Titelbild Osteuropa 10-12/2021

Aus Osteuropa, 10-12/2021

Nukleare Option oder leere Drohung?
SWIFT-Ausschluss Russlands als Sanktion

Roland Götz

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Abstract in English

Abstract

SWIFT ist ein genossenschaftliches Unternehmen nach belgischem Recht, das es mehr als 11 000 Finanzinstituten in über 200 Ländern ermöglicht, Informationen über finanzielle Transaktionen in Echtzeit auszutauschen. Seit der Krim-Annexion haben Stimmen in den USA und der EU wiederholt gefordert, Russland vom SWIFT-System auszuschließen. Russland würde vom Einsatz dieser „Finanzwaffe“, die oft als „nukleare Option“ eingestuft wird, stark getroffen. Eine Abwertung des Rubels, Kapitalflucht und ein Einbruch des Außenhandels wären die Folge. Doch dies würde Moskau nicht dazu bringen, seinen innen-, außen- und militärpolitischen Kurs zu ändern. Deswegen und wegen der negativen außenwirtschaftlichen Rückwirkungen auf ihre Mitgliedstaaten wird die EU zögern, dieses Sanktionsinstrument tatsächlich einzusetzen.

(Osteuropa, 10-12/2021, S. 115–123)

Volltext

Die 1973 gegründete Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication (SWIFT) ist eine Schlagader des Welthandels. Die Organisation sorgt mit äußerst schneller Datenfernübertragung dafür, dass über 11 000 Finanz­institute in mehr als 200 Ländern – Banken, Handelsinstitutionen, Broker, Abrechnungssysteme und Institutionen für Investmentmanagement – Informationen über finanzielle Transaktionen austauschen können. SWIFT ist eine Genossenschaft nach belgischem Recht, die sich im Besitz von rund 2400 dieser Finanzinstitute befindet. Sie wird von den Zentralbanken der G-10 sowie der Europäischen Zentralbank beaufsichtigt.[1]

Im internationalen Güter- und Dienstleistungshandel werden Zahlungen über ein Netz von Korrespondenzbanken abgewickelt.[2] Diese führen gegenseitige Zahlungsverkehrskonten, in denen Zahlungsbeträge auf Kredit- und Guthabenkonten verbucht werden. Die Bank des Zahlers belastet dessen Zahlungsverkehrskonto und leistet eine Gutschrift (in der Fremdwährung) auf dem ebenfalls bei ihr geführten Zahlungsverkehrskonto der Bank des Zahlungsempfängers. Letztere wird durch SWIFT in Echtzeit von der Gutschrift unterrichtet und verbucht sie auf dem bei ihr geführten Zahlungsverkehrskonto des Empfängers. Wenn die Korrespondenzbanken des Zahlers und des Empfängers nicht unmittelbar miteinander in Verbindung stehen, werden weitere Banken eingeschaltet, so dass sich eine Buchungskette ergibt. Der länderübergreifende Informationsaustausch im SWIFT-Netzwerk geschieht mit Hilfe des SWIFT-Codes, der dem Business Identifier Code (BIC) entspricht.

SWIFT als Sanktionsinstrument der USA

Die der belgischen Jurisdiktion unterliegende SWIFT muss rechtlich nur die Sanktionsbeschlüsse der EU ausführen. Gestützt auf die Stärke ihrer großen Finanz­institute haben die Vereinigten Staaten jedoch mehrfach versucht, SWIFT dazu zu bringen, US-amerikanischen Sanktionsentscheidungen Folge zu leisten.[3] Dies wird den USA durch ein 2010 zwischen der EU und den USA geschlossenes Abkommen zur Terrorismusbekämpfung erleichtert, das US-amerikanischen Behörden den Zugriff auf die Daten von SWIFT erlaubt.[4] Es ermöglicht US-Behörden festzustellen, welche Banken mit Sitz in den USA über ihre EU-Vertretungen Geschäfte mit Institutionen oder Personen tätigen, die auf „schwarzen Listen“ der USA stehen, und diese Banken unter Druck zu setzen.[5] US-Behörden können außerdem gegen ausländische Finanzinstitutionen, die in den USA tätig sind, für nach US-Recht verbotene Transaktionen Strafen in doppelter Höhe des Transaktionsbetrages verhängen. Dies hat die Pariser Bank BNP Paribas zu spüren bekommen, die zwischen 2004 und 2012 mit verschiedenen von den USA sanktionierten Staaten wie dem Iran, Kuba und dem Sudan Geschäfte abgewickelt hatte. Als das den US-Behörden bekannt wurde, drohten sie BNP Paribas mit Entzug der amerikanischen Bankenlizenz. Durch eine Strafzahlung in Höhe von neun Milliarden US-Dollar wendete die Bank dies 2014 ab. Die UniCredit Bankengruppe (Mailand) musste 2019 wegen ähnlicher Verstöße 1,3 Milliarden US-Dollar Strafe bezahlen.[6]

