Titelbild Osteuropa 10-12/2021

Aus Osteuropa, 10-12/2021

Editorial
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Abstract in English

(Osteuropa, 10-12/2021, S. 3–4)

Volltext

Sanktionen! Führt Diplomatie alleine nicht zum Ziel, sind sie das Mittel der Wahl, um Autokraten und Aggressoren ihr Handwerk zu erschweren. Sie sollen ein Zeichen setzen, zielgenau jene treffen, die für Gewalt und Repression verantwortlich sind. Und sie sollen die Regime zum Einlenken zwingen.

In der Tat: Wie anders soll die demokratische Staatengemeinschaft reagieren, wenn Gewaltherrscher Territorien besetzen, Kriege anfachen, friedliche Protestbewegungen niederschlagen und Menschenrechte mit Füßen treten? Wenn sie nicht tatenlos zuschauen will, militärische Mittel aber mit guten Gründen ausgeschlossen hat?

So fraglos das Ziel ist, so klar ist auch, dass das Nachdenken über Sanktionen nicht bei den Motiven enden darf. Die wichtigsten Fragen lauten: Entfalten Einreiseverbote, Kontensperrungen, Ein- und Ausfuhrverbote oder Beschränkungen auf dem Kapitalmarkt die beabsichtigte ökonomische Wirkung? Wenn ja: Wird auch der politische Zweck erreicht? Oder zeigen sich sanktionierte Regime widerstandsfähig und verschärfen die Repressionen gegen die eigene Bevölkerung und jenen Teil der eigenen Elite, in dem sich Zweifel regt? Sind die Unternehmen in der Lage, Güter, die sie nicht mehr importieren können, im eigenen Land herzustellen? Finden sie neue Technologielieferanten, Investoren und Absatzmärkte? Können Russland und Belarus ein eigenes Zahlungssystem aufbauen? Spielen Sanktionen am Ende autokratischen Regimen in die Hände, indem sie es ihnen nur leichter machen, sich von den demokratischen Staaten abzuschotten, ihre Gesellschaften gegen diese aufzuwiegeln?

Unter den Autoren des vorliegenden Bandes überwiegt die Skepsis: ganz gleich ob sie aus historischer, völkerrechtlicher, volkswirtschaftlicher oder politikwissenschaftlicher Perspektive auf Sanktionen und ihre Wirkung blicken, ob sie den Fall Russland oder den Fall Belarus betrachten, ob sie mit quantitativen oder qualitativen Methoden arbeiten, ob sie aus zahlreichen Analysen eine Metastudie erstellen oder minutiös die Reaktion des Lukašenka-Regimes verfolgen, das seit vielen Jahren Erfahrungen mit Sanktionen hat.

Diese Skepsis ist weder das Ergebnis einer spezifischen Auswahl von Expertinnen und Experten noch Ausdruck einer politischen Einstellung. Keiner macht sich Illusionen über den Charakter der Regime in Moskau und Minsk. Die Skepsis ist das Ergebnis empirischer Beobachtungen. Zugleich zeigen die Studien dieses Bandes, dass das Sanktionsinstrumentarium, das gegen Russland und Belarus eingesetzt werden kann, bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Und es mangelt an Kohärenz, Konsistenz und Konsequenz. Hier kommen die politischen und ökonomischen Kosten in den Blick, die Sanktionen für jene Staaten haben, die sie verhängen. Fest steht: Je enger die ökonomische Verflechtung, desto höher ist das Potential, durch das Kappen von Verbindungen Schaden zu erzeugen. Dies bedeutet aber auch, dass der Preis, den man selbst für die Verhängung restriktiver Maßnahmen zahlen muss, hoch ist. Nicht zufällig spricht in Europa kaum jemand davon, die Öl- und Gasimporte aus Russland einzustellen, obwohl der Kreml damit doch an seiner empfindlichsten Stelle getroffen werden könnte. Umgekehrt ist die Pipeline Nord Stream 2 deswegen ganz oben auf der Liste der Sanktionsdrohungen, weil eine Verweigerung der Betriebsgenehmigung gar keine Folgen hätte. Europas Erdgasversorgung hängt nicht von dieser Pipeline ab, sie eröffnet lediglich eine neue Route.

