Titelbild Osteuropa 10-12/2021

Aus Osteuropa, 10-12/2021

Abhängig oder nicht abhängig?
Erdgas als Wirtschaftsgut, Druckmittel und Sanktionsinstrument

Heiko Pleines

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Abstract in English

Abstract

Die Volkswirtschaften der EU und Russlands sind über den Erdgashandel eng miteinander verflochten. Der Transport von Flüssiggas mit Tankern, die Liberalisierung des Erdgasmarkts und die Ergänzung des Pipelinenetzes in Europa um neue Verbindungsleitungen ermöglichen es, auf eine Einstellung der Erdgaslieferungen zu reagieren. Gleichwohl hätte ein Lieferstopp für beide Seiten schwere Konsequenzen. Daher erwägt weder Moskau, Erdgas als Druckmittel im aktuellen Konflikt einzusetzen, noch wird in Brüssel ein Embargo auf den Import von Erdgas aus Russland ernsthaft in Erwägung gezogen. Ein Verbot des Betriebs der Pipeline Nord Stream 2 würde hingegen nur geringe Kosten verursachen, aber auch kaum Wirkung erzielen. Denn diese Leitung schafft nur einen anderen Transportweg, ohne dass sich an der Menge des bezogenen Erdgases etwas ändert.

(Osteuropa, 10-12/2021, S. 183–192)

Volltext

Osteuropa: Herr Pleines, der Erdgashandel mit Russland ist in aller Munde. Seit Jahren wird über die Pipeline Nord Stream 2 gestritten, immer wieder ist von Erdgas als „Waffe“ die Rede, die Russland einsetzen könne, von einseitiger Abhängigkeit, die den politischen Spielraum Deutschlands verringere. Welche Bedeutung hat Erdgas aus Russland für Deutschland? Wie steht Deutschland im europäischen Vergleich da?

Heiko Pleines: Zu unterscheiden ist zwischen dem Anteil von Lieferungen aus Russland am Erdgasverbrauch und dem Anteil an den Erdgasimporten. Im Falle von Staaten, in denen kaum Erdgas gefördert wird, ist der Unterschied zwischen den beiden Kennzahlen sehr klein. In Deutschland liegt der Anteil der eigenen Förderung am Verbrauch bei nur ca. fünf Prozent. Polen fördert aber immerhin etwa ein Viertel seines Erdgasverbrauchs selbst. Die Ukraine deckt nach einem deutlichen Rückgang des Verbrauchs im letzten Jahrzehnt heute weniger als die Hälfte ihres Erdgasbedarfs durch Importe.

Länder, die selbst kein oder kaum Erdgas fördern und nur an das aus Russland kommende Pipelinenetz angebunden sind, wie etwa Finnland und die baltischen Staaten oder auch die Slowakei, Tschechien, Ungarn und Österreich sind in Sachen Erdgas fast vollständig von Russland abhängig. Eine alternative Versorgung kann in diesen Staaten nur als Notfallmaßnahme organisiert werden. Andere EU-Länder können auch Erdgas aus der Nordsee oder dem Mittelmeerraum per Pipeline beziehen, so dass der Anteil des aus Russland importierten Erdgases geringer ist. Deutschland erhält aktuell gut die Hälfte des verbrauchten Erdgases aus Russland, ein Drittel kommt aus Norwegen, gut zehn Prozent aus den Niederlanden und die restlichen fünf Prozent aus eigener Produktion. Im Durchschnitt aller EU-Staaten liegt der Anteil der Lieferungen aus Russland am Erdgasverbrauch bei knapp 40 Prozent.

Wichtig ist, dass diese Zahlen nur eine Momentaufnahme sind. In Deutschland etwa ist der Verbrauch in den letzten zehn Jahren weitgehend stabil geblieben, der Anteil der eigenen Produktion hat sich jedoch halbiert. Dasselbe gilt für die Importe aus den Niederlanden. Die niederländischen Vorkommen in der Nordsee sind weitgehend erschöpft, so dass die Versorgung in Nordwestdeutschland derzeit auf Erdgas aus Russland umgestellt wird. Da die Lieferungen aus Norwegen konstant geblieben sind, ist der Anteil Russlands am Verbrauch gewachsen – in den letzten zehn Jahren von gut 30 Prozent auf jetzt über 50 Prozent.