Der 2012 vom US-Kongress beschlossene Iran Threat Reduction and Syria Human Rights Act (ITRSHRA) verlangt die Erstellung von Berichten über elektronische Zahlungssysteme wie SWIFT, die Transaktionen für iranische Banken abwickeln. Dieses Gesetz erlaubt den US-Behörden zwar die Verhängung von Sanktionen gegen SWIFT oder gegen andere elektronische Zahlungssysteme, schreibt sie aber nicht vor. Obwohl die USA keine rechtliche Handhabe gegenüber SWIFT haben, wollte der SWIFT-Vorstand die SWIFT-Finanzinstitutionen vor US-Sanktionen bewahren und hat daher 2018 die Verbindung zu den iranischen Banken, für die US-Sanktionen gelten, unterbrochen.[7] Angesichts der Praxis der US-Behörden, im Zuge von Sekundärsanktionen auch gegen europäische Firmen zu ermitteln und sie wegen Geschäften mit sanktionierten Unternehmen etwa aus dem Iran mit Geldstrafen zu belegen oder diese Firmen sogar selbst auf die SDN-Liste[8] zu setzen, hat zudem bereits die bloße Androhung von US-Sanktionen dazu geführt, dass europäische Unternehmen den Iran verlassen haben. Ein entsprechendes Vorgehen der USA gegen die in der EU ansässigen SWIFT-Mitglieder ist möglicherweise erneut zu erwarten, wenn die USA eine verschärfte Sanktionierung Russlands durch „Finanzwaffen“ für notwendig und zweckdienlich halten.

EU-Russland-Sanktionen und SWIFT

Seit der Krim-Annexion 2014 wird im EU-Parlament immer wieder gefordert, Russland vom SWIFT-System abzutrennen. Im September 2014 fordert das EU-Parlament die EU auf, zu prüfen, „ob Russland von der Zusammenarbeit im Bereich Kerntechnik und aus dem Swift-System ausgeschlossen werden soll“.[9] Im Februar 2015 hielt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff allerdings einen Ausschluss Russlands aus SWIFT für „eine so scharfe Sanktion, dass man davor zurückschreckt“.[10] Am 29. April 2021 beschloss das EU-Parlament, dass es im Falle eines Einmarsches russländischer Truppen in die Ukraine darauf bestehen werde, dass „die Erdöl- und Erdgaseinfuhren aus Russland in die EU sofort eingestellt werden“ sowie dass „Russland gleichzeitig aus dem Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen werden sollte und dass alle Vermögenswerte von der russischen Staatsmacht nahestehenden Oligarchen und ihren Familien in der EU eingefroren und ihre Visa aufgehoben werden müssen“.[11] Und am 16. September 2021 forderte das EU-Parlament andere EU-Organe und die EU-Mitgliedstaaten zur Ausarbeitung einer neuen Russland-Strategie auf, zu deren Optionen es gehören soll, „dass Russland vom Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen wird, um die russischen Staatsorgane von weiterem aggressivem Verhalten abzuhalten“.[12] Diese Beschlüsse des EU-Parlaments sind (nicht verbindliche) Appelle an die EU-Regierungen, unter den genannten Voraussetzungen zusätzliche Sanktionen einschließlich der SWIFT-Abtrennung zu beschließen. Die dafür erforderliche Einstimmigkeit wäre im Falle einer Militäroffensive Russlands gegen die Ukraine möglicherweise zu erwarten, jedoch wahrscheinlich nicht bei Aktionen Russlands unterhalb dieser Schwelle. Denn die generelle Sanktionsbereitschaft ist in den EU-Mitglied­staaten unterschiedlich stark ausgeprägt.

