppen haben eines gemeinsam: Mit wenigen Ausnahmen beantworten sie Repression und Diskreditierung durch das Regime mit entschiedener Gewaltlosigkeit. Auf diese Weise strafen Protestierende die ständigen, in den Medien verbreiteten Beschuldigungen, Unruhe zu stiften und Chaos über Russland zu bringen, regelmäßig Lügen. Dies war zuletzt wieder bei den Moskauer Protesten im Herbst 2019 zu beobachten, wo es trotz unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes kaum physische Gegenwehr gab.
Fallstudien
Auch in den Regionen wie etwa in Perm’ oder Rostov-na-Donu sind all diese Elemente der Interaktion von Regime und Protest präsent: selektive Repression, Diskreditierung und strukturelle Schwächung oppositioneller Kräfte, die Trennung sozialer und politischer Themen – aber auch der Versuch von Protestierenden, die Schwächen des hybriden Regimes auszunutzen und vorzuführen, etwa indem sie aufzeigen, dass das Regime die geltenden Rechtsvorschriften permanent untergräbt. Auch in den Regionen waren die Bolotnaja-Proteste Kristallisationspunkt und Katalysator dieser Dynamik. Allerdings unterscheiden sich die Bedingungen auf lokaler und regionaler Ebene erheblich untereinander – und von jenen im Zentrum.[25]
Perm’
Die Region Perm’ im Ural galt bis in die 2000er Jahre als (relative) Hochburg liberaler Kräfte.[26] Partien wie Jabloko und die Union der Rechten Kräfte verzeichneten überdurchschnittliche Ergebnisse, und es gelang zunächst keinem politischen Lager, die Oberhand zu gewinnen. Dazu trug auch die relativ stark diversifizierte regionale Wirtschaft bei, wodurch sich konkurrierende Interessen gegenseitig austarierten. Die Errichtung der Putinschen „Machtvertikale“ ging jedoch auch an Perm’ nicht vorüber: Die Partei der Macht Edinaja Rossija gewann im regionalen Parlament und in der Exekutive an Dominanz. Mehrfach wurden unabhängige Kandidaten und Listen oppositioneller Parteien nicht zu Wahlen zugelassen. Lokale Beobachter bezeichneten Stadt und Region seit Ende der 2000er als „politischen Sumpf“[27], in dem eine politische Opposition kaum mehr existierte.
In den 1990er Jahren hatte sich in einem pluralistischen Umfeld mit Unterstützung westlicher und auch inländischer Förderer eine vielgestaltige, schlagkräftige lokale Zivilgesellschaft gebildet. Viele Protagonisten dieser Menschenrechtsgruppen, darunter jene um das Gulag-Museum Perm’-36 und die Permer Zivilkammer[28] kannten sich bereits aus der Perestrojka und nutzten ihre zahlreichen informellen Kontakte zu den lokalen Behörden, um die Auswirkungen der Zentralisierung und des Aufbaus einer autoritären Herrschaft nach Putins Amtsübernahme zunächst abzufangen. Igor’ Averkiev, ein wichtiger NGOler, erstellte 2004 eine Liste von „Regeln für den Umgang mit Behörden“, die er „Permer Verhaltenskodex“ nannte.[29] Ziel dieses Ansatzes war es, ohne je selbst politische Macht anzustreben, die Schwäche formeller Opposition auf regionaler Ebene zu kompensieren. So wirkten die lokalen NGOs immer wieder an der Entwicklung regionaler Gesetzesentwürfe mit, waren aber zugleich jederzeit in der Lage, relativ breite Proteste etwa gegen soziale und politische Missstände zu organisieren.
