Titelbild Osteuropa 8-9/2021

Aus Osteuropa 8-9/2021

„Der Willkür sind keine Grenzen gesetzt“
Ein Gespräch über politische Prozesse in Belarus

Andrej Močalov

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Abstract in English

Abstract

Seit Mitte 2020 wurden in Belarus über 1000 Menschen verhaftet und in politischen Strafverfahren unter gröbsten Verstößen gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit abgeurteilt. Einige haben ihre Strafe abgesessen, doch viele sind zu fünf, zehn oder gar 14 Jahren Strafkolonie verurteilt worden. Viele Tausend Menschen wurden zudem wegen der Teilnahme an den großen Protesten nach den Präsidentschaftswahlen im August und September festgenommen und zu Arreststrafen verurteilt. Der Rechtsanwalt Andrej Močalov hat zahlreiche Personen in Verwaltungsverfahren und politischen Strafprozessen verteidigt. Er berichtet über die Willkür der Gerichte, die Allgegenwart von Folter und die Straflosigkeit, mit der die Täter aus den Staatsorganen rechnen können.

(Osteuropa 8-9/2021, S. 69–76)

Volltext

Osteuropa: Herr Močalov, Sie haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Menschen verteidigt, die in Prozessen mit offenkundig politischen Motiven angeklagt wurden. Was wird diesen Menschen vorgeworfen?

Andrej Močalov: Ich habe sowohl Menschen verteidigt, die in Strafprozessen angeklagt waren, als auch in rund 100 Fällen Personen, denen eine Ordnungswidrigkeit vorgeworfen wurde. In diesem Fall beträgt die Höchststrafe, die das Gericht verhängen kann, 30 Tage Haft.

In den Strafverfahren wurde nach einer Reihe von Paragraphen Anklage erhoben: Sachbeschädigung (Artikel 216), Hooliganismus (Art. 339), Landfriedensbruch (Art. 293), grober Verstoß gegen die öffentliche Ordnung (Art. 342), Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht (Art. 178), Steuerhinterziehung (Art. 243), Gründung einer extremistischen Organisation (Art. 361.1), Beleidigung einer Amtsperson (Art. 369), Verstoß gegen die Gleichberechtigung der Bürger (Art. 190), Widerstand gegen die Staatsgewalt (Art. 363).

All diese Strafverfahren hatten unverkennbar einen politischen Hintergrund. Zudem wurden sie alle unter grober Verletzung der Strafprozessordnung sowie grundlegender Verfassungsprinzipien geführt.

Osteuropa: Um welche Verstöße gegen die Strafprozessordnung geht es?

Močalov: In Strafprozessen verweigern die Gerichte systematisch die Zulassung von Beweismaterialien, die der Anwalt des Angeklagten gesammelt hat. Ebenso werden ihm bei der Sammlung solcher entlastenden Materialien Steine in den Weg gelegt.

Mir ist es mehrfach gelungen, Beweise zu sammeln, die eindeutig zeigten, dass der Verdächtigte oder die Angeklagte die ihnen zur Last gelegte Tat nicht begangen hat. Doch diese Beweise wurden in nahezu allen Fällen entweder mit einer formalen Begründung nicht zum Prozess zugelassen oder Untersuchungsrichter und Richter ignorierten sie einfach. Nichts zeigt so eindeutig, wie abhängig die Justiz in Belarus ist. Die Gerichte fällen ihre Urteile auf der Basis von Aussagen, die Mitarbeiter der Sicherheitsorgane machen, auch wenn vorliegende Beweise, etwa Videoaufnahmen, diese Aussagen klar widerlegen.

Der Willkür sind keine Grenzen gesetzt. Einer der politischen Gefangenen in Belarus wurde zu einer Haftstrafe verurteilt – ohne Bewährung –, weil er einer anderen Person, die bei einer Demonstration festgenommen wurde, im Haushalt geholfen hatte. Dies wurde als „Beihilfe zur Organisation von Massenunruhen“ gewertet.   