Bereitschaft der EU-Staaten zur SWIFT-Abkopplung Russlands

Bei von Staaten zu treffenden Entscheidungen über Sanktionen spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle. Zu ihnen gehören nicht nur wirtschaftliche Bindungen und Sicherheitsbedenken, sondern auch Erinnerungen an historische Ereignisse und nicht zuletzt die Positionierung des Staates in der internationalen Gemeinschaft und die „strategische Kultur“, also die Abwägung zwischen interessengeleiteter und wertebasierter Außenpolitik. Schließlich können auch innenpolitische Konstellationen und der Einfluss von Interessengruppen im Entscheidungsprozess eine Rolle spielen. Obwohl die EU über ein institutionalisiertes Entscheidungsfindungssystem für Sanktionen verfügt, ist die Erarbeitung von Sanktionen („restriktive Maßnahmen“) daher ein eminent politischer Prozess.[13]

Während die EU bislang ihre gegen Russland verhängten Sanktionen[14] einstimmig beschlossen und halbjährlich verlängert hat, ist unter ihren Mitgliedern eine breite Bereitschaft für eine Abtrennung Russlands von SWIFT nicht unbedingt zu erwarten.[15] Denn diese Maßnahme gehört – neben einer Beschlagnahme der im Ausland gehaltenen Guthaben und sonstigen Vermögenswerte russländischer Eigentümer – zu den schärfsten denkbaren Sanktionen, deren Einsatz nicht nur Gegensanktionen Russlands, sondern auch erhebliche negative Rückwirkungen auf die Volkswirtschaften der EU-Staaten hätte: Ihre Handelsbeziehungen mit Russland kämen weitgehend zum Erliegen. Die Sanktionsbereitschaft einzelner EU-Mitglieder dürfte daher generell geringer sein, je stärker deren wirtschaftliche Verflechtung mit Russland ist. Andererseits könnte sie in denjenigen EU-Ländern vergleichsweise hoch sein, deren Bevölkerung noch starke Erinnerung an historische Konflikte mit Russland hat.

Eine besonders hohe Sanktionsbereitschaft gegenüber Russland zeigen die baltischen Staaten, Finnland, Polen, Rumänien, Dänemark und Schweden, in denen russlandbezogene Sicherheitsbedenken offenbar höher gewichtet werden als mögliche wirtschaftliche Einbußen. Deutschland, das sich von Russland nicht unmittelbar bedroht sieht, betrachtet Sanktionen als notwendiges Instrument seiner wertegeleiteten Außenpolitik, verliert aber gleichzeitig die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland vor allem im Energiebereich nicht aus dem Blick. Österreich, Griechenland, Zypern, Italien und Ungarn folgen in der Sanktionsfrage nur widerwillig der EU-Linie, da sie nicht nur enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland pflegen, sondern, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, kulturelle, politische und religiöse Affinitäten zu Russland aufweisen. Da die Sanktionsbeschlüsse der EU einstimmig gefasst werden müssen, verhindern bereits die Bedenken eines der Mitglieder dieser Gruppe, dass scharfe Sanktionsbeschlüsse überhaupt auf die Tagesordnung des Europäischen Rats (dem Beschlussorgan der EU-Länder) gelangen. Zwischen diesen in der Russland-Sanktionsfrage auftretenden „Falken“ und den „Tauben“ stehen das unter Präsident Emmanuel Macron nach eigenen Wegen suchende Frankreich[16], Spanien, Portugal und die Niederlande, innenpolitisch gespaltene Mitgliedstaaten wie die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien und Bulgarien sowie an diesem Problem eher desinteressierte Beobachter wie Irland, Belgien, Luxemburg und Malta.[17]

Russlands SPFS als Ersatz für SWIFT?