Auch die Bolotnaja-Proteste von 2011/12 wurden schnell von dieser gut vernetzten Gruppe angeführt. Nachdem wie in Moskau und den meisten Regionen junge Menschen ohne Protesterfahrung die ersten Kundgebungen gegen die Wahlfälschung organisiert hatten, übernahmen die etablierten Kräfte schnell das Ruder und gründeten – freilich unter Einschluss der „Newcomer“ – den Rat des 24. Dezember. Diese Protest-Organisation brachte viele Veteranen der Permer NGO-Szene zusammen, darunter auch eine trotzkistische Gruppe, welche die Proteste gegen die Monetisierung von Sozialleistungen 2004/05 organisiert hatte. Das illustriert einerseits, wie breit die politische und thematische Vielfalt der lokalen Zivilgesellschaft war. Andererseits beschleunigte die lokale Institutionalisierung einen Konflikt: Die „Newcomer“ warfen den „Veteranen“ vor, den Protest für ihre eigene Ziele, etwa den langjährigen Kampf gegen Gouverneur Oleg Čirkunov, zu missbrauchen und die unerfahrenen aber treibenden Kräfte des Protests, die sich als Teil eines übergeordneten Kampfs für Ehrlichkeit und Moral im öffentlichen Leben sahen, nur als Statisten zu dulden. Solche Vorwürfe gab es im Zuge der Proteste in vielen Regionen; da der Rat in Perm’ die Führung der lokalen Bolotnaja-Proteste übernahm und ihre Organisation erheblich zentralisierte, trat dieser Generationskonflikt, der sich zugleich auf den Dimensionen pragmatisch-lokal vs. moralisch-national abspielte, hier aber deutlicher zutage. Er konnte jedoch eingedämmt werden[30] und zahlreiche Protestneulinge wurden durch ihre Teilnahme im Rat in das dichte lokale Netzwerk integriert.
In den Jahren nach den Bolotnaja-Protesten haben sich einige Gruppen etabliert, die aus dem Rat hervorgingen, so die Wahlbeobachter Permskij Nabljudatel’ oder die Organizacija Graždanskich Aktivistov, die sich auf Protestveranstaltungen zu gesamtstaatlichen Themen wie die Annexion der Krim und den Militäreinsatz in der Ukraine spezialisierte. Eine andere Gruppe konstituierte sich als Zweigstelle von Aleksej Naval’nyjs politischer Bewegung und bildete den Kern des Permer Büros von Naval’nyjs Präsidentschaftskampagne 2017/18.
So trugen die Bolotnaja-Proteste dazu bei, die Permer Zivilgesellschaft substantiell zu ergänzen. Gleichzeitig veränderte sich die für Perm’ charakteristische Beziehung zwischen zivilgesellschaftlichen Kräften und den Behörden: Ein langjähriger Mitstreiter beklagte in einem Interview, dass der bewährte Ansatz, bei dem beide Seiten „versuchten, mehr oder weniger ehrlich zusammenzuarbeiten“, seit 2012 von den regionalen Behörden stillschweigend aufgekündigt worden sei.[31] Dies ist wahrscheinlich der Entfremdung zwischen Staat und Teilen der Zivilgesellschaft geschuldet, die auf die Reaktion des Staates auf die Bolotnaja-Proteste zurückzuführen ist.
Rostov-na-Donu
In Rostov lagen die Dinge von Beginn an anders. Bereits in der frühen El’cin-Zeit sicherte Gouverneur Vladimir Čub der Gebietsexekutive die dominante Stellung. Bei den Gouverneurswahlen 1996 kam es zu erheblichen Fälschungen. Wirtschaftliche Kräfte und Interessengruppen, die in Perm’ und anderen Regionen unterschiedliche politische Gruppen unterstützten und dadurch zumindest vorübergehend eine Art Pluralismus förderten, wurden im Gebiet Rostov systematisch von der Exekutive unter Druck gesetzt, sobald sie sich politisch betätigten.[32]
In den 1990er und 2000er Jahren gab es auch im Gebiet Rostov immer wieder Proteste. Sie hatten ökologische, soziale oder auch nationalistische Ziele. Mit Ausnahme der Bewegung der Bergleute in den 1990er Jahren blieben diese aber meist isoliert. Es gelang nicht, die Proteste zu verstetigen oder eine dauerhafte Zusammenarbeit anzustoßen – weder mit den kaum institutionalisierten oppositionellen Parteien noch mit den Behörden. Jedes zivilgesellschaftliche Engagement fand unter der höchst realistischen Aussicht auf Repressionen durch Polizei und Geheimdienst statt. Mitglieder der Wahlbeobachtungsorganisation Golos sahen sich hier schon lange vor den Bolotnaja-Protesten immer wieder Einschüchterungsversuchen ausgesetzt: Polizei und FSB klopften regelmäßig bei den jungen Aktivisten und drohten, ihnen an ihren Arbeitsstellen und in der Universität Probleme zu bereiten.[33] Auch altgediente Perestrojka-Veteranen berichteten von Bespitzelung, regelmäßigen Verhören und Arresten.[34]
