Editorial
Schlüsselland Tschechien
Abstract in English
(Osteuropa 4-6/2021, S. 56)
Volltext
„Wer Böhmen beherrscht, ist der Herr Europas." Ein Zitat aus den Zeiten der Geopolitik und ein gefälschtes zumal. Bismarck wurde es zugeschrieben, der eine Auflösung Österreich-Ungarns und eine Angliederung Böhmens an das Deutsche Reich geplant habe. Heute wissen wir, dass ein französischer Journalist es Anfang des 20. Jahrhunderts in die Welt setzte.[1] Seitdem hat die mitteleuropäische Staatenwelt sich radikal verändert.
Die Kaiserreiche gingen im Ersten Weltkrieg unter, Tschechen und Slowaken schufen aus den böhmischen Ländern und Oberungarn die Tschechoslowakei, die ihr Nationalstaat sein sollte und doch ein multinationaler Staat war. Hitler tat, was Bismarck nur unterstellt worden war. Er zerschlug die Tschechoslowakei und machte Böhmen und Mähren zum Protektorat des Reichs. Gut 40 Jahre nach der Wiedergründung der Tschechoslowakei löste sich diese über Nacht friedlich auf.
Heute sind diejenigen, die die Teilung Europas und ihre Überwindung im Jahr 1989 als erwachsene Menschen erlebt haben, jenseits der 50. Bereits in wenigen Jahren wird mehr als die Hälfte der Bevölkerung keine ausgeprägte persönliche Erinnerung an das „Jahrhundert der Extreme“ mehr haben. Tschechien ist seit über 15 Jahren Mitglied der Europäischen Union und Teil der gleichen globalen Veränderungen wie alle anderen europäischen Staaten: Klimawandel, technologischer Wandel, neue Konfigurationen im internationalen Staatensystem.
Tschechien ist sicherlich kein prägender Akteur und kein zentraler Schauplatz in diesen Umbrüchen. Aber Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in Tschechien spiegeln diese Veränderungen. Überall wird verhandelt, ob sie als Chancen oder als Risiken aufzufassen sind, wie das Alte bewahrt und das Neue gestaltet werden kann, ob das Heil in Abgrenzung oder Öffnung gesucht werden soll. Und stets spielt die Deutung der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Miroslav Kunštát vermag sogar zu zeigen, wie die Wegmarken der 1000-jährigen Religionsgeschichte in Böhmen, in der spezifischen Interpretation des nationalen Zeitalters Tschechien bis heute prägen, obwohl das Land wegen der großen Zahl an Menschen ohne konfessionelles Bekenntnis als „Laboratorium der Säkularisierung“ gilt.
Wer mit diesem Osteuropa-Band in den tschechischen Spiegel blickt, wird daher Spezifisches wie Allgemeines erblicken. Die Erosion der repräsentativen Demokratie, nationaler, sozialer und technokratischer Populismus, das Auftauchen von Oligarchenparteien und neuen Führern – all dies kennzeichnet die tschechische Politik. Doch der Vergleich, den alle Autoren dieses Bandes stets im Blick haben, offenbart: Eine Gleichsetzung mit Polen oder Ungarn ist nicht angemessen, die Institutionen sind gefestigter, die Polarisierung der Gesellschaft, auch und gerade die zwischen den Regionen des Landes, ist geringer. Und wer aus Deutschland nach Tschechien blickt und stets das Andere sucht, verkennt die Ähnlichkeiten. Oft sind nur die Gewichte anders gelagert. Dies zeigen die Beiträge von Zuzana Lizcová über die prekäre Lage der Zeitungen und Christiane Brenner über die tschechischen Geschlechterverhältnisse.
Gerade diese Nähe ist es, die immer wieder das Bedürfnis nach Abgrenzung erzeugt. Gegenüber Deutschland, dem großen Nachbarn, zu dem die Beziehungen heute so eng und gut sind wie nie zuvor, und der trotz des Zusammenlebens im Grenzgebiet und der alltäglichen Zusammenarbeit der Ministerien ein vertrauter Fremder geblieben ist. Und gegenüber der Europäischen Union, die vielen in Tschechien einst als Ziel aller Träume von Wohlstand und Sicherheit galt, von nicht wenigen jedoch als Verkörperung des Albtraums vom Verlust staatlicher Souveränität oder gar nationaler Identität gezeichnet wird. Es sind dieselben Kräfte, die besonders laut Gefahren beschwören und ferne Mächte und große Brüder in Moskau und Peking anrufen, um in der kleinen böhmischen Welt Wahlkämpfe zu gewinnen. Solch konfrontative Rhetorik steht im Widerspruch zur Realität der vielfältigen pragmatischen Kooperation in der EU und birgt zugleich die Gefahr, diese Zusammenarbeit zu beschädigen.
Ein ganz anderes Bild europäischer Verflechtung zeigt der Blick auf die Ökonomie. Tschechien ist das am weitesten entwickelte Land in Ostmitteleuropa und liegt gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner auf Augenhöhe mit Italien und Spanien, nicht allzu weit entfernt von Frankreich. Doch die Sorge wächst, dass das vor allem auf ausländischem Kapital in der verarbeitenden Industrie begründete Erfolgsmodell nicht zukunftsträchtig ist. Die Hoffnungen ruhen auf dem Dienstleistungssektor im Finanz- und IT-Bereich, Firmen wie der weltweit erfolgreiche Hersteller von Sicherheitssoftware Avast aus Prag haben vorgemacht, was der Staat mit gezielter Forschungs- und Investitionsförderung auf breiter Basis anregen will.
Entscheidender Akteur ist der Staat bereits in der Energiepolitik, in der die Tschechische Republik ganz andere Wege geht als Deutschland. Autarkie und Selbstbestimmung sind die Leitmotive und angesichts des mittlerweile auch in Prag für unausweichlich gehaltenen Ausstiegs aus der heimischen Kohle ist im windarmen Tschechien die Kernkraft das Mittel der Wahl. Entsprechend möchte die Regierung diese nicht nur ausbauen, sondern auch deren Förderung mit EU-Mitteln erreichen. Anders als die heftig umstrittene Nord Stream 2-Pipeline, gegen die Prag im Unterschied zu Warschau nichts einwendet, bleibt dieses heiße energiepolitische Eisen im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dies gilt ebenso für die Verkehrspolitik, obwohl in Tschechien wie überall in Europa gerade der Verkehrssektor durch Individualisierung des Personenverkehrs und Verlagerung des Güterverkehrs auf die Straße einen erheblichen Teil zur nationalen CO2-Bilanz beiträgt.
So geben alle 25 Beiträge sowie die 24 Karten dieses Bandes Einblicke in ein Schlüsselland in der Mitte Europas, das im Spannungsfeld zwischen West und Ost, Geschichte und Gegenwart, Stadt und Land, Aufbruch und Beharrung, Lokalem und Globalem seinen Platz in einer Welt im Umbruch sucht.
Vladimír Handl, Manfred Sapper, Volker Weichsel
[1] Hans-Christof Kraus: Die „böhmische Zitadelle“ und der „Herr Europas“ Entstehung, Bedeutung und Instrumentalisierung eines gefälschten Bismarck-Zitats, in: Historische Zeitschrift, 2/2020, S. 306–332.