Um der Bedrohung durch einen Ausschluss vom SWIFT-System entgegenzuwirken, hat Russlands Zentralbank im Jahr 2015 ein System für den Transfer von Finanznachrichten mit dem Ausland (Sistema peredači finansovych soobščenij Banka Rossii, SPFS) eingeführt, dessen Funktionsprinzip dem des SWIFT-Systems ähnelt. Derzeit wird es fast nur von Finanzinstituten in Russland selbst genutzt, während das internationale Geschäft – mit wenigen Ausnahmen – noch nicht aufgenommen wurde. Als zukünftige ausländische Geschäftspartner von SPFS hat Russland China, die Türkei, den Iran und andere Länder im Blick. 2022 will Belarus seine Banken an SPSF anschließen, um für einen drohenden Ausschluss aus SWIFT gewappnet zu sein.[18] Bislang kann SPFS jedoch SWIFT nicht adäquat ersetzen.

Würde Russland von SWIFT abgetrennt, müssten Russlands Banken Finanznachrichten in das Ausland zunächst wie früher über TELEX oder andere Kanäle leiten, was den Überweisungsprozess verlangsamen, aber nicht gänzlich unmöglich machen würde. Eine volle Blockade von Finanzgeschäften wäre erst dann erreicht, wenn westlichen Banken jegliche Form der Kontakte mit russländischen Banken verboten würde.[19]

Russlands Sanktionsresilienz

Die zwischen 2014 und 2020 verhängten Sanktionen haben Russlands Wirtschaft auf verschiedene Weise belastet: Russländische Banken verzichteten weitgehend auf Auslandskredite. Der Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen ging zurück, während die Kapitalflucht ins Ausland zunahm. All dies engte den finanziellen Spielraum des Landes für Investitionen und Importe ein. Die Zentralbank verstärkte unter dem Eindruck der Sanktionen ihre restriktive Geldpolitik. Um den Wechselkurs des Rubels zu stabilisieren und die Inflation zu bekämpfen, nahm sie in Kauf, dass sie das Wirtschaftswachstum dämpfte.[20] Insgesamt resultierte aus diesen Effekten nach Schätzung von Anders Åslund und Maria Snegovaya zwischen 2014 und 2020 ein jährlicher Wachstumsverlust von 2,5 bis drei Prozent.[21] Andere Autoren und Institutionen wie der IWF und die Weltbank kommen allerdings auf weit geringere Auswirkungen der Sanktionen auf das russländische Wirtschaftswachstum.[22]

Russland ist unter den gegenwärtig sanktionierten Ländern als sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt (gemessen an der Kaufkraftparität) ein Sonderfall.[23] Es verfügt über einen großen Binnenmarkt, der von Sanktionen nur indirekt betroffen wird. Russlands Außenhandelsquote – der Anteil der Summe von Exporten und Importen am Bruttoinlandsprodukt – betrug 2020 46 Prozent und war damit deutlich geringer als die Deutschlands (81 Prozent), Polens (106 Prozent) oder der baltischen Staaten (119 Prozent bis 142 Prozent).[24] So könnte man vermuten, dass Russland gegenüber Finanzsanktionen, die sich, wie auch ein Ausschluss vom SWIFT-System, direkt nur gegen außenwirtschaftliche Verflechtungen richten, vergleichsweise widerstandsfähig wäre. Das würde aber nur dann zutreffen, wenn der Export von Energieträgern und anderen Rohstoffen trotz der Abtrennung von SWIFT weiterliefe. Dass dies nicht leicht wäre, zeigt das Beispiel des Iran, dessen Ölexporte nach 2012 und erneut seit 2018/2019, als iranische Banken von SWIFT abgetrennt und gleichzeitig US-Sanktionen Geschäfte mit dem Iran verboten,[25] um mehr als die Hälfte zurück gingen,[26] was in den betreffenden Jahren einen Wirtschaftseinbruch um acht Prozent nach sich zog.[27]

