Titelbild Osteuropa 7-9/2020

Aus Osteuropa 7-9/2020

Editorial
Der schnelle und der langsame Klimawandel


Abstract in English

(Osteuropa 7-9/2020, S. 5–6)

Volltext

Russlands Raum und seine Ressourcen scheinen unendlich. Grenzenlos schienen auch die Fähigkeiten des Menschen, den Raum zu beherrschen, die Ressourcen zu nutzen und sich die Erde untertan zu machen. Es entstanden gigantische Projekte mit desaströsen Folgen für Mensch und Natur. Ganze Landstriche wurden im 20. Jahrhundert vergiftet und verwüstet. Doch darüber zu sprechen, war in der Sowjetunion lange Zeit tabu. Mahnungen hatte es zu allen Zeiten gegeben. Unter den Bedingungen der Zensur konnten sie in der Sowjetunion oft nur in Romanen artikuliert werden. Erst Michail Gorbačevs Politik der Glasnost’ ermöglichte in den 1980er Jahren die Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Entstehung einer Umweltbewegung.

Die Machbarkeitsutopien der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sind nicht gänzlich überwunden. Aber das Bild ist heute wesentlich differenzierter. Ökonomie und Ökologie gelten auch in Russland nicht mehr als unversöhnlicher Gegensatz. Technologischer Fortschritt wird nicht mehr automatisch mit Umweltzerstörung gleichgesetzt. Langsam fasst auch in Russland der Nachhaltigkeitsgedanke Fuß.

Das Thema Umweltpolitik ist komplexer geworden. Naturschutz, Umweltschutz, Schutz der natürlichen Ressourcen und Schutz der Lebensumwelt des Menschen sind nicht ohne die Erkenntnisse der verschiedensten Wissenschaften zu denken. Umweltwissenschaft ist per definitionem interdisziplinär. Dies mag das vorliegende Osteuropa-Themenheft bisweilen sperrig machen. Doch Daten zu Treibhausgasemissionen und zur Entwicklung des Waldbestands, Statistiken zum Auftreten von Krankheitsbildern in radioaktiv belasteten Gebieten und zur Menge der Siedlungsabfälle, Schätzungen des Windkraftpotentials und der Investitionskosten für Müllsortieranlagen – all dies liefert erst die Grundlage für eine solide Bewertung der Umweltsituation und der Umweltpolitik in Russland.

Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv sowie von Gesellschaft und Staat gerät in den Texten dieses Bandes dennoch nie aus dem Blick. Bürger und Behörden, Umweltverbände und Großkonzerne ringen um den Ausgleich ihrer Interessen und um die Definition des Gemeinwohls. Alle Studien zeigen: Auch in Russland wächst das ökologische Bewusstsein in der Gesellschaft. Umweltfragen stehen im Zentrum vieler politischer Konflikte. Doch die Bedingungen des politischen Wettbewerbs sind sehr ungleich. Dies hat zwei Gründe. Zum einen ist Russland noch immer weit vom postindustriellen Zeitalter entfernt. Die Rohstoffförderung und die Hüttenindustrie sind zentrale Wirtschaftszweige. Der Export von Erdöl und Erdgas liefert einen erheblichen Beitrag zum Staatshaushalt, die Ausfuhr von Kohle wurde in den vergangenen Jahren massiv gesteigert, bei vielen Metallen gehört Russland zu den größten Produzenten weltweit.

Zum anderen sind der autoritäre Staat und die mächtige Großindustrie in Russland aufs Engste verflochten. Im neopatrimonialen Herrschaftsgefüge ist das Recht nur allzu oft ein Instrument der Herrschenden, dem Bürger bietet es wenig Schutz. Staatliche Umweltbehörden sind schwach, wie der Ölunfall Ende Mai in Noril’sk erneut zeigte. Umweltverbände werden als ausländische Agenten diffamiert, Umweltschützer bedroht und verfolgt. Nadežda Kutepova, die heute in Frankreich lebt und in diesem Band über die Atomfabrik Majak im Ural berichtet, sowie Anton Lementuev, der die Umweltorganisation Ėkozaščita! im Kohlerevier Kuzbass leitet, können davon ein Lied singen.