In diesem Klima blieb jedes zivilgesellschaftliche Engagement prekär und marginal. Der einzige Versuch dauerhafter Mobilisierung war eine kleine Gruppe „Nichtsystemoppositioneller“, also solcher, die keiner in der Duma vertretenen Oppositionsparteien angehören, die unermüdlich kleine Mahnwachen („pikety“) zu Wahlen, politisierten Gerichtsprozessen oder Freiheitsbeschränkungen abhielten – etwa im Rahmen der Strategija-31– und dabei immer das Risiko von Verhaftung in Kauf nahmen. Ihr Repertoire an Aktionsformen war auf Protestkundgebungen beschränkt – und damit viel schmaler als das in Perm’. Sie brachten selten mehr als 30–40 Personen zusammen.
Diese kleine Gruppe war – typisch für politische Protestallianzen – weltanschaulich enorm heterogen und spiegelte damit die Bandbreite der Moskauer Strategija-31: einige waren Mitglieder liberaler Gruppen wie Solidarnost’ oder der Vereinigten Bürgerfront, einige gehörten zu Sergej Udal’covs Linker Front, und wieder andere waren Anhänger der im Jahr 2007 verbotenen Nationalbolschewistischen Partei, die faschistische und sozialistische Ideologiefragmente mit provokativer Punk-Ästhetik verschmolz.[35] Die Mitglieder dieses informellen Bündnisses überbrückten ihre politischen Differenzen, indem sie ihre gemeinsamen Aktionen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzierten: Kremlkritik und die Forderung nach Versammlungsfreiheit. Im repressiven politischen Klima blieb diese Allianz marginal: es gelang ihr nicht, stabile Beziehungen zur parteipolitischen Opposition (soweit diese überhaupt existierte), zu Trägern sozialer Proteste und zur städtischen Bevölkerung aufzubauen.
Die Bolotnaja-Proteste in Rostov waren weit weniger produktiv als die in Perm’. Sie begannen mit einem über VKontakte organisierten Protestmarsch einiger Hundert junger Menschen und zogen sich mehrere Wochen hin, ohne dass die kleine Gruppe protesterfahrener Aktivisten Zugang zu den Newcomern fand. Erst am 24. Dezember mischten sich die Generationen und organisierten gemeinsam die weiteren Demonstrationen, die in Rostov jedoch deutlich kleiner ausfielen als in Perm’. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass die Proteste nicht zentralisiert wurden und damit auch nicht in einer neuen Organisation gebündelt wurden. Stattdessen klangen die Bolotnaja-Proteste, beschleunigt durch Drohungen der Universitätsleitungen gegen sich engagierende Studentinnen und Studenten, im Frühjahr 2012 wieder ab. Mit Ausnahme eines Ablegers der Moskauer Organisation Graždanin Nabljudatel’, die jedoch nach dem Rückzug ihrer Anführerin schnell zerfiel, hinterließ diese Episode keine bleibenden institutionellen Spuren.
Gleichwohl nahm die lagerübergreifende politische Mobilisierung in der Stadt später zu. Das war die Folge von Russlands Annexion der Krim und des Kriegs in der Ostukraine. Zum einen flüchteten zahlreiche Menschen aus dem benachbarten Gebiet Donec’k nach Rostov, zum anderen gingen vom Gebiet Rostov aus tatsächlichen oder vermeintlichen Kosakenverbänden Aktionen zur Unterstützung der Separatisten aus. Diese Aktivitäten lösten Gegendemonstrationen des kleinen Anti-Kriegs-Lagers aus. Der Umgang mit dem Krieg in der Ostukraine führte zur Spaltung der jahrelang stabilen, ideologieübergreifenden Protestallianz: Während Liberale und moderate Linke sich gegen die russländische Intervention in der Ukraine wandten, unterstützten die Nationalbolschewisten die Separatisten; einige reisten gar als freiwillige Kämpfer in den Donbass.