In Polen ist der Erdgasverbrauch in den letzten zehn Jahren um etwa ein Viertel gestiegen. Die Pläne, die heimische Förderung mit der Erschließung von Schiefergasvorkommen zu steigern, mussten vor einigen Jahren nach enttäuschenden Probebohrungen, dem Absprung ausländischer Investoren und öffentlichem Widerstand begraben werden. So stammt heute nur etwa ein Viertel des Verbrauchs aus eigenen Quellen. Noch im Jahr 2010 wurde der gesamte zusätzliche Erdgasbedarf aus Russland importiert. Um die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren, hat Polen in den letzten Jahren die Infrastruktur für den Import von Flüssiggas aufgebaut. Flüssiggas, vor allem aus Norwegen und Katar, hat mittlerweile einen Anteil von über einem Viertel an den polnischen Erdgasimporten. Der Rest kommt weiter aus Russland.

Ein weiteres Moment, das bei der Bewertung der Abhängigkeit unbedingt berücksichtigt werden muss, ist die Rolle von Erdgas in der Gesamtenergiebilanz eines Landes. In Deutschland hat Erdgas derzeit einen Anteil von gut 25 Prozent am Primärenergieverbrauch, in Polen sind es etwas unter 20 Prozent. Die meisten der genannten Länder, die Erdgas aus Russland beziehen, liegen in dieser Bandbreite. In Finnland liegt der Anteil von Erdgas am Primärenergieverbrauch allerdings bei nur fünf Prozent. Das bedeutet: Finnland bezieht zwar das gesamte im Land verbrauchte Erdgas aus Russland. Ein Lieferausfall hätte gleichwohl weniger gravierende Folgen als in Polen und Deutschland, die 50 Prozent des Erdgasverbrauchs aus anderen Quellen decken.

Osteuropa: Der aktuelle Anteil von Erdgas aus Russland am Gas- und am Primärenergieverbrauch ist das eine. Eine andere Frage ist, wie schnell der Anteil im Falle eines vollständigen Lieferausfalls durch alternative Bezugsquellen oder eine Substitution von Erdgas durch andere Energieträger gesenkt werden kann. Wie ist die Lage ‒ ein Jahrzehnt nach Beginn der Liberalisierung des Erdgas-Markts in der EU und in Zeiten von Flüssiggas, das auf Spotmärkten gehandelt und per Tanker transportiert wird?

Pleines: Der europäische Erdgasmarkt ist im letzten Jahrzehnt tatsächlich deutlich flexibler geworden. Ein Grund ist schlicht technischer Fortschritt. Die Kosten für die Anlagen zur Verflüssigung von Erdgas und für den Transport von Flüssiggas per Tanker sind so weit gesunken, dass das auf diese Weise transportierte Erdgas mit jenem, das über Pipelines geliefert wird, konkurrieren kann. Für den Import von Flüssiggas sind jedoch spezielle Hafenterminals erforderlich, wo das flüssige Erdgas wieder in gasförmigen Zustand zurückgeführt, gespeichert und in das Leitungsnetz eingespeist werden kann. In Deutschland gibt es bisher nur Pläne für den Bau entsprechender Terminals. Da solche Projekte lange Vorlaufzeiten haben, könnte ein Terminal in Deutschland frühestens im Jahr 2026 den Betrieb aufnehmen.