Eine Sonderrolle in der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland spielen die USA. Dies hat drei Gründe. Zum einen sind sie ökonomisch viel weniger mit Russland verflochten als viele europäische Staaten. Dass Washington gleichwohl ein scharfes Sanktionsschwert in der Hand hält, liegt an den sogenannten Sekundärsanktionen. In diesem Instrument spiegeln sich das Selbstverständnis und Potential der USA als Weltordnungsmacht: Washington setzt Unternehmen, die sich nicht an unilaterale Sanktionsbeschlüsse halten, ebenfalls auf die Liste der sanktionierten natürlichen und juristischen Personen. Und zwar auch dann, wenn sie nicht in den USA beheimatet sind. Völkerrechtlich ist dies umstritten. Die Drohung mit der Listung als „Specially Designated National“ oder „Blocked Person“ wirkt so abschreckend, dass weltweit Unternehmen den US-Sanktionen folgen, weil sie fürchten, den Zugang zum US-Markt zu verlieren. Dies erlaubt es den USA, restriktive Maßnahmen zu verhängen, deren Kosten sie nicht selbst tragen müssen. Die europäische Situation ist anders: Aus Rücksicht auf Litauen hat die EU nur bestimmte Kalidünger-Sorten in die Liste ihrer gegen das belarussische Regime gerichteten sektoralen Sanktionen aufgenommen. Und dies, obwohl Belarus mit einem umfassenden Dünger-Embargo am härtesten zu treffen wäre und Litauen an vorderster Front Sanktionen fordert. Doch der Kalidünger-Umschlag über den litauischen Hafen Klaipėda spielt eine wichtige Rolle in dem kleinen Land.

Ein drittes Moment unterscheidet die US-Sanktionspolitik von jener der EU. Die Europäische Union betrachtet Sanktionen als Druckmittel, um ein Einlenken in konkreten Fragen zu erreichen, etwa die Freilassung politischer Gefangener. Die USA hingegen führen mit Sanktionen den Kampf mit Gegnern. „Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act“ heißt eines der Gesetze, das die Rechtsgrundlage für US-Sanktionen bildet. Diese Sichtweise wird in Europa am ehesten in Polen geteilt. Nuancierte Überlegungen zur Wahrnehmung der Sanktionen in der Bevölkerung von Belarus oder Russland oder die Sorge vor Ausweichmanövern spielen kaum eine Rolle. Die politischen Führungen in Minsk und Moskau sollen nicht zur Räson gebracht werden. Dies gilt als aussichtslos. Sie sollen eingedämmt und – im Falle von Belarus – in die Knie gezwungen werden.

Dies entspricht der Sichtweise, welche die politischen Führungen in Minsk und Moskau selbst auf die Sanktionen haben. Sie sehen sie als ein geopolitisches Instrument, und bei Geopolitik sind sie in ihrem Element. Das Bild von der belagerten Festung ist fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Drei Viertel der Menschen in Russland sind der Ansicht, Ziel der Sanktionen sei es, Russland zu schwächen und zu demütigen. Gleichzeitig betonen die Presseabteilungen der Regime selbstverständlich, dass dies nicht gelingen kann. In Belarus werden Daten, aus denen sich der Schaden ablesen ließe, den die Sanktionen anrichten, nicht mehr veröffentlicht. Um dies als Erfolg zu werten, muss man verdrängen, dass die Ausweichstrategien, die das Lukašenka-Regime zur Schadensbegrenzung sucht, das Land nur noch mehr in die Abhängigkeit von Russland treiben kann. Und das Regime in Moskau ist aufgrund der schieren Größe der russländischen Volkswirtschaft nicht in die Knie zu zwingen.

So bleibt ein ernüchternder Befund. Über den Charakter der Regime in Moskau und Minsk macht sich niemand mehr Illusionen. An Wandel durch Handel glaubt keiner mehr. Dass Wandel, selbst Erleichterungen für die Menschen, durch Zwang zu erreichen sind, ist jedoch ebenfalls zweifelhaft.

Berlin, 15.2.2022                                                        

Manfred Sapper, Volker Weichsel