Ein zweites mobilisierendes Moment war der Mord an dem liberalen Oppositionspolitiker Boris Nemcov im Februar 2015. Beide Ereignisse führten zur Politisierung junger Menschen, die sich zum Teil in einer neuen Regionalgruppe von Michail Chodorkovskijs Organisation Offenes Russland engagierten. Von dort gingen einige 2017 in Aleksej Naval’nyjs lokales Wahlkampfbüro. Während sich dieses in Perm’ aus Bolotnaja-Aktivistinnen rekrutierte, setzte sich der Kern der Naval’nyj-Aktivisten in Rostov aus noch jüngeren Leuten zusammen. Eine selbst erst knapp 30-jährige ehemalige Bolotnaja-Aktivistin erklärte im Interview erstaunt: „Das sind völlig neue Leute, ich glaube, sie erinnern sich nicht an Bolotnaja […] Sie lernen alles von Grund auf neu.“[36] Selbst den Umgang mit dem hohen Maß an Repression.
Schlussbetrachtung
Seit Putins Machtantritt haben sich Protest und Regime in einem „Tanz der Gewalten“ gegenseitig in ihrer Entwicklung beeinflusst. Einerseits hat das Regime durch die Errichtung der Machtvertikale und die Trennung zwischen erwünschtem und unerwünschtem zivilgesellschaftlichem Engagement enge Rahmenbedingungen geschaffen, innerhalb derer sich Protest zumeist bewegt. Die „moralische Wende“ infolge der Bolotnaja-Proteste zeigt aber, dass auch unter diesen Bedingungen Protestierende das Regime zur Reaktion zwingen können. Die Antwort des Kreml auf Bolotnaja hatte in Moskau wie in den Regionen freilich oft die von den Protestierenden unbeabsichtigte Folge, dass die ohnehin schon schmalen politischen Allianzen weiter gespalten wurden – in Befürworter und Gegner der Krim-Annexion – und dass der Spielraum für Dissens insgesamt kleiner wurde. Auch aufgrund der Reaktion des Regimes entwickelte sich das Potential der Bolotnaja-Proteste nicht zu intensiveren Aktivitäten vor Ort.[37]
Zugleich zeigt sich, dass diese landesweite Entwicklung je nach lokalen Bedingungen und Protestnetzwerken unterschiedlich verlief. In einigen Regionen haben die Proteste zur Entwicklung der lokalen Zivilgesellschaft beigetragen.[38] Interviews mit Naval’nyj-Aktivisten legen allerdings nahe, dass seit 2017 die Repression gegen politisch Engagierte auch dort zunimmt, wo Behörden und Aktivisten zuvor relativ friedlich koexistierten.
Trotz des schwierigen Umfelds hat Protest immer wieder Erfolg. Dieser bezieht sich aber in der großen Mehrheit auf konkrete Anliegen – etwa die Verhinderung der Mülldeponie und die Entlassung des Gouverneurs in Archangel’sk oder die Freilassung des zu Unrecht des Drogenhandels beschuldigten Journalisten Ivan Golunov im Sommer 2019.[39] Wenn breite, anhaltende Proteste politische Veränderungen erzielen sollen, setzt das voraus, dass die Träger des Protests nicht nur die existierenden politischen und sozialen Spaltungen untereinander vorübergehend überwinden, sondern auch, dass in der Bevölkerung die Unterstützung für Vladimir Putin und sein Regime deutlich zurückgeht und eine für viele Menschen tragbare politische Alternative existiert. All das ist auch in einem stabilen autoritären Umfeld kaum vorhersehbar. Allerdings werden Proteste solche Entwicklungen wohl eher begleiten als auslösen.