Der zweite Grund für die größere Flexibilität ist die Liberalisierung des Erdgasmarkts. Ähnlich wie bei der Telekommunikation und der Elektrizität hat die Europäische Union die Betreiber der Leitungsnetze verpflichtet, allen Anbietern gleichberechtigten Zugang zu ihren Pipelines zu gewähren. Daher können deutsche Abnehmer auch Flüssiggas kaufen, das zum Beispiel per Tanker in die Niederlande geliefert wurde. Zusätzlich sind nach der kurzzeitigen Unterbrechung der Gaslieferungen aus Russland infolge des Preiskonflikts zwischen Gazprom und der Ukraine im Jahre 2009 die Erdgaspipelines aus Russland auf dem Gebiet der EU so aufgerüstet worden, dass die Fließrichtung umgekehrt werden kann. Wenn also aus Osten kein Erdgas kommt, kann solches aus dem Westen in die östlichen EU-Mitgliedsländer und in kleineren Mengen auch bis in die Ukraine geliefert werden. Engpässe in der Erdgasversorgung eines Landes können daher durch Versorgung über den EU-Markt aufgefangen werden. Als Gazprom die direkten Erdgaslieferungen nach Polen im Winter 2021 zeitweise einstellte, bezog Polen Erdgas aus Deutschland.

Osteuropa: Dieses an Polen gelieferte Erdgas kam ja sicher ganz oder teilweise aus der Nord Stream 1 Pipeline. Ketzerisch gefragt: Erhöht Nord Stream 2 die polnische Energiesicherheit?

Pleines: Definitiv nicht. Wenn das Erdgas nicht durch die Nord Stream Pipeline gekommen wäre, dann hätte Russland die Transitpipelines durch die Ukraine genutzt. Die Transitpipelines durch die Ukraine haben eine Kapazität von 150 Milliarden Kubikmeter. Die Jamal-Pipeline durch Polen ergänzt weitere 34 Milliarden Kubikmeter. Die gesamten Erdgasexporte aus Russland nach Europa hätten im Jahr 2021 nur über diese beiden Pipelines transportiert werden können. Nord Stream wird also nicht benötigt. Es geht Russland einfach um einen Transportweg, der die Ukraine vermeidet. Mit Pipelines durch die Ostsee und das Schwarze Meer hat Russland Exportkapazitäten geschaffen, die den Transit durch die Ukraine weitestgehend überflüssig machen, im Zweifelsfall aber auch den Transport durch Polen.

Osteuropa: Gazprom hat trotz hoher Preise und entsprechend hohen Gewinnmargen seit dem zweiten Halbjahr 2021 die zusätzliche Nachfrage auf dem europäischen Markt nicht bedient, so dass die Speicher in der EU vor dem Winter nicht den üblichen Füllungsstand hatten. Warum?

Pleines: Gazprom erklärt, dass es seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt. Das ist richtig. Allerdings zeigt der Verzicht auf die Lieferung zusätzlicher Erdgasmengen, für die Rekordpreise erzielt werden könnten, dass es Russland beim Erdgas nicht einfach um wirtschaftliche Interessen geht. Präsident Putin hat im Oktober 2021 zwar versprochen, dass die Lieferungen in die EU erhöht werden, sobald die Erdgasspeicher in Russland gefüllt seien. Das ist jedoch nicht passiert. Ein mündliches Versprechen ist zwar kein verbindlicher Vertrag. Aus Sicht der EU benimmt sich Russland allerdings nicht mehr wie ein verlässlicher Lieferant.

Dramatisch würde die Lage, sollten die Erdgaslieferungen aus Russland in die EU ganz eingestellt werden. Sei es, weil Russland seine vertraglichen Lieferverpflichtungen in einer eskalierenden Krise nicht mehr erfüllt, sei es, weil sich die EU auf entsprechende Sanktionen einigt. Ob das ein wahrscheinliches Szenario ist, steht auf einem anderen Blatt, hier geht es nur um die Auswirkungen.

In einem solchen Fall käme eine weitere Eigenschaft des Erdgasmarktes zum Tragen: die starken saisonalen Nachfrageschwankungen. Da ein großer Teil des Erdgases für das Heizen von Gebäuden benutzt wird, ist der Bedarf insbesondere in kalten Wintern deutlich höher als im Sommer. Deshalb gibt es große Erdgasspeicher, die im Sommer mit Erdgas befüllt werden. Bei mildem Winterwetter kann aus den Speichern auch bei dem gegenwärtigen geringen Füllstand der Bedarf zwei Monate gedeckt werden. Hinzu kommt, dass über die bestehenden Flüssiggasterminals in der EU mittlerweile zwei Drittel der über Pipelines aus Russland kommenden Lieferungen ersetzt werden können. Zusätzlich könnten die Reserven in den Speichern geschont werden, indem Erdgas teilweise durch andere Energiequellen ersetzt wird. Ein außergewöhnlicher und langanhaltender Kälteeinbruch würde aber die Lage deutlich verschärfen.

