Titelbild Osteuropa 8-9/2021

Aus Osteuropa 8-9/2021

Polen wirft den Fehdehandschuh
Der Rechtsstaatlichkeitskonflikt mit der EU eskaliert

Piotr Buras

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Abstract in English

Abstract

Polens Konflikt mit der EU über die Rechtsstaatlichkeit der polnischen Justizreform hat sich verschärft. Polen ist nicht bereit, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anzuerkennen, der die Disziplinarkammer für rechtswidrig erklärt hat. Die Regierung weigert sich, dieses Herzstück ihres Justizumbaus abzuschaffen und will die vom EuGH verhängten Strafen nicht zahlen. Im Oktober 2021 entschied Polens Verfassungsgerichtshof, dass der Primat des EU-Rechts der polnischen Verfassung widerspreche. Das schrille Wort vom Polexit machte die Runde. Die Regierung hat sich für die Konfrontation mit der EU entschieden. Das hat innenpolitische Gründe, denn die Regierungspartei PiS verliert an Unterstützung. Doch Radikalisierung und Konfrontation führen in die Sackgasse.

(Osteuropa 8-9/2021, S. 25–38)

Volltext

Im Herbst 2021 hat ein neues Kapitel in der polnischen Politik begonnen. Mit dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2021, der das Primat des EU-Rechts bestritt, verschärfte sich nicht nur der Konflikt zwischen Polen und der EU um die Rechtsstaatlichkeit, sondern damit rückte das Szenario des Polexit, eines Austritts Polens aus der EU, ins Zentrum der politischen Debatte. Innenpolitisch verliert die seit 2015 amtierende Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) an Rückhalt. Durch das Ausscheiden des bisherigen Koalitionspartners Porozumienie (Verständigung) verfügt sie nur noch über eine knappe Mehrheit. Auch in der Gesellschaft geht ihre Unterstützung zurück. Das zeigen Umfragen. Im November 2021 wollten knapp 30 Prozent der Befragten die PiS wählen, zwei Prozentpunkte weniger als im Vormonat und sechs weniger als vor einem Jahr.[1] Die Frage, ob und wie die PiS aus diesem Umfragetief kommt, um sich beim nächsten Urnengang 2023 die Wiederwahl zu sichern, ist für die politische Zukunft des Landes von zentraler Bedeutung. Beide Krisen der PiS – der Rückgang der öffentlichen Unterstützung und Polens Verhältnis zur EU – sind eng verwoben. Ihr künftiger Verlauf wird maßgeblich davon abhängen, wie die EU auf die Zuspitzung des Konflikts regiert und welche Kursentscheidungen Jarosław Kaczyński und seine Partei treffen werden, die in den kommenden Monaten zu erwarten sind.  

Der Fehdehandschuh

Seit Jahren herrscht ein Konflikt zwischen Polen und der EU über die Frage, ob Polen die Unabhängigkeit der Justiz beschneidet und damit gegen die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union verstößt.[2] Am 7. Oktober 2021 erklärte der polnische Ver­fassungs­gerichtshof, der 2016 eine der ersten Institutionen war, die von der PiS-Regierung mit verfassungswidrigen Tricks unter Kontrolle der Politik genommen wurde,[3] Teile des EU-Vertrags als unvereinbar mit Polens Verfassung.[4] Konkret geht es um Artikel 2 und 19 des EU-Vertrags, die Rechtsstaatlichkeit und effizienten Rechts­schutz als zentrale Merkmale der EU-Rechtsordnung bestimmen. Diese beiden Artikel hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in den vergangenen Jahren in seinen Urteilen als Grundlage zur Definition der europäischen Standards richterlicher Unabhängigkeit herangezogen. Dagegen urteilten die polnischen Verfassungsrichter:

„Der Versuch des Europäischen Gerichtshofs, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen […] die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt.“

Sie erklärten, dass die EU-Mitgliedschaft des Landes und die Unterzeichnung der EU-Verträge nicht bedeuteten, dass den EU-Gerichten die höchste rechtliche Autorität übertragen worden sei und Polen seine Souveränität an die EU abgetreten habe.[5] Das Gericht urteilte auf Antrag von Premierminister Mateusz Morawiecki. Das Urteil ist weniger als Akt der Rechtsprechung denn als eine politische Entscheidung zu bewerten. Nicht zum ersten Mal bediente sich die polnische Regierung des als ihr verlängerter Arm fungierenden Verfassungsgerichtshofs, um eine Gesetzeslage zu verändern, ohne dafür direkt politische Verantwortung tragen zu müssen.[6] Im Oktober 2020 erklärte das Gericht die Abtreibung auch im Falle medizinischer Indikation für verfassungswidrig. Auch da hatte sich die Regierung angesichts des breiten Widerstands in der Gesellschaft nicht getraut, eine entsprechende Verschärfung des Abtreibungsgesetzes mit den Stimmen der Parlamentsmehrheit zu verabschieden.