[1] Ora John Reuter, Graeme B. Robertson: Legislatures, Cooptation, and Social Protest in Contemporary Authoritarian Regimes, in: The Journal of Politics, 1/2015, S. 235–48. – Jan Matti Dollbaum: Curbing Protest through Elite Co-Optation? Regional Protest Mobilization by the Russian Systemic Opposition during the „for Fair Elections“ Protests 2011–2012, in: Journal of Eurasian Studies, 2/2017, S. 109–22.
[2] Karin Kleman [= Carine Clément], Ol’ga Mirjasova, Andrej Demidov: Ot obyvatelej k aktivistam: Zaroždajuščiesja social’nye dviženija v sovremennoj Rossii. Moskva 2010.
[3] Graeme B. Robertson: Protesting Putinism: The Election Protests of 2011–2012 in Broader Perspective, in: Problems of Post-Communism, 2/2013, S. 11–23.
[4] Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. Berlin 2013.
[5] Robertson, Protesting Putinism [Fn. 3].
[6] Hans-Henning Schröder: Landesweite Proteste gegen die Monetarisierung von Sozialleistungen, in: Russlandanalysen, 53/2005, S. 7. – Proteste gegen die Sozialreformen, in: ebd., S. 8–11.
[7] Graeme B. Robertson: Managing Society: Protest, Civil Society, and Regime in Putin’s Russia, in: Slavic Review, 3/2009, S. 528–47.
[8] Robert Horvath: „Sakharov Would Be with Us“: Limonov, Strategy-31, and the Dissident Legacy, in: The Russian Review, 4/2015, S. 581–98.
[9] Ebd., hier S. 582.
[10] Andreas Schedler: Authoritarianism’s Last Line of Defense, in: Journal of Democracy, 1/2010, S. 69–80.
[11] Gabowitsch, Putin kaputt [Fn. 4]. – Maksim Aljukov, Svetlana Erpyleva, Anna Želnina, Oleg Žuravlev, Margarita Zavadskaja (Hg.): Politika Apolitičnych: Graždanskie Dviženija v Rossii 2011–2013 godov. Moskva 2015. – Jan Matti Dollbaum: Gekommen, um zu bleiben? Ablauf und Entwicklung des Protestzyklus 2011–2013 in den russischen Regionen, in: Oleksandr Zabirko, Jakob Mischke (Hg.): Aufbruch und Resignation in Russland und der Ukraine: Protestbewegungen im langen Schatten des Kreml. Stuttgart 2020, S. 67–102.
[12] Gabowitsch, Putin kaputt [Fn. 4].
[13] Carine Clément: Auf die Straße gehen oder schweigen: Proteste in Russland heute, in: Protest in Russland – ein Multimedia-Dossier, 2019, <https://protest.dekoder.org/themen>.
[14] Samuel A. Greene: Beyond Bolotnaia: Bridging Old and New in Russia’s Election Protest Movement, in: Problems of Post-Communism, 2/2013, S. 40–52.
[15] Fabian Burkhardt, Jan Matti Dollbaum: Der Bolotnaja-Prozess, in: Kurt Groenewold, Alexander Ignor, Arndt Koch (Hg.): Lexikon der Politischen Strafprozesse, 2018.
[16] Vladimir Gel’man: The Politics of Fear, in: Russian Politics & Law, 5–6/2015, S. 6–26.
[17] Grigorij Ochotin, Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 83–94. – Was eine „politische Tätigkeit“ ist, legt das Justizministerium fest.
[18] Gulnaz Sharafutdinova: The Pussy Riot Affair and Putin’s Démarche from Sovereign Democracy to Sovereign Morality, in: Nationalities Papers, 4/2014, S. 615–621.
[19] Ebd., S. 616. – Marina Zatejčuk: Tekst prigovora Pussy Riot. Republic.ru, 22.8.2012.
[20] Sharafutdinova, The Pussy Riot Affair [Fn. 18], S. 617.
[21] Samuel A. Greene, Graeme B. Robertson: Putin V. the People: The Perilous Politics of a Divided Russia. New Haven 2019, hier S. 37. – Zur Instrumentalisierung der Homophobie als Form der Xenophobie grundlegend: Spektralanalyse. Homosexualität und ihre Feinde. Osteuropa, 10/2013.