Fest steht, dass bei weiteren Kürzungen der Lieferungen aus Russland die Preise noch viel stärker steigen würden, als dies jetzt schon der Fall ist. Zu bedenken ist auch, dass Importkapazitäten in Gestalt nicht ausgelasteter Flüssiggasterminals nicht automatisch bedeuten, dass tatsächlich Erdgas in dieser Menge importiert werden kann. Dies liegt daran, dass die Nachfrage in Asien sehr groß ist. Kurzfristig wäre deshalb lokal mit Ausfällen der Energie- und Wärmeversorgung zu rechnen. So hat der deutsche Energiekonzern RWE im Dezember 2021 vorsorglich gewarnt, dass es bei einigen, mit Erdgas betriebenen Elektrizitätskraftwerken in Nordrhein-Westfalen bei akutem Erdgasmangel zu Betriebsunterbrechungen kommen könnte.

Größere Probleme würden langfristig entstehen. Müssten die Speicher in diesem Winter wegen eines Importstopps vollständig geleert werden, könnten sie bei anhaltender Unterbrechung der Lieferungen aus Russland im Sommer auch unter Nutzung aller bestehenden Importkapazitäten kaum für den darauffolgenden Winter ausreichend befüllt werden. Daher müsste nicht nur der Import von Flüssiggas massiv gesteigert werden, sondern auch der Verbrauch von Erdgas reduziert werden.

Das Brüsseler Institut Bruegel kommt in einer umfassenden Studie vom Januar 2022 zu dem Schluss, dass „die EU den Verbrauch einschränken müsste, was schmerzhaft für einzelne Länder und Verbrauchergruppen wäre. Das wird Fragen nach einer fairen Verteilung der Lasten aufwerfen. Schwierige und teure Entscheidungen müssten getroffen werden, um die Situation geordnet zu regeln.

Osteuropa: Sollte die EU ein Moratorium auf die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 beschließen: Welche Folgen hätte dies für Russlands Erdgasexporte?

Pleines: Erst einmal gar keine. Zum einen ist Nord Stream 2 ja noch gar nicht in Betrieb und wird auch ohne politische Eingriffe nach aktuellem Stand frühestens im zweiten Halbjahr 2022 abschließend genehmigt sein. Zum anderen dient Nord Stream 2 nicht der Ausweitung der Exporte, sondern soll nur den Transportweg ändern. Mit den zusätzlichen Kapazitäten will Russland den Transit durch die Ukraine überflüssig machen. Das ist keine Interpretation, sondern das erklärte Ziel Russlands. Wenn Nord Stream 2 nicht in Betrieb geht und Russland seine Erdgaslieferungen in die EU nicht reduziert, dann wird weiterhin in geringem Umfang Erdgas aus Russland durch die Ukraine geliefert werden müssen. Die ukrainische Regierung hat diesen Erdgastransit immer als Rückversicherung gegen einen Einmarsch russländischer Truppen gesehen. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass nicht klar ist, ob der Erdgastransit durch die Ukraine aufrechterhalten bliebe, wenn dort auf breiter Front gekämpft würde.

Osteuropa: Gibt es staatliche Notfallpläne, was im Fall einer Unterbrechung der Lieferungen aus Russland zu tun wäre? Eine Priorisierung bestimmter Abnehmer von Erdgas, eine Steigerung der Importe aus anderen Ländern, die Substitution von Erdgas durch andere Energieträger, wo dies möglich ist?