Das politische Ziel, das Morawiecki im Falle des Urteils vom 7. Oktober 2021 verfolgte, bestand in der Errichtung einer verfassungsrechtlichen Abwehrmauer gegen die EuGH-Urteile, welche die Justizreform der PiS rückgängig machen könnten. Konkret ging es um das EuGH-Urteil vom 15. Juli 2021, demzufolge das polnische Disziplinarsystem für Richter mit dem EU-Recht nicht kompatibel ist und in seiner aktuellen Form abgeschafft werden muss. Dieses System ist das Herzstück der Justizreform der PiS. Es gewährt dem Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, weitgehende, im europäischen Maßstab präzedenzlose Kontrolle über die Richter. Er ernennt sowohl die Staatsanwälte, welche ein Disziplinarverfahren einleiten, als auch Richter, die dann im Disziplinarfall das Urteil fällen; er kann selbst in die Disziplinarverfahren eingreifen oder sie erzwingen. Die Richter können im Falle, dass sie sich auf EU-Recht berufen oder mit Fragen zur Klärung an den EuGH wenden, bestraft oder suspendiert werden. Das Disziplinarsystem ist in den vergangenen Jahren zum wichtigsten Instrument der Einschüchterung der Richter geworden und steht wie nichts anderes für die Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz in Polen.[7]

Sollte das EuGH-Urteil vom 15. Juli vollumfänglich umgesetzt werden, wozu der polnische Staat nach EU-Recht ohne Wenn und Aber verpflichtet ist, würde damit ein großer Schritt in Richtung Widerherstellung der Rechtsstaatlichkeit gegangen werden. In dem Konflikt mit der EU wäre das der größte Rückschlag für Jarosław Kaczyński und Justizminister Zbigniew Ziobro, für welche die Kontrolle über die Justiz ein lange verfolgtes politisches Ziel war und nun ein Pfeiler im machtpolitisch motivierten Plan des Umbaus der Republik ist.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich die polnische Regierung von Anfang an weigerte, das EuGH-Urteil vom 15. Juli umzusetzen. Das von ihr selbst erwirkte Urteil des Verfassungsgerichts gibt dieser Position einen Schein der Legalität, obwohl Entscheidungen nationaler Gerichte natürlich kein legitimer Grund für die Nicht-Anwendung des EU-Rechts sind. Den Konflikt stilisiert die PiS-Regierung zum Kampf um Polens nationale Souveränität. Sie kritisiert die europäischen Institutionen scharf für ihren vermeintlichen Machtmissbrauch. Justizminister Ziobro nahm kein Blatt vor den Mund: 

„Wir haben es mit einem politischen Urteil tun, das auf politischen Antrag der Europäischen Kommission gefällt wurde. Es fußt auf einer Segregation der Länder in gute und böse.“

Auch Premierminister Morawiecki sprach von einer „Diskriminierung“ Polens, da es ähnliche Justizsysteme auch in anderen Ländern gebe, etwa in Deutschland oder Spanien.[8]

Die Verfechter der Justizreform nehmen oft Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom 5. Mai 2020 zur partiellen Verfassungswidrigkeit des Anleihekaufprogramms (PSP) der Europäischen Zentralbank. So sagte der stellvertretende Justizminister Sebastian Kaleta, dass das Karlsruher Urteil zeige, dass Warschau im Streit um die Rechtsstaatlichkeit mit Brüssel Recht habe.[9] Doch dieser Vergleich hinkt. Während das Bundesverfassungsgericht lediglich eine andere Interpretation des EU-Vertrags als der EuGH vorlegte, erklärte das polnische Gericht gleich ganze Artikel des EU-Vertrags für verfassungswidrig.