[22] Rede von Präsident Vladimir Putin zur Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation, in: Osteuropa, 5–6/2014, S. 87–99. – Rede von Wladimir Putin. Mit Kommentaren von 13 Wissenschaftlern. Archipel Krim. Ein Multimedia-Dossier, 2019, <https://crimea.dekoder.org/rede>.
[23] Mischa Gabowitsch, Luzia Tschirky: „Man protestiert nicht nur, um strategisch ein Ziel zu erreichen“: Interview mit Mischa Gabowitsch, in: Protest in Russland – ein Multimedia-Dossier, 2019, <https://protest.dekoder.org/protest-luzia-tschirky-mischa-gabowitsch>.
[24] Oleg Zhuravlev, Natalia Savelyeva, Svetlana Yerpyleva: The Cultural Pragmatics of an Event: The Politicization of Local Activism in Russia, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, 1/2020, S. 163–180. – Jan Matti Dollbaum, Andrey Semenov, Elena Sirotkina: A top-down movement with grass-roots effects? Alexei Navalny’s electoral campaign, in: Social Movement Studies, 5/2018, S. 618–625.
[25] Die beiden Fallstudien basieren auf Jan Matti Dollbaum: Life after the End of a Protest Cycle: Comparing Local Trajectories of Protest Institutionalization in Electoral Authoritarianism – the Case of Russia 2011–2016. Dissertationsschrift, Universität Bremen 2020. Für die Dissertation wurden 65 Interviews mit Teilnehmern und Beobachtern der Bolotnaja-Proteste in Perm’, Sverdlovsk, Saratov und Rostov geführt.
[26] Andrej Nikitin: Perm’: Rodina Rossijskogo Liberalizma. Moskva 2004.
[27] Vitalij S. Kovin: Stilistika graždanskoj žizni Permi, in: Elena Tregubova (Hg.): Perm’ kak stil’: prezentacii permskoj gorodskoj identičnosti. Perm’ 2013, S. 175–199.
[28] Nicht zu verwechseln mit den seit Mitte der 2000er Jahre staatlich eingerichteten Gesellschaftskammern.
[29] Igor Averkiev: Permskie Pravila Povedenija, 10.11.2004, <www.prpc.ru/averkiev/041110.shtml>.
[30] Dabei spielte die auf Ausgleich und Balance ausgerichtete innere Struktur des Rats des 24. Dezember eine Rolle. Dollbaum, Life after the end of a protest cycle [Fn. 25].
[31] Interview mit einem NGO-Aktivisten, Perm, 20.9.2017.
[32] Interviews mit einem Politologen und einem Unternehmer, Rostov, 18.11.2017.
[33] Interview mit dem lokalen Golos-Koordinator, 21.11.2017.
[34] Interviews mit Aktivisten, 16.11.2017 und 25.6.2018.
[35] Fabrizio Fenghi: Making Post-Soviet Counterpublics: The Aesthetics of Limonka and the National-Bolshevik Party, in: Nationalities Papers, 2/2017, S. 182–205.
[36] Skype-Interview mit einer Aktivistin, 19.6.2019.
[37] Virginie Lasnier: Russia’s Opposition Movement Five Years After Bolotnaia, in: Problems of Post-Communism, 5/2018, S. 359–71.
[38] Jan Matti Dollbaum: Protest Trajectories in Electoral Authoritarianism: From Russia’s „For Fair Elections“ Movement to Alexei Navalny’s Presidential Campaign, in: Post-Soviet Affairs, 9.4.2020.
[39] „Nach anhaltenden Protesten seit Herbst 2018 erklärte ein Berufungsgericht im Januar 2020 den Bau der Mülldeponie für ungesetzlich. Der im Frühjahr 2020 neu eingesetzte kommissarische Gouverneur sprach sich dann Ende April gegen die Fortführung des Bauprojekts aus.“ Musornyj protest v Šiese. Bez golovy, no v licach. Fontanka, 4.6.2019. – Zu den Protesten in Archangel’sk und zu jenen für Ivan Golunov: Clément, Auf die Straße gehen [Fn. 13].
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