Pleines: Der Erdgasmarkt ist privatwirtschaftlich organisiert und die Liberalisierung durch die EU macht direkte staatliche Eingriffe sehr schwierig. Eine Priorisierung von Abnehmern ist zunächst nicht vorgesehen. Vielmehr steigen die Preise. Der Staat kann dann, wie aktuell diskutiert, durch Steuersenkungen und Ausgleichszahlungen für bestimmte Verbrauchergruppen die höheren Ausgaben kompensieren. Grundsätzlich entscheiden die Wirtschaftsteilnehmer aber selbst, wie sie reagieren. Der Staat kann nur im Notfall eingreifen. Den Rahmen gibt eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2017 vor. Auf dieser Grundlage hat das deutsche Wirtschaftsministerium den „Notfallplan Gas“ entwickelt. Er setzt vor allem auf „marktbasierte Maßnahmen“. Er sieht aber als letztes Mittel auch staatliche Anordnungen zum Wechsel der Energieträger oder zur Einschränkung des Erdgasverbrauchs, bis hin zur Abkoppelung industrieller Großkunden, vor.

Ein geeignetes Mittel, um Knappheit und extremen Preissteigerungen am Erdgasmarkt im Falle eines Lieferausfalls vorzubeugen, wäre die Schaffung staatlicher Erdgasreserven. Bei Erdöl ist dies seit langem der Fall. Diese Reserven könnten bei knappem Angebot auf dem Markt verkauft werden. Dieser Vorschlag ist schon öfter diskutiert worden, auch nach der Kältewelle im Winter 2017/18.

Hier könnte auch die Ukraine einbezogen werden. Das renommierte Oxford Institute for Energy Studies hat in einer kleinen Studie gezeigt, dass die ukrainischen Erdgasspeicher im Jahr 2020 sehr nützlich waren, um Angebot und Nachfrage auf dem europäischen Markt auszugleichen. Die Ukraine hofft, dass ihre Erdgasspeicher langfristig für eine europäische Erdgasreserve genutzt werden. Die Oxforder Studie weist aber auch darauf hin, dass dazu erhebliche Investitionen erforderlich sind.

Osteuropa: Die Preise sind ein wichtiges Thema. Sind sie niedrig, gelten sie als politisch. Sind sie hoch, erst recht. Welche Preispolitik betreibt Gazprom?

Pleines: Hier muss zwischen dem EU-Markt und dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion unterschieden werden. Auf dem EU-Markt gibt es klare Regeln für die Preisbildung. Als die Bundesrepublik in den 1970er Jahren begann, Erdgas aus der Sowjetunion zu importieren, sollte dieses eine Alternative zu Erdöl bieten. Im Interesse der Abnehmer wurde der Lieferpreis für Erdgas über komplexe Formeln an den Preis für Erdöl gekoppelt. Sank der Erdölpreis, ging auch der Preis für das importierte Erdgas zurück und dieses blieb damit konkurrenzfähig. Als die EU den Erdgasmarkt in den 2000er Jahren liberalisierte, war diese strikte Preisbindung nicht mehr möglich. Da es keine Verbindung zwischen den Produktions- und Transportkosten für Erdgas und denen für Erdöl gibt, lag der Preis für Erdgas auf dem Spotmarkt Anfang der 2010er Jahre deutlich unter den Preisen, die sich aus den Formeln in den Verträgen mit Gazprom ergaben. RWE erreichte über ein Schiedsgerichtsurteil 2013 eine Aufhebung der Ölpreisbindung in den Lieferverträgen und erhielt von Gazprom eine Rückzahlung in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro, weil das Essener Unternehmen in den drei vorhergehenden Jahren Preise gezahlt hatte, die über dem Marktniveau lagen. Dies zeigt: Gazprom kann auf dem EU-Markt keine eigenständige Preispolitik betreiben.

Ganz anders ist dies auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Staaten, die eine Außenpolitik im Sinne Moskaus betreiben, erhalten starke Preisnachlässe. Davon hat etwa Belarus oft profitiert. Länder, deren Politik Russland missfällt, müssen mit drastischen Preiserhöhungen rechnen. Hinzu kommen intransparente Straf- und Zinsforderungen. So erging es in diesem Winter Moldova, nachdem die neue Regierung des Landes die Annäherung an die EU vorangetrieben hatte. Russlands Preispolitik führte insbesondere im Falle der Ukraine regelmäßig zu Konflikten, bis das Land im Oktober 2015 den direkten Bezug von Erdgas aus Russland einstellte. Natürlich hat Gazprom auch gute Gründe für Preiserhöhungen und die Zahlungsmoral der Abnehmerländer ist ein Problem. Dennoch zeigt die Preispolitik des Unternehmens ganz klar, dass es politische Rabatte und Aufschläge gibt.