Justizminister Ziobro erklärte, dass das Urteil des EuGH „rechtswidrig“ sei und seine Umsetzung daher nicht in Frage käme.[10] Er und seine Kollegen von der PiS stellen die Auseinandersetzung mit Brüssel als Teil des Streits um die Kompetenzen der EU-Institutionen dar.[11] Auch Mateusz Morawiecki, der sich sonst gerne als moderater EU-Realist und zuverlässiger Partner präsentiert, wählte vor dem Europäischen Parlament einen scharfen Ton. Er behauptete, Polen sei von den EU-Institutionen „angegriffen worden“  und werde nun erpresst.[12]

Die polnische Bevölkerung steht in diesem Streit mehrheitlich nicht hinter der eigenen Regierung. Einer Umfrage des „Instituts für Öffentliche Angelegenheiten“ vom Ende November 2021 zufolge sind 50 Prozent der Polen der Meinung, dass die polnische Regierung die Verantwortung für die Krise zwischen Warschau und Brüssel trägt. Nur 19 Prozent machen die EU dafür verantwortlich. 48 Prozent der Polen teilen die Auffassung, dass die EU-Institutionen zu spät und zu schwach auf die Verletzungen des EU-Rechts reagierten, während 22 Prozent das Gegenteil behaupten. Interessanterweise unterstützen 61 Prozent der Polen die Regel, dass bei Rechtsstaatsverletzungen EU-Gelder gestrichen werden können. Dagegen sind 25 Prozent der Befragten.[13]

Polexit-Debatte

Die Auseinandersetzung um das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs verschärfte die Tonlage in der polnischen EU-Debatte. Bemerkenswert und für EU-Befürworter besorgniserregend war, dass immer mehr prominente PiS-Politiker sich ungewohnt scharf äußerten und selbst den Sinn der EU-Mitgliedschaft Polens in Frage zu stellen schienen. So sprach der Vorsitzende der PiS-Fraktion im Sejm, Ryszard Ter­lecki, von eventuell erforderlichen „drastischen Schritten“ und nannte den Polexit.[14] Ein anderer prominenter PiS-Politiker, Marek Suski, kritisierte die „Brüsseler Be­satzer“.[15] Diese Wortwahl war Wasser auf die Mühlen der Opposition und eines Teils der Medien, die nun der Regierung vorwarfen, dem Polexit das Wort zu reden und die polnische Staatsräson aufs Spiel zu setzen. Donald Tusk, Vorsitzender der größten Oppositionspartei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska), regte eine Verfassungs­änderung an. Die EU-Mitgliedschaft solle Verfassungsrang erhalten. Es war allerdings nur eine parteipolitisch motivierte Initiative, ohne Aussicht auf Erfolg, da die für die Umsetzung dieser Idee notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament fehlt. Meinungsumfragen zeigen, dass eine stabile Mehrheit von bis zu 88 Prozent der polnischen Gesellschaft in der EU bleiben will.[16] Dass angesichts dieser öffentlichen Meinung die Diskussion über einen Polexit der PiS zu schaden drohte, begriff die Parteiführung schnell. Deshalb ließ sie am 15. September das Präsidium der PiS eine Erklärung verabschieden, wonach die Partei auf keinen Fall für einen Austritt Polens aus der EU eintrete.[17] Mit dieser Erklärung vermochte die PiS die Gemüter im Lande nur eingeschränkt zu beruhigen, da EU-kritische und antideutsche Propaganda im Staatsfernsehen TVP sowie kämpferische Aussagen insbesondere des Justizministers nicht nachließen. Im Hauptnachrichten­programm des TVP wurde etwa vom Kampf der „polnischen Verfassung gegen die deutsche Hegemonie“ gesprochen. Außerdem wurden vermeintliche Doppelstandards der Kommission angeprangert. Diese habe es auf Polen abgesehen, bleibe im Falle der Korruptionsaffäre des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz aber untätig.[18]

Im Konflikt mit der EU ist allerdings nicht die politische Rhetorik, sondern die hartnäckige Ablehnung der Umsetzung der EuGH-Entscheidungen über die polnische Justiz von größter Bedeutung. Unter offener Verletzung des bindenden Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg hat Polen die Arbeit der Disziplinarkammer im Ober­sten Gerichtshof nicht eingestellt. Diese ist das höchste Organ im Disziplinarverfahren für Richter und ist ausschließlich mit Richtern besetzt, die der von der PiS kontrollierte Nationale Justizrat ernannt hat. Laut EuGH-Urteil ist die Disziplinarkammer kein Gericht, da die Unabhängigkeit ihrer Mitglieder nicht gewährleistet ist. Die Regierung zeigt sich von dieser Entscheidung unbeeindruckt. Die Disziplinarkammer arbeitet unverändert weiter. Seit Juli 2021 hat sie weitere polnische Richter suspendiert, weil diese sich auf die EuGH-Rechtsprechung berufen hatten.[19]