In aller Regel ignoriert die Staatsanwaltschaft, die eigentlich ein Aufsichtsorgan ist, selbst die offensichtlichsten Verstöße. Dies zeigt, wie die Lage in Belarus ist. Lukašenka hat das Paradigma persönlich vorgegeben: „Manchmal sind Gesetze nicht am Platz.“[1]

Und weitere Rechte der Angeklagten werden massiv verletzt. Ihre Anwälte dürfen sie während des Prozesses gar nicht oder seltener als gesetzlich geregelt besuchen. Die Anwälte erhalten nur eingeschränkten Zugang zu den Prozessakten oder werden in anderer Weise in ihrer Arbeit behindert.

In vielen Fällen werden die Anwälte nicht zu ihren inhaftierten Mandanten vorgelassen, weil auf diese Weise Spuren von Prügel oder Folter verborgen werden sollen oder weil der Mandant auf andere Weise zu fiktiven „Geständnissen“ gebracht werden soll, in denen er oder sie Dinge behauptet, die nichts mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun haben. Manchmal dauert es nach der Verhaftung über eine Woche, bis erstmals ein Anwalt den Verhafteten im Untersuchungsgefängnis aufsuchen kann.

Solche Verstöße gegen die Rechte von Angeklagten gibt es auch in Verfahren, die keinen politischen Charakter haben. Doch in diesen Prozessen geschehen sie nicht mit jener Regelmäßigkeit wie in den politischen Verfahren. Zudem reagiert die Staatsanwaltschaft in den politischen Prozessen nicht auf Beschwerden, was sie sonst durchaus tut.

In einigen politischen Verfahren des vergangenen Jahres wurde zudem ein Teil der Prozessmaterialien in einer gesonderten Akte geführt, in die nur der Ermittlungsrichter und der Richter Einblick haben, nicht aber der Angeklagte und sein Anwalt. Gleichwohl werden diese Materialien bei der Urteilsfindung herangezogen. Dies ist ein grober Verstoß gegen die Strafprozessordnung – und doch Alltag in Belarus.

Osteuropa: Sie sprachen von Prügel und Folter.

Močalov: Viele der in den vergangenen Monaten inhaftierten Menschen wurden grausam und unmenschlich behandelt. Eine meiner Mandantinnen, Vol’ha Zalatar, wurde nach ihrer Verhaftung Mitte März mehrere Stunden geschlagen, um sie dazu zu bewegen, gegen sich selbst auszusagen. Ich habe die Folterspuren an ihrem Körper gesehen und mich sofort an die Staatsanwaltschaft und das Untersuchungskomitee gewandt. Bis heute – nach über acht Monaten – haben sie immer noch nicht reagiert. Die vorgeschriebene medizinische Untersuchung nach der Verhaftung wurde solange hinausgeschoben, bis die Spuren der Schläge nicht mehr zu sehen waren.

Osteuropa: Wie erkennt man, ob es sich um ein politisches Verfahren handelt?

Močalov: In vielen Fällen ist der Straftatbestand als solcher bereits ein eindeutiger Hinweis, dass es sich um einen politischen Prozess handelt. Doch dies ist nicht in allen Fällen so. Artikel 178 des Strafgesetzbuches, Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht, wird man kaum als politischen Artikel bezeichnen können. Aber genau nach diesem Artikel wurde die Journalistin Ekaterina Borisevič von der unabhängigen Nachrichtenplattform tut.by verurteilt. Sie hatte berichtet, dass der von Mitarbeitern der Sicherheitsapparate im November 2020 getötete junge Mann (Roman Bondarenko) entgegen der Behauptung der Behörden nicht alkoholisiert war. Dies war nichts anderes als persönliche Rache.

Osteuropa: Und welches sind die häufigsten Artikel in politischen Verfahren?