Gleichwohl finden Menschen, deren Lebensumwelt durch Kohlebergbau, Erzverhüttung, Atomanlagen, Müllkippen oder Autobahnen zerstört wird, ab und an Gehör. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Staatsführung fürchtet, die Unterdrückung des Protests könnte sich allzu negativ auf ihr Ansehen auswirken. Auch nutzt das Regime Umweltauflagen, um in Konflikten mit Industriebossen diese unter Druck zu setzen.

Die große Rolle der Schwerindustrie und die Rücksichtslosigkeit der Behörden bei der Planung neuer Projekte haben auch zur Folge, dass die Themen der Umweltbewegung meist andere sind als in Westeuropa. Die Verpestung, Vergiftung oder Vermüllung der unmittelbaren Lebensumwelt sind in Russland von großer Bedeutung. Globale Themen, allen voran der Klimaschutz, spielen eine nachgeordnete Rolle. Doch auch dies beginnt sich zu ändern. Wie eng das Globale und das Lokale zusammenhängen, zeigt einmal mehr das Beispiel der Kohle. Die Europäische Union sieht sich als Vorreiter einer globalen Klimapolitik. Doch „Ausstieg aus der Kohle“ heißt allzu oft nur „Ausstieg aus der Kohleförderung“. So sind die Kohleimporte aus Russland in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Und diese Kohle kommt zum allergrößten Teil aus dem Kuzbass, wo eine ganze Region in Tagebauen versinkt und Zehntausende Menschen unter dem Dreck und dem Lärm der Förderbagger, Tieflader und Eisenbahnwaggons leiden, mit denen die Kohle über Tausende Kilometer zu den Häfen am Pazifik, an der Barentssee und am Schwarzen Meer transportiert wird. Russlands Kohleindustrie setzt, wie Ellie Martus und Stephen Fortescue zeigen, mit hohem Einsatz darauf, dass die Kohleförderung weltweit zurückgeht, internationale Klima­politik aber scheitert und die Nachfrage nach ihrem Rohstoff daher steigt.

Ähnlich hoch pokert auch Russlands Atomindustrie, die weltweit Kraftwerkstechnik und Dienstleistungen im gesamten Zyklus von der Bereitstellung der Brennstäbe bis zu ihrer Wiederaufbereitung verkaufen will. Vladimir Slivjak demonstriert, dass die meisten dieser Projekte wirtschaftlich unsolide sind. Russlands staatliche Exportbanken treten mit hohen Krediten in Vorlage. Sie tun das nicht zuletzt, weil der Kreml den Verkauf von Atomtechnik als geopolitischen Machtgewinn betrachtet. Ob Russland die Schulden jemals zurückerhält, hängt davon ab, ob Staaten wie Belarus, wo gerade ein von Rosatom errichtetes AKW in Betrieb genommen wurde, in Zukunft Strom exportieren können. Der weltweite Ausbau erneuerbarer Energien ist daher ein Wettlauf mit der Zeit. Kommt der Ausstieg aus der Kohleverstromung zum Zwecke des Klimaschutzes rascher, als der Aufbau entsprechender Wind-, Solar- und Geo­thermiekraftwerke gelingt, so könnte die Wette der russländischen Atomindustrie aufgehen.

Eines darf beim Nachdenken über diese Zusammenhänge nicht vergessen werden: Russland ist immer noch ein Land, in dessen Weiten sich Hunderttausende Quadrat­kilometer unberührte Natur finden – Tundra und Taiga mit ihren einzigartigen, oft sehr empfindlichen Ökosystemen. Systemökologie und der Schutz bedrohter Tierarten oder die Erhaltung eines Landschaftsbilds passen gelegentlich nicht zusammen. Stichwort Windparks. Aber es handelt sich nicht um einen grundsätzlichen Gegensatz. Dies demonstrieren Albrecht Bemmann, Vladimir Petrov und Markus Radday in ihren Texten, in denen sie die Ökonomie und Ökologie des Waldes in einer nachhaltigen Perspektive verbinden.

Berlin, im November 2020                                            

Manfred Sapper, Volker Weichsel