Obwohl seit dem EuGH-Urteil vier Monate vergangen sind, hat die polnische Regierung keine Initiative ergriffen, um die Gesetzlage an die Rechtsprechung des EuGH anzupassen. Zwar deuteten Kaczyński und Morawiecki an, dass die Disziplinarkammer aufgelöst werde. [20] Aber der Grund sei nicht das Urteil des EuGH. Vielmehr habe sich die Kammer als ineffizient erwiesen. Doch dieser Ankündigung sind bislang keine Taten gefolgt. Als der EuGH am 27. Oktober 2021 eine Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag für die Nichtbeachtung der Entscheidung über die Suspendierung der Disziplinarkammer verhängte, erklärte die polnische Regierung, dass sie diese Strafe nicht akzeptiere und nicht zahlen werde.[21] Es ist nicht die erste Geldstrafe des EuGH, die die Warschauer Regierung explizit ablehnt. Im Streit mit der Tschechischen Republik um das polnische Bergwerk Turów, das auf der tschechischen Seite der Grenze Umwelt­schäden verursacht, verfügte der EuGH am 20. September 2021, dass Polen 500 000 Euro täglich für die Nichteinstellung des Betriebs des Bergwerks zahlen soll, die das Gericht angeordnet hatte.[22] Bezahlt hat Warschau bislang keinen Cent.

Dass die PiS in der Auseinandersetzung mit der EU den Weg der Konfrontation statt des Kompromisses eingeschlagen hat, zeigt sich an den jüngsten Schritten. Justiz­minister Ziobro verkündete am 15. November 2021 Pläne für eine neue umfassende Justiz­reform.[23] Sie sieht unter anderem die Verkleinerung des Obersten Gerichtshofs sowie eine Überprüfung seiner Richter nach spezifischen Kriterien vor. Wer diese Kriterien, die bislang nicht öffentlich bekannt sind, nicht erfülle, werde entlassen. Kritiker wie die unabhängige Juristen-Initiative Freie Gerichte (Wolne Sądy) befürchten, dass diese neuerliche Justizreform der unabhängigen Justiz in Polen den Todesstoß versetzen würde.[24] Damit nicht genug. Am 24. November fasste der Verfassungsgerichtshof, diesmal auf Antrag des Justizministers, ein weiteres Urteil, das für großes Aufsehen sorgte. Seiner Linie vom 7. Oktober folgend erklärte das Tribunal nun, dass auch Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention, auf deren Basis der Euro­päische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Unabhängigkeit der pol­nischen Justiz überprüft, im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen.[25] Es geht um den Artikel 6 der Konvention, auf dessen Grundlage der Straßburger Gerichtshof überprüfen kann, ob Richter in den Unterzeichnerstaaten im Sinne der Konvention unabhängig sind. Damit wurde nach dem EuGH auch dem zweiten europäischen Gericht, das der Hüter der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in allen 47 Mitgliedstaaten des Europarats ist, die Legitimität und Kompetenz abgesprochen, Urteile über Polen zu fassen. Die PiS-Politiker hatten die Zuständigkeit des EGMR, über polnische Justiz­fragen zu urteilen, bereits im Juni 2021 zurückgewiesen. Damals erklärte der Euro­päische Gerichtshof für Menschenrechte im sogenannten Xero-Flor-Urteil, dass einige Richter des polnischen Verfassungsgerichtshofs nicht unabhängig und daher ihre Urteile nicht legal sind. Premierminister Morawiecki reagierte mit dem Hinweis, dass Polen den Gerichtshof für Menschenrechte zwar respektiere, aber die polnische Verfassung in der Normenhierarchie ganz oben stehe und die polnische Justizreform ohne Rücksicht auf die Straßburger Entscheidung fortgesetzt werde. Justizminister Ziobro warf dem Gerichtshof EGMR gar eine „unzulässige Politisierung“ vor.[26] Das Signal aus Warschau ist unmissverständlich. Die Regierung will sich weder von der EU noch vom Europarat diktieren lassen, dass sie das Prinzip der Gewalten­teilung beachten und garantieren muss. Nur Polen habe das Recht, über das polnische Justizsystem zu bestimmen. Das ist in der Tat eine nationalstaatliche Kompetenz. Doch die PiS-Regierung beansprucht für sich, alleine zu bestimmen, auf welchen Werten das polnische Justizsystem beruht – selbst wenn dabei Grundprinzipien der EU ignoriert werden.

Nationaler Wiederaufbauplan und EU-Rechtsstaatsmechanismus

Die Unnachgiebigkeit der PiS ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der finanziellen Sanktionen bemerkenswert, die Polen nun drohen und die weit über die vom EuGH verhängten Strafen hinausgehen würden. Im Zentrum der Debatte steht die ausstehende Genehmigung des polnischen Nationalen Wiederaufbauplans. Im Rahmen dieses vom EU-Coronafonds finanzierten Ausgabenprogramms soll Polen bis zum Jahr 2026 24 Milliarden Euro an Zuschüssen und 37 Milliarden Euro an Krediten bekommen. Dieser Plan muss zunächst die Zustimmung der EU-Kommission bekommen, dann muss er vom EU-Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden. Obwohl die Kommission im Normalfall ihre Entscheidung bis Mitte August hätte verkünden sollen, ziehen sich die Verhandlungen mit Warschau hin.