Močalov: Grober Verstoß gegen die öffentliche Ordnung (Art. 342) und Gründung einer extremistischen Organisation (Art. 361.1). Nach diesen Paragraphen wurde zum Beispiel Anfang Dezember 2021 Vol’ha Zalatar verurteilt. Das Stadtgericht Minsk befand sie für schuldig, eine „extremistische Gruppierung“ gegründet und geleitet zu haben: den Telegram-Kanal „Žadnoviči 2020 – Klub der Viktor-Zoj-Fans“. Die Anklage konnte keine Beweise erbringen, dass sie den Kanal eingerichtet und administriert hat, er lief nach ihrer Verhaftung auch weiter. Der Vorwurf ist aus vielen weiteren Gründen absurd. Juristische Minimalstandards wurden verletzt. Nur ein Beispiel: Das Innenministerium hat den Kanal erst im Oktober 2021 zu einer „extremistischen Gruppierung“ erklärt. So steht es auch in der Anklageschrift. Vol’ha Zalatar wurde aber bereits im März 2021 verhaftet. Nullum crimen, sine lege – kein Verbrechen ohne Gesetz – heißt ein elementarer Rechtsgrundsatz. Und doch wurde sie nach Art. 361,1 zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Zusätzlich wurde sie für schuldig befunden, grobe Verstöße gegen die öffentliche Ordnung organisiert und sich daran beteiligt zu haben. Sie habe diese Verstöße finanziert und Menschen dazu angeleitet. Es fehlt jeglicher Beweis für die Vorwürfe. Die Anklageschrift ist reich an kunstvollen Wendungen, die mit einem juristischen Schriftsatz nichts zu tun haben. Es ging offensichtlich darum, überhaupt irgendeine Anklage hinzubekommen. So wurde ihr etwa vorgeworfen, sie habe „die gesellschaftlichen Normen des Anstands verletzt und die Mitglieder der Gruppe moralisch unterstützt“. Auf Basis von Artikel 342 wurde sie dafür zu zwei Jahren Haft verurteilt. Insgesamt wurde die Strafe auf fünf Jahre festgesetzt. Vol’ha Zalatar hat fünf minderjährige Kinder.

Osteuropa: Gab es in Zusammenhang mit den Protesten gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl einen Prozess, in dem der Angeklagte freigesprochen wurde?

Močalov: Nein. Nicht einen einzigen. Allerdings ist das keine Besonderheit der politischen Prozesse der letzten Monate. In den vergangenen fünf Jahren endete in Belarus statistisch gesehen von 500 Strafprozessen nur ein einziger mit einem Freispruch. Dies ist Ausdruck der totalen Zentralisierung des Justizsystems. Von einer Unabhängigkeit der Gerichte kann keine Rede sein. Die Justiz ist in Belarus ein ausführendes Organ der Staatsgewalt. Gemäß der belarussischen Verfassung obliegt es dem Präsidenten, sämtliche Richter an allgemeinen Gerichten zu berufen oder zu entlassen. Nach persönlichen Gutdünken per Präsidialerlass.

Nimmt man hinzu, dass seit einem Jahr in Belarus die Regel gilt, dass „für Gesetze manchmal kein Platz ist“ und dass der KGB in offiziellen Verlautbarungen von „Säuberungen“ gesprochen hat, die er durchgeführt habe, so wird klar, dass ein Freispruch in einem Strafverfahren absolut unmöglich ist.

Einzige vorstellbare Ausnahme: „Erfolgreiche Verhandlungen“ mit den EU-Staaten und den USA, also ein Handel, bei dem Minsk die politischen Gefangenen in die Waagschale wirft.

Osteuropa: Gelegentlich heißt es, weil das Urteil ohnehin feststehe, sei die Arbeit der Anwälte in Belarus sinnlos.

Močalov: Solche Ansichten sind natürlich verbreitet. Für die Prozesse mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit ist das auch weitgehend richtig. Aber wir haben bislang über die Strafprozesse gesprochen. In einigen Verfahren, in denen es um Ordnungswidrigkeiten ging und über die nicht in der Presse berichtet wurde, ist es mir und meinen Kollegen jedoch durchaus gelungen, einen Freispruch oder in zweiter Instanz eine Milderung des Urteils zu erwirken.

