Editorial
Krisenbogen
Abstract in English
(Osteuropa 8-9/2021, S. 34)
Volltext
Entfernungsrechner erwecken den Anschein objektiver Tatsachen: Die Luftlinie zwischen Berlin und Moskau beträgt 1608 Kilometer. Von Moskau nach Peking ist es mit 5793 Kilometern fast dreimal so weit. Berlin und Minsk trennen 953 Kilometer, Minsk und Pjöngjang 7251 Kilometer.
Diese Entfernungen waren im Dezember 1991 dieselben, als sich die Präsidenten von Russland, Belarus und der Ukraine auf einer Datscha am Rande des belarussisch-polnischen Naturschutzgebiets Belavežskaja pušča zunächst gegenseitig der territorialen Integrität ihrer Staaten versicherten und sich dann auf das Ende der Sowjetunion verständigten. Am 31. Dezember 1991, Punkt Mitternacht, trat die UdSSR von der politischen Weltbühne ab. Drei Jahrzehnte ist das nun her. Aber im erinnerungskulturellen Kalender Europas spielt dieser Jahrestag kaum eine Rolle. Das ist falsch. Denn während der Untergang multinationaler Imperien bis dahin Millionen Menschenleben in Krieg, Genozid und Vertreibung gekostet hatte, löste sich die Sowjetunion weitgehend friedlich auf. Das ist angesichts des Konfliktpotentials und der einsatzbereiten Massenvernichtungsmittel vor Ort bemerkenswert. Das lange Jahr 1991, das mit dem Fall der Mauer 1989 begonnen hatte, bleibt ein annus mirabilis. Das welthistorische Abtreten der kommunistischen Führungsmacht war wie eine notarielle Beglaubigung, dass nun auch der Ost-West-Konflikt der Geschichte angehört. Bereits im November 1990 waren alle Mitglieder der KSZE, also auch die Sowjetunion, in Frankreich zusammengekommen. In der „Charta von Paris für ein neues Europa“ – so der vollständige Titel – erklärten sie: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen.“ Die Regierungen verpflichteten sich, „die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken, […] Menschenrechte und Grundfreiheiten […] zu schützen und zu fördern.“ Alle Staaten unterstrichen die Bedeutung von regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und der Geltung von Bürger- und Minderheitenrechten.
In diesem Moment schrumpfte die Entfernung zwischen Berlin und Moskau auf den kognitiven Landkarten der Europäer auf ein Minimum. Dagegen wuchs die politische Distanz zu den Diktaturen in China und Nordkorea erheblich. Nie zuvor hatten sich Deutsche und Russen, Polen und Belarussen, Europäer in West und Ost einander näher gefühlt. Aus Feinden wurden Freunde, an die Stelle der Konfrontation rückte der Wille zur Kooperation. „Gemeinsame Sicherheit“ war mehr als ein entspannungspolitisches Schlagwort.
Von diesem Geist der Zeit ist nichts geblieben. Seit zwei Jahrzehnten haben sich die politischen Regime in Russland und Belarus Schritt für Schritt von den Prinzipien der Charta von Paris abgewandt, die auch die Geschäftsgrundlagen des Europarats sind. Heute haben das Putin- und das Lukašenka-Regime für diese Prinzipien nur noch Verachtung übrig – und Repressionen. Wer es in Russland und Belarus noch wagt, Grundfreiheiten wie die Presse- und Versammlungsfreiheit wahrzunehmen, freie Wahlen zu fordern und für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einzutreten, wird drangsaliert, kriminalisiert und inhaftiert. Seit der Rückkehr des Oppositionellen Aleksej Naval’nyj nach Russland im Januar 2021 und der gewaltsamen Auflösung der Demonstrationen gegen seine Verhaftung hat das Putin-Regime eine Repressionsspirale in Gang gesetzt, die immer neue Kreise erfasst. Betroffen sind Oppositionelle, Freigeister, Journalisten sowie eine wachsende Zahl von NGOs und unabhängigen Medien, wie es die Analyse von OVD-Info im vorliegenden Heft zeigt. Ende Dezember 2021 traf es die älteste und renommierteste NGO Russlands, die sich um die Aufarbeitung des Stalinismus, die Rehabilitation der Opfer und den Schutz der Menschenrechte verdient gemacht hat. Memorial International und das Menschenrechtszentrum Memorial wurden zwangsaufgelöst – aus rein politischen Gründen und nach sorgfältiger massenmedialer Vorbereitung, wie Ulrich Schmid belegt.