Der Grund sollen die Rechtsstaatsprobleme sein. Nach der EU-Verordnung über den Wiederaufbauplan sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihren nationalen Ausgabenprogrammen darzulegen, wie sie die Reformempfehlungen der Kommission und des Rates aus dem jährlichen Europäischen Semester umsetzen wollen. Eine der Empfehlungen, die Polen in den vergangenen Jahren regelmäßig bekam, bezog sich auf die notwendige Verbesserung der Unabhängigkeit der Justiz. Im Lichte der Entwicklungen der letzten Monate kann davon keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: Die unkooperative Haltung Warschaus und die andauernden Repressionen gegen Richter zeugen davon, dass sich die Lage weiter verschlechtert. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte am 28. Oktober, dass sie eine Empfehlung für die Genehmigung des polnischen Plans nur unter der Voraussetzung aussprechen würde, dass sich Polen in seinem Wiederaufbauplan verbindlich zu konkreten Schritten und einem genauen Zeitplan verpflichtet, die im Endeffekt die Umsetzung des EuGH-Urteils vom 15. Juli bedeuten würden.[27] Der Besuch vom Justizkommissar Didier Reynders in Polen im November 2021 brachte keinen Durchbruch. Statt konkreten Zusagen von Justizminister Zbigniew Ziobro bekam Reynders Bilder vom im Zweiten Weltkrieg zerstörten Warschau zu sehen – als Zeichen, dass sich das geschichtsbewusste Polen dem Druck von außen nicht beugen werde.[28]

Die Frage, ob die Kommission noch 2021 dem polnischen Plan grünes Licht gibt, ist politisch und finanziell brisant. Sollte die Freigabe der Mittel bis Ende 2021 genehmigt werden, könnte die Auszahlung der Anzahlung von 4,7 Milliarden Euro noch im Dezember erfolgen. Obwohl es auf der polnischen Seite wenig bis keine Indizien gab, dass eine Einlenkung in diesem Streit möglich wäre, mehrten sich im Herbst 2021 Signale, dass die Kommission und Mitgliedstaaten zu einem weitgehenden Entgegenkommen gegenüber Warschau bereit wären, um den Konflikt beizulegen.[29] Das wäre ein großer politischer Erfolg der PiS, vor allem dann, wenn sie es auf dem Wege von Verhandlungen schaffen sollte, dass die Genehmigung der Kommission nicht daran gekoppelt sein würde, dass Polen die Auflagen des EuGH-Urteils vollumfänglich umsetzen muss. Am 1. Dezember berichtete die Financial Times, dass eine Vereinbarung in Reichweite sei.[30]

Die wirtschaftspolitische Bedeutung von umgerechnet ca. 20 Milliarden Złoty ist nicht von der Hand zu weisen. Sollte die Freigabe nicht möglich sein, würde die Anzahlung zwar nicht komplett gestrichen werden. Gleichwohl müsste die Regierung auf dieses Geld lange warten – bis der gesamte Plan genehmigt und konkrete Meilensteine zu seiner Umsetzung erfüllt sind.

Während die Verhandlungen über den nationalen Wiederaufbauplan der EU der wirksamste Hebel Brüssels gegenüber der polnischen Regierung sind, griff Brüssel noch zu einem anderen finanziellen Instrument, um den Druck zu steigern. Am 17. November 2021 schickte die Kommission einen zwölfseitigen Brief an Polens Regierung mit detaillierten Fragen zur Funktionsweise der Staatsanwaltschaft und der Justiz und bat um eine Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten.[31] Das ist offensichtlich der erste Schritt zur Anwendung des neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, die das Europäische Parlament seit langem gegen Polen und Ungarn fordert, weil deren Regierungen seit Jahren die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit verletzen. Auf Antrag der Kommission kann der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit dieses Instrument einsetzen und EU-Haushaltsmittel für das betroffene Land suspendieren oder streichen.  