Ich habe mehrere Dutzend Menschen verteidigt, die im vergangenen Jahr zur Zeit der ersten Proteste gegen die Präsidentschaftswahlen zwischen dem 9. und dem 12. August festgenommen und wegen einer Ordnungswidrigkeit, die sie angeblich begangen hätten, zu einer Arreststrafe oder einer Geldbuße verurteilt wurden. Ebenso wie meine Kollegen habe ich diese Urteile angefochten – und sie wurden alle aufgehoben. Bis vor das Oberste Gericht sind wir gezogen. All diese Menschen wurden nach ihrer Verhaftung brutal geschlagen, manche gezielt gefoltert. Einige versuchen, die Täter vor Gericht zu bringen, dabei helfe ich ihnen gegenwärtig.

Dass ein Strafprozess mit einem Freispruch endet, ist zwar ausgeschlossen. Aber in einigen Strafverfahren, die abseits des öffentlichen Interesses stattfanden, ist es meinen Kollegen und mir gelungen, eine Einstellung des Verfahrens zu erwirken. Manchmal wurde auch ein bestimmter, besonders schwerwiegender Vorwurf fallengelassen. Einige Personen, die zunächst nach Artikel 364 des Strafgesetzbuchs wegen Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen einen Polizisten angeklagt waren – ihnen drohte eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren –, wurden im Verlaufe des Prozesses nur noch nach Artikel 263 wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt. Die Höchststrafe nach diesem Artikel sind zwei Jahre Freiheitsentzug. Die beiden Tatbestände liegen sehr nahe beieinander, aber das Strafmaß unterscheidet sich erheblich.

Vielleicht kann man auch im Fall von Ekaterina Borisevič davon sprechen, dass es ein Verdienst ihrer Anwälte war, dass die Haftstrafe nicht höher ausgefallen ist als sechs Monate. Dies war unter dem gegebenen Artikel 178 das geringstmögliche Strafmaß. So wie die Lage der Dinge in Belarus ist, kann man ein Urteil mit Verhängung des Mindeststrafmaßes oder ein Strafmaß, das unter Anrechnung der Untersuchungshaft nach Abschluss des Gerichtsverfahrens zur Freilassung führt, als Freispruch betrachten.

Osteuropa: Das belarussische Menschenrechtszentrum Vjasna dokumentiert das Schicksal der Menschen, die vom belarussischen Menschenrechtsrat als politische Gefangene eingestuft werden. Wie bewerten Sie diese Arbeit?

Močalov: Diese Arbeit ist äußerst wichtig! Der Staat bricht in Belarus systematisch das geltende Recht. Die Bürgerrechtler und ehrenamtlichen Helfer von Vjasna sammeln und dokumentieren alle Rechtsverstöße der Polizei und der Gerichte. Man kann ihre Verdienste gar nicht hoch genug einschätzen. Sie bewahren das Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft und leisten so einen wesentlichen Beitrag zum künftigen Aufbau eines Rechtsstaats in Belarus.

Von großer Bedeutung ist auch das ganze Spektrum der praktischen Unterstützung, die Vjasna den Opfern von Gewalt sowie den Verfolgten und ihren Familien gibt.

Eines darf man aber dabei nicht vergessen: Die Bürgerrechtler können in aller Regel nur dann einen Fall politischer Verfolgung dokumentieren, wenn sich die Familie der oder des Betroffenen an Vjasna wendet. Doch die Verwandten haben oft Angst, dass es dem Verdächtigten, Angeklagten oder Verurteilten zum Nachteil gereicht, wenn er als politischer Gefangener anerkannt wird. Sie fürchten, die Meldung könne ein besonders hartes Urteil oder besonders schlechte Haftbedingungen nach sich ziehen. Andere Informationsquellen als die Familien hat Vjasna nicht, denn bis zum Sommer 2021 wurde ihre Arbeit massiv behindert und seitdem ist sie faktisch verboten.

Osteuropa: Ein Kollege und guter Bekannter von Ihnen ist der Anwalt Maksim Znak. Er wurde in einem besonders infamen Verfahren zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt.

Močalov: Der Prozess gegen Maksim Znak und Marija Kolesnikova, die im gleichen Verfahren wie er angeklagt wurde, war in der Tat besonders absurd. Die Behörden gingen ganz nach sowjetischem Prinzip vor: Für jeden findet sich ein passender Paragraph.