Könnte Russland durch eine Umorientierung seiner Öl- und Gasexporte nach China, das mit eigenen Systemen der Übermittlung von Finanznachrichten experimentiert, sich nicht aus dieser misslichen Lage befreien? Bei Erdöl ist dies mit dem Bau der Eastern Siberia-Pacific Ocean Pipeline (ESPO), die mit ihrer Kapazität von 80 Millionen Tonnen rund ein Drittel von Russlands Rohölexporten transportieren kann, schon in gewissem Umfang gelungen.[28] Dagegen ist ein Ausweichen auf den Erdgasmarkt Chinas noch weitgehend Zukunftsmusik: Die private Novatėk hat das Ziel, bis 2030 die Gasförderung und Gasverflüssigung auf Gasfeldern der Jamal-Halbinsel und der ihr gegenüberliegenden Halbinsel Gyda auf bis zu 70 Millionen Tonnen Flüssiggas pro Jahr (entsprechend 97 Milliarden m³ Erdgas) zu steigern, wovon ein Teil über den Nördlichen Seeweg nach China und in andere südostasiatische Länder verschifft werden soll. 2020 hatten sechs Milliarden m³ diesen Weg genommen.[29] Eine erste, Kraft Sibiriens (Power of Siberia, russ. Sila Sibiri) genannte Gaspipeline, die bei Blagoveščensk (Gebiet Amur) die chinesische Grenze erreicht und in China bis Schanghai verlaufen soll, ist 2019 in Betrieb gegangen. Sie soll ab 2024 bis zu 38 Milliarden m³ Erdgas transportieren, wenn bis dahin die sie versorgenden Gasfelder Ostsibiriens ganz erschlossen worden sind.[30] Nachdem der Plan einer weiteren, von Westsibirien nach Westchina verlaufenden Gasleitung (Altaj-Pipeline) 2015 fallen gelassen wurde, laufen seit 2019 die Projektplanungen für eine aus den Vorkommen der Jamal-Halbinsel und westsibirischen Feldern gespeiste Gasleitung (Kraft Sibiriens 2, Sila Sibiri 2).[31] Sie soll südlich des Bajkalsees die Grenze Russlands passieren und über die Mongolei, wo sie Union-Osten (Sojuz-Vostok) genannt wird, bis Peking führen. Mit ihrer Kapazität von 50 Milliarden m³ kann sie zur Gasversorgung von Teilen Südsibiriens, der Mongolei und Chinas beitragen und dort den Einsatz von Kohle für die Stromerzeugung verringern. Ihr Bau soll 2024 beginnen und 2030 beendet sein.[32] Da diese zweite China-Leitung erstmals das westsibirische mit dem mittel- und ostsibirischen Gasleitungsnetz verknüpft, erhält Gazprom – freilich erst in einem Jahrzehnt – die Möglichkeit, die Bedienung von westlichen und östlichen Märkten variabel zu gestalten und damit in gewissem Umfang etwaigen künftigen Gasembargos und Sanktionen auszuweichen.

Russlands Volkswirtschaft würde also von einer Abkoppelung vom SWIFT-System trotz ihrer Größe stark beeinträchtigt. Doch nur wenig spricht dafür, dass Moskau durch Sanktionen politisch verwundbar ist.[33] Das „System Putin“ ist weitgehend immun gegenüber äußeren Einflüssen. Sanktionen werden von der Staatsführung als Angriff auf eine angebliche „russländische Zivilisation“ dargestellt, was den „Sammelt euch um die Flagge-Effekt“ (Rally around the flag effect) nach sich zieht. Das Land wird durch äußeren Druck seinen innen-, außen- und militärpolitischen Kurs kaum ändern, denn dafür sitzt die Führungsschicht zu fest im Sattel.

SWIFT-Abtrennung – eine „nukleare Option“?

Wegen der breiten ökonomischen Wirkungen einer SWIFT-Abtrennung Russlands, gegen die sich das Land nur unzureichend schützen könnte, wird oft von einer „nuklearen Option“ der Sanktionsgeber gesprochen.[34] Aber auch in diesem Zusammenhang gilt die Doktrin des „Gleichgewichts des Schreckens“, der sicheren gegenseitigen Vernichtung (mutually assured destruction, MAD-Doktrin). Im Unterschied zum Nuklearkrieg droht der „Zweitschlag“ sogar unmittelbar und ohne Zutun des Gegners, denn zeitgleich mit den nach Russland gesendeten Finanzinformationen werden alle aus Russland über SWIFT in das Ausland transferierten Finanzinformationen gestoppt.