Damit tritt Polens Konflikt mit der EU in eine neue Phase.[32] Da bereits ein verbindliches Urteil des EuGH vorliegt, steht nicht mehr die politische Frage im Vordergrund, inwieweit Polens Justizsystem von den europäischen Standards abweicht oder sich von den Strukturen des Rechtsstaates in anderen EU-Ländern unterscheidet. Jetzt geht es darum, ob, wann und wie die Entscheidung des höchsten EU-Gerichts umgesetzt wird. Und ob die PiS-Regierung trotz ihrer vehementen und beispiellosen Ablehnung der EuGH-Rechtsprechung aus diesem Konflikt gesichtswahrend herauskommen kann. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt die Autorität des EuGH, womit die polnische Krise eine europäische Dimension erlangt. Eine dauerhafte Absage an das EU-Recht stellt für Polen auch die Gefahr eines „rechtlichen Polexit“ dar.[33] Die Urteile der polnischen Gerichte können in anderen EU-Mitgliedstaaten nicht anerkannt, der Status der polnischen Richter angezweifelt und immer mehr Formen der Zusammenarbeit im Bereiche der Justiz und des Inneren, so etwa der Europäische Haftbefehl unter Teilnahme Polens, nicht mehr möglich werden. Selbst wenn Polens Austritt aus dem Gemeinsamen Markt und der EU heute nicht ernsthaft zur Diskussion steht und nicht einmal von der PiS gewollt wird, würde diese Option notwendigerweise auf die Tagesordnung kommen, sollten Warschau und Brüssel keine Lösung finden.

Am 7. Dezember erklärte der Vizepräsident der Europäischen Kommission Valdis Dom­brovskis, dass die Genehmigung des polnischen nationalen Wiederaufbauplans – und damit die Freigabe der Anzahlung in der Höhe von 4,7 Milliarden Euro – noch im Jahr 2021 „unwahrscheinlich“ seien.[34] Die Hartnäckigkeit der PiS-Regierung, die zu keinem Kompromiss mit Brüssel in der Justizfrage bereit war, ließ der Kommission keine andere Wahl, als bei der Auszahlung auf die Bremse zu treten. Damit ist die Rechnung von Kaczynski und Morawiecki nicht aufgegangen, das EU-Geld für die kommenden Monate zu sichern, ohne sich auf die EU zuzubewegen. Der wichtigste Grund dafür war die verfahrene innenpolitische Lage.

Im Herbst der Macht? Die Krise der PiS

Die Turbulenzen im Verhältnis zur EU tragen wesentlich zum Krisenmodus bei, in dem sich die Regierungspartei in ihrer zweiten Legislaturperiode an der Macht befindet. Jüngste Meinungsumfragen bestätigen sowohl den Abwärtstrend als auch den strukturellen Wandel in der Gesellschaft, der sich langfristig negativ auf die Unterstützung der Partei auswirken wird. So rutscht die PiS immer öfter unter 30 Prozent in der Wählergunst, was für eine erneute Regierungsbildung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen würde, selbst wenn die rechtsradikale Konföderation (Konfederacja Wolność i Niepodległość) als Koalitionspartner zur Verfügung stünde.[35] Die nächste Parlaments­wahl ist zwar erst für Herbst 2023 terminiert. Doch die PiS spielt schon lange mit der Idee einer vorgezogenen Wahl, um ihre Macht zu konsolidieren, bevor Abnutzungserscheinungen das Image der Regierung beschädigen und eine Wiederwahl verhindern könnten. Nun scheint es, als ob dieser Moment gekommen sei, ehe sich die PiS versah und gegensteuern konnte.

Die Probleme, welche die bisher erfolgreiche Bilanz der PiS zu trüben und ihre politische Zukunft zu gefährden drohen, sind vielschichtig. Kurzfristig wiegt die schwindende Parlamentsmehrheit am schwersten und damit die Instabilität des Regierungslagers. Im August 2021 trennte sich Kaczyński von seinem langjährigen Weggefährten und stellvertretenden Ministerpräsidenten Jarosław Gowin, dem Vorsitzenden der kleinen konservativen Partei Porozumienie, die zusammen mit der PiS und der Partei Solidarna Polska unter Justizminister Ziobro seit 2015 das Wahlbündnis Zjednoczona Prawica (Vereinigte Rechte) bildete.[36] Gowin, der seit langem auf relative Unabhängigkeit gesetzt und sich von Kaczyński in einigen wichtigen Fragen distanziert hatte – er erzwang die Verschiebung der Präsidentschaftswahl 2020, die Kaczyński trotz der Corona-Pandemie im Mai um jeden Preis durchführen wollte –, wurde Opfer eines innerparteilichen Coups, hinter dem Kaczyński stand. Seine Partei spaltete sich, so dass die PiS mithilfe der Abtrünnigen von Porozumienie, die sich nun der PiS anschlossen, sowie einzelner bisher unabhängiger Abgeordneter ihre seither äußerst dünne Mehrheit von zwei bis drei Mandaten trotz des Rauswurfs von Gowin verteidigen konnte.