Obwohl der Prozess von ganz besonderer öffentlicher Bedeutung war, wurde er hinter verschlossenen Türen geführt. Keinerlei relevante Information über das Verfahren wurde veröffentlicht. Angeklagt und verurteilt wurden Maksim Znak und Marija Kolesnikova wegen Hochverrats nach Artikel 357, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (Verschwörung oder andere Handlungen zum Zwecke der Ergreifung der Staatsmacht) und nach Artikel 361, Absatz 3 (Mittels Massenmedien oder im Internet verbreiteter Aufruf zu Handlungen, die die nationale Sicherheit der Republik Belarus gefährden) sowie wegen „Gründung einer Terrororganisation“ nach Artikel 361, Absatz 1.

Diese Straftatbestände sah das Gericht erfüllt. Doch was haben Kolesnikova und Znak getan? Sie haben sich im Rahmen ihrer von der Verfassung garantierten Rechte am Wahlkampf von Viktor Babariko beteiligt, bis dieser verhaftet wurde. Nach den Präsidentschaftswahlen hat Maksim Beweise für Verstöße gegen das Wahlgesetz gesammelt und als Rechtsvertreter der Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tichanovskaja versucht, das offizielle Wahlergebnis vor Gericht anzufechten. Er hatte 25 Aktenordner mit Beweisen vorgelegt, aus denen klar hervorging, dass das offizielle Ergebnis annulliert werden muss. Doch das Oberste Gericht hat die Klage erst gar nicht zugelassen und die Beweise somit nicht einmal gesichtet.

Ebenfalls wurde Znak und Kolesnikova die Gründung des Koordinationsrats der Belarussischen Gesellschaft zur Last gelegt, also die Schaffung eines Diskussionsforums für die Suche nach einer friedlichen Lösung der politischen Krise nach den Präsidentschaftswahlen, anstelle von Gewalt und Einschüchterung, auf die der staatliche Machtapparat setzte.

Die Ermittlungsbehörden und das Gericht haben also friedliche und legale Handlungen, deren Ziel die Regulierung eines politischen Konflikts war, als Verbrechen bewertet.

Persönlich kann ich berichten, dass Maksim Znak und Marija Kolesnikova ungebrochen sind. Sie haben sich mit größtem Mut und höchster Professionalität konsequent für Rechtsstaatlichkeit eingesetzt und tun dies auch nach den Unrechtsurteilen weiter, mit denen sie zu zehn bzw. im Falle von Marija Kolesnikova elf Jahren Strafkolonie verurteilt wurden.

Osteuropa: Sie haben jüngst Ihre Anwaltslizenz verloren. Wie kam es dazu?

Močalov: In der Tat wurde ich im Juni 2021 aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Als Anlass wurde genommen, dass ich in einem Interview mit dem polnischen Sender BelSat gesagt hatte, dass meine Mandantin Vol’ha Zalatar nach ihrer Verhaftung gefoltert wurde, um sie dazu zu zwingen, gegen sich selbst auszusagen. Es war mir gelungen, kurz nach ihrer Verhaftung zu ihr in die Zelle vorgelassen zu werden. Ich fand eine verprügelte Frau vor. Ich sage Ihnen, so etwas lässt einen nicht gleichgültig.

Wir haben Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft und beim Untersuchungskomitee eingereicht, und als diese nicht reagierten, beschlossen wir, an die Öffentlichkeit zu gehen. Es ist bezeichnend, dass die Disziplinarkommission meiner Anwaltskammer gar nicht bestritten hat, dass meine Mandantin gefoltert wurde. Alles, was mir vorgeworfen wurde, war, dass ich einen Sachverhalt bekannt gegeben habe, der nach Ansicht der Kommissionsmitglieder zuvor durch ein Gerichtsurteil hätte bestätigt werden müssen. Erst danach hätte ich das Recht gehabt, öffentlich darüber zu sprechen. Das ist absurd und widerspricht den ethischen Prinzipien des Anwaltsberufs.

Es gibt klare Hinweise darauf, dass die Forderung, mich aus der Kammer auszuschließen, aus dem Justizministerium kam. Die Leitung der Anwaltskammer leugnet dies nicht einmal, obwohl es eindeutig widerrechtlich ist, denn die Anwaltskammer ist ein unabhängiges Organ.