Osteuropa: Wie sehr ist Russland auf den Verkauf von Erdgas nach Deutschland bzw. in die EU angewiesen?

Pleines: Das Wirtschaftsmagazin The Economist hat vorgerechnet, dass Gazprom bei einer dreimonatigen Unterbrechung der Lieferungen in die EU im Winter Einnahmeeinbußen von etwa 20 Milliarden US-Dollar verzeichnen würde. Dies wäre für Russland allerdings eine tragbare Belastung. Allein der Wert der Erdölfonds, in denen Russland Teile der Einnahmen aus dem Rohstoffexport sammelt, betrug zum Jahresende 2021 über 180 Milliarden US-Dollar. Die Währungsreserven der russländischen Zentralbank lagen bei über 600 Milliarden US-Dollar. Sollte Moskau aus politischen Gründen die Lieferungen einstellen, kämen jedoch Strafzahlungen wegen Verletzung bestehender Lieferverträge hinzu. Das Image von Gazprom als zuverlässigem Lieferanten würde nachhaltig beschädigt.

Zudem hätte ein von Moskau verfügter Lieferstopp für Erdgas nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine machtpolitische Dimension. In den 2000er Jahren war das von hohen Öl- und Gaspreisen getriebene Wirtschaftswachstum mit entsprechenden Lohnsteigerungen ein zentrales Legitimationsargument der politischen Führung in Russland. Mittlerweile geht es nur noch um wirtschaftliche Stabilität. Brächen die Exporteinnahmen weg, wäre selbst diese gefährdet, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung würde wachsen. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die politische Führung dies riskieren will. Falls sie es doch tut, würde die Führung sicher die Repressionen weiter verschärfen, um Proteste zu verhindern.

Osteuropa: Und der vielzitierte Schwenk nach Asien?

Pleines: Obwohl Russland derzeit die Lieferkapazitäten für Flüssiggas und per Pipeline nach China ausbaut, werden sich auch langfristig in Asien nicht so viele Abnehmer finden, dass ein Wegfall des Exports nach Europa kompensiert werden könnte. Russlands aktuelle Energiestrategie, die im April 2020 veröffentlicht wurde, setzt zwar für Erdgas auf China als Wachstumsmarkt, aber die Exporte nach Europa sollen auf dem aktuellen Niveau bleiben.

Osteuropa: Das alles klingt nach einer stark asymmetrischen Interdependenz. Bei allem Schaden, den ein Embargo auf den Import von Erdgas aus Russland für die EU haben würde, scheint Moskau doch verwundbarer als die EU?

Pleines: Die Situation ist bei Sanktionen komplexer. Erst einmal wird mit Sanktionen ja nur gedroht. Die Drohung funktioniert, wenn der Adressat glaubt, dass es für ihn teuer wird. Insofern sind glaubwürdige Drohungen mit schweren Folgen der beste Weg, um zu verhindern, dass Sanktionen tatsächlich realisiert werden müssen. Das scheinen die USA und Großbritannien seit Dezember zu versuchen. Die Bundesregierung macht da nur begrenzt mit.

Die nächste Frage ist, welchen Preis man zu zahlen bereit ist, wenn man seine Position durchsetzen will. Sanktionen gibt es selten ohne Folgekosten und natürlich würden Sanktionen gegen Russland im Energiebereich Deutschland stärker treffen als die USA oder Großbritannien. Wenn Volkswirtschaften so eng verflochten sind, wie die EU und Russland bei den Rohstofflieferungen, dann leiden beide Seiten unter Lieferstopps. Es geht also auch darum, welchen Preis die EU und dann eben auch Deutschland zu zahlen bereit sind, wenn es um ihre Prinzipien geht und darum, Russland und auch potenziellen Nachahmern zu zeigen: Wer mit einer Armee in Europa einseitig Grenzen verschieben will, der bekommt schwerwiegende Probleme.