Mit diesem Verbot versucht der Kreml zu signalisieren, dass künftig keine NGO ihrer Existenz mehr sicher sein kann. Das übergeordnete Ziel ist die Zerschlagung der Zivilgesellschaft. In Moskau und Minsk sind Schauprozesse wieder an der Tagesordnung. In Belarus werden Gesichter der Freiheit wie Maryja Kalesnikava, der Rechtsanwalt Maksim Znak oder der Blogger Sjarhej Zichanoŭski nach kafkaesken Verfahren für ein Jahrzehnt oder länger weggesperrt. Über 900 Inhaftierte gelten als politische Gefangene. Zehntausende Menschen aus Belarus und Russland haben sich nach Tiflis oder Kiew abgesetzt oder sind nach Warschau, Berlin, Prag, Vilnius oder Riga geflüchtet und haben in der EU politisches Asyl beantragt.
Putin droht der Ukraine (und der EU) mit einem neuen Krieg. Und Lukašenka betreibt ein perfides Spiel: Er hat Tausende Migranten aus dem Irak und Syrien, die dem langen Schatten der Gewalt, des Terrors und des Elends unter den Diktatoren Saddam Hussein und Baschar al-Assad zu entkommen hofften, mit dem Versprechen nach Belarus gelotst, dass sie von dort in die EU gelangen können. Doch statt dessen sind diese leichtgläubigen Migranten zu Geiseln des belarussischen Diktators geworden, der sie in der Belavežskaja pušča als Druckmittel gegen Polen und die EU einsetzt und eine neue Krise an der belarussisch-polnischen Grenze ausgelöst hat. Dass Polens Regierung unter Führung der nationalkonservativen PiS diese Krise willkommen ist, um die eigenen Reihen zu schließen, die Erosion ihrer Machtbasis zu stoppen und vom Konflikt Warschaus mit Brüssel über die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land abzulenken, steht auf einem anderen Blatt.
Fakt ist: Mit jeder dieser repressiven Entscheidungen sind die Entfernung und die damit einhergehende Entfremdung zwischen Berlin und Moskau sowie der EU und Russland gewachsen. Nie waren sich Moskau und Peking politisch näher als heute. Und der Weg zur Verständigung ist von Minsk nach Pjöngjang jetzt kürzer als nach Vilnius oder Warschau. Die vermeintlich objektive geographische Entfernung hat grundlegend an Bedeutung verloren.
Der Raum von Moskau über Minsk und Kiew bis Warschau ist zu einem einzigen Krisenbogen geworden. Konflikte und Krisen überlagern und verstärken sich. In ihrer Komplexität erinnern sie an einen gordischen Knoten. Aber niemand ist da, der ihn durchschlagen wird. Das Dilemma ist offenkundig: Das Putin-Regime und das Lukašenka-Regime benötigen Repression, Krisen und kriegerische Drohgebärden wie die Luft zum Atmen. Sie sind sich ihrer Eskalationsdominanz sicher. Wer dagegenhält, begibt sich auf das Feld, auf dem diese rücksichtslosen Regime ihre Stärke haben. Wer glaubt, sie durch Dialog besänftigen zu können, verkennt ihre Natur. Es sind alte Instrumente aus dem Werkzeugkasten der internationalen Politik, die nun gebraucht werden: nüchterne Analyse der Interessen, realistische Einschätzung der Kräfte, vorausschauendes Handeln, Sachlichkeit im Ton, Konsequenz im Handeln.
Berlin, 29. Dezember 2021
Manfred Sapper, Volker Weichsel