Russland würde zumindest mittelfristig als wichtiger Lieferant von Erdöl und Erdgas weitgehend ausfallen. Weil genau dies die USA und die EU nicht wollen, haben sie den Energiesektor Russlands bislang von Sanktionen praktisch ausgenommen. Zwar verboten sie ihren Unternehmen eine Kooperation mit russländischen Firmen im Erdölbereich bei Projekten in der Tiefsee und bei der Erschließung von unkonventionellen Ölressourcen.[35] Dies schwächt Russlands Stellung auf dem Ölmarkt jedoch erst langfristig und nur dann, wenn Russland nicht die Ölförderung unter schwierigen Bedingungen eigenständig bewältigt oder die Bedeutung von Erdöl für die Weltwirtschaft wegen einer in vielen Staaten vorangetriebenen industriellen Transformation ohnehin sinkt. Die Exploration von konventionellen Erdöllagern oder von Gasvorkommen wurde von der EU und den USA hingegen ebenso wenig beschränkt wie der Import von Erdöl, Erdgas oder Kohle aus Russland. Von einem Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System wäre zudem eine Vielzahl großer, mittlerer und kleiner staatlicher und privater Unternehmen aller anderen Branchen im Produktions- und Dienstleistungssektor vor allem in der EU, jedoch weit weniger in den USA betroffen.[36]

Eine leere Drohung

Einen grundsätzlichen Politikwechsel in Moskau wird man, wie aus der Analyse der Sanktionsresilienz Russlands folgt, mit einem Ausschluss Russlands von SWIFT keinesfalls erzwingen können. Ebenso wird man Russland kaum von zu befürchtenden Handlungen (bis hin zu einer Militäroffensive gegen die Ukraine) durch einen von der EU angedrohten SWIFT-Ausschluss abschrecken können, weil die EU angesichts der ihren Mitgliedern drohenden wirtschaftlichen Schäden nicht ausreichend glaubwürdig ist. Die Drohung der USA, den in US-Dollar abgewickelten Zahlungsverkehr großer russländischer Banken zu blockieren, muss man in Moskau eher ernst nehmen.[37]

Für ein bloßes Signal des Missfallens an die Führung Russlands ist das SWIFT-Instrument wiederum viel zu groß dimensioniert. Hierfür eignen sich weniger breit wirkende Finanzsanktionen wie das Verbot von Geldgeschäften nur mit bestimmten Staatsbanken. Wichtige Sanktionsziele können durch das auf den ersten Blick vielversprechende Sanktionsinstrument des Ausschlusses Russlands von SWIFT kaum erreicht werden.

 

 


[1] Congressional Research Service, International financial messaging systems, 19.7.2021, S. 2–7, <https://crsreports.congress.gov/product/pdf/R/R46843>. – Friedrich Thießen, Tommy Jehmlich: Iran-Sanktionen, internationaler Zahlungsverkehr und Reformvorschläge aus europäischer Sicht. Chemnitz 2018, S. 7–9, <www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/vwl1/RePEc/download/ tch/wpaper/CEP023_Iran_Sanktionen.pdf>.

[2] Innerhalb der EU sowie des Europäischen Wirtschaftsraums werden Zahlungen über die von der EZB betriebenen Systeme TARGET2 und Single Euro Payments Area (SEPA) getätigt.

[3]   Xu Wenhong: The SWIFT System. A focus on the U.S.–Russia financial confrontation. Russian International Affairs Council, 3.2.2020.

[4] „Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Zahlungsverkehrsdaten und deren Übermittlung für die Zwecke des Programms der USA zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus“, <http://publications. europa.eu/resource/cellar/1e701bc1-4f2e-4aac-8751-d8baeab02cc2.0001.03/DOC_1>.

[5]   Zur Liste der Specially Designated Nationals and Blocked Persons (SDN) siehe den Beitrag von Carl-Wendelin Neubert in diesem Band. Die Liste unter: <www.treasury.gov/ofac/downloads/sdnlist.pdf>.

[6]   Kenneth Katzman: Iran sanctions. Washington, DC, 2021, CSR Report RS80271, S. 27,  <https://sgp.fas.org/crs/mideast/RS20871.pdf>.

[7]   Ebd., S. 44–45. – Congressional Research Service, International financial messaging systems, [Fn. 1], S. 13–14. – Im März 2012 war SWIFT einem Sanktionsbeschluss der EU (Verordnung (EU) Nr. 267/2012 des Rates vom 23. März 2012) gefolgt und hat 14 iranische Banken vom SWIFT-System abgetrennt.