Kaczyński wurde mit Gowin einen unsicheren Verbündeten los. Seine Entscheidung hatte gravierende politische Folgen. Sie bedeutete eine weitere Radikalisierung der PiS, da der moderatere Flügel, dem Gowin vorgestanden hatte, nun marginalisiert wurde. Die parlamentarische Mehrheit ist auf die Unterstützung von einzelnen Abgeordneten angewiesen, deren Loyalität nur mit Regierungsposten oder Privilegien erkauft werden kann. Der Preis dafür ist hoch. Kürzlich wurde bekannt, dass ein Parlamentsmitglied, das für seinen Transfer ins Regierungslager mit einem Staatssekretärsposten belohnt wurde, vor wenigen Jahren in kriminelle Tätigkeit verwickelt war.[37] Ob diese und ähn­liche Skandale dem Image der Partei langfristig schaden werden, sei dahingestellt. Sie sind aber symptomatisch für die Erosion des Regierungslagers. Umso wichtiger er­scheint die Zusammenarbeit der PiS mit Ziobros Solidarna Polska, ohne deren 19 Stimmen die PiS-Regierung keine Mehrheit im Sejm mehr hätte und kaum mehr funktionieren dürfte. Ziobro steht für einen dezidiert stramm rechten und antieuropäischen Kurs. Daher ist für die PiS diese selbst gewählte Abhängigkeit von Solidarna Polska, die je nach Perspektive ein Zeichen der Radikalisierung der PiS ist oder dieser einen neuen Schub verleiht, besonders folgenschwer – nicht zuletzt im Streit mit der EU.

Kaczyński und Ziobro verbindet eine Art politischer Hassliebe. Beide sind durch und durch antiliberal und autoritär und haben es auf die unabhängigen Institutionen, vor allem die Justiz, abgesehen, die ihnen den Weg zu uneingeschränkter Macht versperren. Aus den gleichen Gründen verbindet sie eine grundskeptische bis offen feindliche Haltung zur EU, die sie als eine Gefahr für ihre autokratischen Ambitionen sehen, die sie unter dem Deckmantel der vermeintlichen „Verteidigung der polnischen Souveränität“ verfolgen. Sie misstrauen sich aber auch gegenseitig. Ziobro war vor Jahren Mitglied der Kaczyński-Partei und Justizminister in seiner Regierung 2006, zerstritt sich aber mit dem Parteivorsitzenden, spaltete sich mit Getreuen ab und gründet seine eigene Partei und ging ein paar Jahre seinen eigenen Weg. Er kehrte dann zwar in die PiS-Familie zurück, bildete 2015 das erfolgreiche Wahlbündnis mit seinem früheren Mentor, bewahrte aber seine Selbstständigkeit und konnte Kaczyńskis Vertrauen nie wieder gewinnen. Als im Sommer 2020 die parteiinterne Diskussion über eine mögliche Nachfolge von Kaczyński ausbrach, witterte Ziobro seine Chance. Er bot eine Fusion seiner kleinen Partei mit PiS an, wurde aber von Kaczyński zurückgewiesen. Seitdem gilt ihr Verhältnis als zerrüttet. Im Herbst 2020 führte der Konflikt zwischen ihnen fast zum Ende der Regierung Morawiecki.[38]

Ziobro ist sich seiner Macht bewusst. Ohne Solidarna Polska kann Kaczyński heute nicht regieren, während Neuwahlen für ihn und die PiS ein großes Risiko darstellen. Aber eine Radikalisierung der PiS, zu der es notwendigerweise kommen würde, wenn die PiS auf Ziobro setzen würde und eine Vertiefung des Konflikts mit der Europäischen Union in Kauf nehmen würde, ist ebenfalls mit hohen Risiken behaftet. Der Erfolg der PiS unter Kaczyński seit 2015 beruhte auf der Fähigkeit der Partei, breite Gesell­schaftsschichten anzusprechen und in die Mitte der Gesellschaft einzudringen. Die Positionen, die Ziobro und Solidarna Polska vertreten und die sich aktuell auch die PiS zu eigen macht, haben dagegen keine Mehrheit in der polnischen Gesellschaft und würden die PiS nur zur Vertreterin einer starken Minderheit werden lassen. Das gilt für den offen antieuropäischen Kurs, die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, die Absage an schär­fere Anti-Covid-19-Maßnahmen oder den Widerstand gegen den Umbau der Volks­wirtschaft und der Energieversorgung unter klimapolitischen Prämissen.[39]

Aktuelle Studien zeigen, dass sich die polnische Gesellschaft in den letzten Jahren stark verändert hat, Säkularisierung und Liberalisierung schreiten voran, vor allem in der jungen Generation. Nur zwölf Prozent der Erst- und Jungwähler würden heute PiS wählen. In dieser Alterskohorte verliert die PiS gegen alle Oppositionsparteien.[40] Der demo­graphische Wandel und der gesellschaftliche Wertewandel könnten die PiS bereits bei den nächsten Wahlen 2023 stark treffen. Zudem wird ein Teil der bisherigen Stamm­wählerschaft unter den Ältesten verstorben sein.