Eine weitere Frage ist, welche Sanktionen am besten geeignet sind. Nord Stream 2 wird oft genannt, da es eben nicht um Lieferungen, sondern nur um den Transportweg geht, so dass der EU als Abnehmer gar kein Schaden entsteht. Der ebenfalls diskutierte Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT würde es den Abnehmerländern schwer machen, für Energielieferungen aus Russland zu zahlen. Eine Einstellung des Imports von Erdöl wäre als Sanktion aus Sicht der EU viel sinnvoller als ein Embargo auf die Einfuhr von Erdgas. Erdöl lässt sich leichter ersetzen, da der Transport in viel größerem Umfang über Tankschiffe und viel weniger über Pipelines erfolgt. Die Verwerfungen auf dem Weltmarkt wären jedoch aufgrund der Bedeutung Russlands als Förderland immens.

Osteuropa: Ein anderes Szenario. Eine kriegerische Entwicklung kann abgewendet werden, Erdgas wird weniger durch eine geopolitische Brille gesehen als gegenwärtig. Welches sind dann die Determinanten, die den Erdgashandel Deutschlands, der EU, mit Russland in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren prägen werden?

Pleines: Auch dazu gibt es ja eine aktuelle Diskussion. Entscheidend für die Bedeutung von Erdgas sind auf lange Sicht die Klimapolitik und die geplante Energiewende. Die Frage ist, ob Erdgas als fossiler Brennstoff bald an Bedeutung verliert oder wegen seines vergleichsweise geringen CO2-Gehalts in einer Übergangsphase sogar vermehrt zum Einsatz kommt. Die von der EU-Kommission zum Jahresende 2021 vorgeschlagene Taxonomie für Energieträger sieht ja vor, dass mit Erdgas betriebene Kraftwerke unter Auflagen noch über das Jahr 2030 hinaus als nachhaltig anerkannt werden. Das bedeutet nicht zwingend, dass Investoren tatsächlich in solche Kraftwerke investieren werden. Und: Eine Realisierung der ehrgeizigen Pläne der EU-Kommission für die Wärme­dämmung von Gebäuden würde den Erdgasbedarf im Winter deutlich reduzieren.

Da wegen der Energiewende der Verbrauch von Erdgas heute noch schwerer vorherzusagen ist als in den vergangenen Jahrzehnten, setzt Russland für eine Ausweitung seiner Exporte stark auf Flüssiggas. Dies ermöglicht es, rasch neue Abnehmer in anderen Weltregionen zu beliefern. Wirtschaftlich ist dies sinnvoll, wenn Erdgas trotz der Klimafolgen noch auf lange Zeit genutzt werden wird. Inwieweit Deutschland und die EU dann als Abnehmer auftreten, wird vor allem von Fortschritt und Verlauf der Energiewende abhängen.

Osteuropa: Herzlichen Dank!

Das Gespräch führte Volker Weichsel am 8.2.2022.

 

Zur weiteren Lektüre:

B. McWilliams et al. (2022): Can Europe survive painlessly without Russian gas?, Bruegel Blog 27/2022, <www.bruegel.org/2022/01/can-europe-survive-painlessly-without-russian-gas>.

Simon Pirani, Jack Sharples (2021): Ukraine-EU Gas Market Integration: Short-Term Progress, Long-Term Challenges, Energy Insight 86, <www.oxfordenergy.org/publications/ ukraine-eu-gas-market-integration-short-term-progress-long-term-challenges>.

Heiko Pleines (2021): Der deutsch-russische Erdgashandel. Die Ursachen der aktuellen Spannungen, Russland-Analysen 410, <www.laender-analysen.de/russland-analysen/410/ der-deutsch-russische-erdgashandel-die-ursachen-der-aktuellen-spannungen/>.

Heiko Pleines (2021): Das Ende des russischen Erdgastransits. Herausforderungen für die Ukraine, Ukraine-Analysen 258, <www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/258/das-ende-des-russischen-erdgastransits-herausforderungen-fuer-die-ukraine>.

Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland, <www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/M-O/notfallplan-gas-bundesrepublik-deutschland.html>.

 

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