Man darf davon ausgehen, dass der Ausschluss von Anwälten aus der Anwaltskammer, die den verbliebenen unabhängigen Medien Auskünfte erteilen, der weiteren Zerstörung des öffentlichen Raums dient.

Seit August 2020 wurden über 40 Anwälten die Lizenz entzogen. Neben dem Ausschluss aus der Anwaltskammer gibt es noch ein anderes Verfahren: Eine staatliche Überprüfungskommission kommt zu dem Schluss, dass der entsprechende Anwalt nicht ausreichend qualifiziert sei. So geschehen mit Irina Voronkova, der Anwältin von Eduard Babariko. Daraufhin hat das Justizministerium im November 2020 ihre Lizenz annulliert. Ebenso die Lizenzen der beiden anderen Anwälte von Babariko, die zuvor aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden waren. Auch Natal’ja Vancovič, die nach mir die Verteidigung von Vol’ha Zalatar übernommen hatte, bescheinigte die Kommission mangelnde Qualifikation, und dies wenige Tage vor dem Urteil.

Osteuropa: Seit Sie Ihre Lizenz verloren haben, arbeiten Sie an einer Dokumentation der Gewalt, die die Einsatzkräfte im August 2020 gegen friedliche Demonstranten anwendeten.

Močalov: Das ist richtig. Im August 2020 habe ich gemeinsam mit einigen Kollegen im Minsker Unfallkrankenhaus eine juristische „Notaufnahme“ bereitgestellt. Was ich dort gesehen habe, werde ich nie wieder vergessen. In den Tagen nach der Wahl am 9. August lieferten die Krankenwagen ohne Unterbrechung bewusstlose, blutüberströmte Menschen ein, mit offenen Brüchen, klaffenden Kopfwunden und vielen anderen schweren Verletzungen. Einmal war ich auf der Intensivstation. Es war unbeschreiblich. Es war, als sei Krieg. Aber die Menschen wurden nicht von der Front gebracht, sondern von Polizeiwachen, aus einem der berüchtigten Erstaufnahmegefängnisse oder aus einer der Haftanstalten für Arreststrafen.

Die Staatsanwaltschaft hat jedoch kein einziges Untersuchungsverfahren gegen die Verantwortlichen angestrengt. Daher haben meine Kollegen und ich begonnen, Materialien für eine „rechtsanwaltliche Untersuchung“ zu sammeln. Wir haben Opfer befragt, Zeugen gesucht, Beweise zusammengetragen, Videoaufzeichnungen, ärztliche Berichte. Das ganze Ausmaß der Foltermethoden und des absichtlichen Quälens wurde mir dabei erst bewusst. Man kann es sich nicht vorstellen, und doch tun dies Menschen, die mitten unter uns leben.

Dann nahmen die Repressionen aber rasch zu und ich musste mich aktuellen Fällen widmen. Die Dokumentation blieb liegen. Seit mir die Lizenz entzogen wurde, arbeite ich wieder an dieser Dokumentation und werde sie bald abschließen. Da das belarussische Untersuchungskomitee mittlerweile offiziell erklärt hat, dass es keine Untersuchung zu der Folterung und der unmenschlichen Behandlung von Verhafteten im August 2021 eröffnen wird, ist diese Dokumentation besonders wichtig.

Das Gespräch führte und übersetzte Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Lukašenka verwendete diese Phrase in einer Rede vor Vertretern der Staatsanwaltschaft am 10.9. 2020, um sie im folgenden Satz scheinbar wieder aufzuheben: „Im gegebenen Fall ist die Situation eine andere. Ich wiederhole: Ich rufe Sie nicht dazu auf, gegen Gesetze zu verstoßen, Sie haben ausreichend Gesetzgebung und Gesetze, um dieses Land vor diesem Überfall zu schützen, damit es nicht die Varianten Ukraine, Libyen, Syrien und so weiter wiederholt.“ <www.currenttime.tv/a/ lukashenko-prizval-prokurorov-spasti-stranu/30830812.html>. – Red.

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