[8]   Siehe Fn. 5.

[9]   Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. September 2014 zur Lage in der Ukraine und zum Sachstand in den Beziehungen zwischen der EU und Russland, 18.9.2014, Abs. 13, <www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2014-0025_DE.html>.

[10] SWIFT-Ausschluss Russlands? Minsk II ist wahrscheinlich gescheitert. Deutschlandfunk, 16.2.2015.

[11] Europäisches Parlament, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 29. April 2021 zu Russland, dem Fall Aleksej Naval’nyj, dem militärischen Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine und den von Russland orchestrierten Anschlägen in der Tschechischen Republik, 29.4.2021, Abs. 8, <www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0159_DE.pdf>.

[12] Europäisches Parlament, Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 16. September 2021 an den Rat, die Kommission und den Vizepräsidenten der Kommission und Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zur Ausrichtung der politischen Beziehungen zwischen der EU und Russland, 16.9.2021, Abs. 1f., <www.europarl.europa.eu/doceo/ document/TA-9-2021-0383_DE.pdf>.

[13] Niklas Helwig, Matti Pesu: EU decision-making on sanctions regimes, in: Niklas Helwig, Juha Jokela, Clara Portela (Hg.): Sharpening EU sanctions policy. Challenges and responses in a geopolitical era. Helsinki 2020, S. 87–106, hier S. 97, <https://www.fiia.fi/wp-content/ uploads/2020/05/report63_web.pdf>.

[14] EU sanctions map, <www.sanctionsmap.eu/#/main>.

[15] Zum Weg und der Problematik der Beschlussfassung von EU-Sanktionen Sascha Lohmann: Autonome Finanzsanktionen. Wege zum wirkungsvollen Einsatz. Berlin 2021 [= SWP-Studie 25/2021], S. 13ff. – Niklas Helwig, Juha Jokela, Clara Portela: EU-Sanktionspolitik in geopolitischen Zeiten. Europas schärfstes Außeninstrument und seine Herausforderungen, in: Integration, 4/2020, S. 278–294.

[16] Susan Stewart: Macrons Russlandpolitik. Bereits gescheitert? In: Ronja Kempin (Hg.): Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik unter Präsident Macron. Berlin 2021, <www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2021S04_Macron.pdf>.

[17] Niklas Helwig, Matti Pesu: EU decision-making [Fn. 13], S. 99. – Maria Shagina: Friend or Foe? Mapping the positions of EU Member States on Russia sanctions, 28.6.2017, <www.europeanleadershipnetwork.org/commentary/friend-or-foe-mapping-the-positions-of-eu-member-states-on-russia-sanctions/>.

[18]  Belarus Banks Readying for SWIFT Shutdown – Reports. The Moscow Times, 14.12.21.

[19] Should Russian banks be scared of SWIFT disconnection? The Moscow Times, 22.4.2021.

[20] Gunter Deuber: Die Wirtschaft der „Festung Russland“ – kurzfristig erfolgreich im Corona- und Sanktionsumfeld, langfristig mehr Stagnation und Sanktionen, in: Russland-Analysen 404, 24.6.2021, S. 2–9, hier S. 3 und Schaubilder 7, 8, 9. – Anders Åslund, Maria Snegovaya: The impact of Western sanctions on Russia and how they can be made even more effective. Washington, D.C. 2021, S. 13–15, <www.atlanticcouncil.org/wp-content/uploads/2021/05/ The-impact-of-Western-sanctions-on-Russia-and-how-they-can-be-made-even-more-effective- 5.2.pdf>.

[21] Ebd., S. 16.

[22] Siehe dazu den Beitrag von Iikka Korhonen in diesem Band.

[23] Nur zwei frühere Fälle sind mit Russland annähernd vergleichbar: Im Jahr 1935 sanktionierte der Völkerbund Italien, die damals achtgrößte Volkswirtschaft der Welt, nach Roms Invasion in Abessinien, und 1940 verhängten die Vereinigten Staaten ein Handelsembargo und 1941 ein Ölembargo gegen Japan, das damals die siebtgrößte Volkswirtschaft war. Das nach Russland größte sanktionierte Land ist heute der Iran, der an 23. Stelle der BIP-Weltrangliste steht, siehe <https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_GDP_(PPP)>.

[24] Weltbank, <https://data.worldbank.org/indicator/NE.TRD.GNFS.ZS>.

[25] Congressional Research Service (Kenneth Katzman), Iran Sanctions. 6.04.2021, S. 17–20 und S. 25–29, <https://sgp.fas.org/crs/mideast/RS20871.pdf>.

[26] EIA, Country analysis executive summary Iran. 16.7.2021, S. 5, <www.eia.gov/international/ content/analysis/countries_long/Iran/pdf/iran_exe.pdf>.

[27] Weltbank, <https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG>.

[28] Die 2009 eröffnete ESPO I verläuft von Tajšet zur chinesischen Grenze bei Skvorodino und von dort weiter nach Daqing. Die 2012 eröffnete ESPO II verläuft von Skvorodino zum Pazifikhafen Koz’mino, von dem aus das Öl per Tanker vor allem nach China transportiert wird. Dazu die Karte: Transneft, <https://en.transneft.ru/pipelines/>. – S&P Global, Russia targets Asia with expanded ESPO pipeline, competes with Saudi Arabia, 27.12.2019, <www.spglobal.com/platts/en/market-insights/latest-news/oil/112719-russia-targets-asia-with-expanded-espo-pipeline-competes-with-saudi-arabia>.

[29] Vitaly Yermakov, Jack Sharples: A Phantom Menace. Is Russian LNG a threat to Russia’s pipeline gas in Europe? <www.oxfordenergy.org/wpcms/wp-content/uploads/2021/07/Is-Russian- LNG-a-Threat-to-Russias-Pipeline-Gas-in-Europe-NG-171.pdf>, hier S. 11 und S. 15.

[30] Gazprom projects, <www.gazprom.de/projects/power-of-siberia>.

[31] Die „Kraft Sibiriens“ für den Drachen. Moskauer Deutsche Zeitung, 25.9.2020.

[32] Gazovaja mongolopolija. Ulan-Bator sčitaet gody do „Sily Sibiri-2“. Kommersant”, 12.11.2021.

[33] Roland Götz: Coercing, Constraining, Signalling. Wirtschaftssanktionen gegen Russland, in: Osteuropa, 7/2014, S. 21–29, hier S. 27. – Ders.: Die Russlandsanktionen. Ihre Konzeption, ihre Wirkung und ihre Funktion innerhalb der Russlandpolitik, in: Russland-Analysen 285, 7.11.2014, S. 2–5, hier S. 3 und die Tabellen 1 und 2 S. 5.

[34] Joe Biden droht Russland mit Sanktionen. ZEIT online, 7.12.2021. – Russlands wunde Punkte. FAZ, 8.12.2011. – Finanzielle Atombombe. SZ, 14.1.2022. ‑ Maria Shagina: How disastrous would disconnection from SWIFT be for Russia? 28.5.2021, <https://carnegiemoscow.org/commentary/84634>.

[35] Verboten ist die Erbringung von Dienstleistungen für die Erdölexploration und -förderung in Gewässern mit einer Tiefe von mehr als 150 Metern (500 Fuß), im Offshore-Bereich nördlich des Polarkreises und für die Förderung von Schieferöl mittels Hydraulic fracturing. Dazu: EU sanctions map, <www.sanctionsmap.eu/#/main>. – Bud Coote: Impact of sanctions on Russia’s energy sector. Washington, D.C. 2018, <www.atlanticcouncil.org/wp-content/uploads/ 2018/03/Impact_of_Sanctions_on_Russia_s_Energy_Sector_web.pdf>.

[36] Russlands Exporte gingen 2020 zu 34 Prozent in die EU, zu sieben Prozent in das Vereinigte Königreich, zu 15 Prozent in die VR China, jedoch nur zu drei Prozent in die USA, siehe IMF, Direction of Trade Statistics, Russian Federation, <https://data.imf.org/regular.aspx?key= 61013712>.

[37] Biden threatens dollar ban on Russian banks. The Moscow Times, 20.1.2022.

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