Die PiS sitzt damit in der Klemme zwischen dem langfristigen Ziel, die Mehrheit der Polen zu repräsentieren und sich die Regierungsoption auf Dauer offen zu halten, und dem kurzfristigen Interesse, an der Macht zu bleiben, auch wenn ihr Fundament bröckelt. Kaczyński scheint sich für das Letztere entschieden zu haben. Er fürchtet, dass ihn ein Schwenk zur Mitte, der eine Trennung von Ziobro zur Folge haben müsste, die Unterstützung des bisher treuen rechten Randes kosten und das Entstehen einer rechten Konkurrenz bedeuten könnte. Es ist anzunehmen, dass es gerade dieses Szenario ist, auf das Ziobro als Alternative zum Festhalten an dem Bündnis mit der PiS setzt. Eine stramm antieuropäische Partei, die sich auf den Trümmern der PiS sowie nach einem wahrscheinlichen Zusammenschluss mit der Konfederacja unter Ziobros Führung etablieren könnte, ist kein realitätsferner Gedanke. Der Streit um das EU-Geld, die Rechtsstaatlichkeit und die EU-Klimapolitik wird europakritische Stimmen in Polen stärken. Die große Mehrheit wird sich weiterhin für die EU-Mitgliedschaft aussprechen, die Zahl der EU-Enthusiasten wird aber unvermeidlich schrumpfen. Ziobro weiß, dass er entgegen seinen Ambitionen keine Zukunft als PiS-Vorsitzender hat. Als Anführer einer im Parlament vertretenen oppositionellen Polexit-Partei könnte er aber sehr wohl reüssieren. Am 22. September stellte der Europaabgeordnete Patryk Jaki, seines Zeichens Mitglied von Solidarna Polska, medienwirksam einen in seinem Auftrag verfassten Bericht vor, nach dem die wirtschaftliche Bilanz der Mitgliedschaft Polens in der EU negativ sei.[41] Der Bericht wurde von unabhängigen Experten aufgrund offenkundiger methodischer und grundlegender interpretativer Fehler zerrissen.[42] Er mag aber als ein Indiz dafür gelten, dass relevante politische Kreise weitere Aktivitäten planen, die den Sinn der polnischen EU-Mitgliedschaft in Frage stellen.

Bei einem Fünftel der Wähler dürfte eine scharfe Kritik der EU gut ankommen. So sind 22 Prozent der Polen der Meinung, dass die EU-Mitgliedschaft mehr Nachteile als Vor­teile mit sich bringe. Ein Drittel der Polen stimmt der These zu, die EU dränge Polen Werte auf, die der polnischen Kultur und Tradition widersprechen, und glaubt, dass der Respekt für das EU-Recht eine „übermäßige Einschränkung der polnischen Souveränität“ nach sich zieht.[43]

Damit ist die Liste der Herausforderungen, vor denen die PiS steht, noch nicht komplett. Mehr als der Konflikt mit der EU, der für viele Bürger zu komplex und abstrakt ist, sorgen Inflation und die steigenden Corona-Infektionszahlen für Unmut und Verun­sicherung. Die Inflation in Polen ist die höchste europaweit und lässt sich nicht nur durch steigende Energiepreise erklären. Eine laxe Zinspolitik der Nationalbank sowie die Schwäche des Złoty trugen zum enormen Preisanstieg bei. Die Inflationsrate beträgt sieben Prozent und steigt, was sich auf die Kaufkraft der Polen negativ auswirkt. Zwischen Oktober und November ist die Unterstützung für die PiS unter den Rentnern als der Stammklientel der Partei um 14 Prozentpunkte gefallen – von 58 auf 44 Prozent. Der wichtigste Grund dafür soll die Inflation sein.[44] Die Inflation ist für die Regierung eine Gefahr, weil sie auch die positiven Effekte des gerade angekündigten neuen Wirtschaftsprogramms „Polnischer Deal“ so gut wie zunichtemacht. Dieses Programm sieht zwar eine Steuersenkung für ärmere Bevölkerungsgruppen vor. Beim aktuellen Preisanstieg wird aber dieser Effekt nicht mehr spürbar sein oder sehr schnell verpuffen.[45] Damit wird der PiS ein Strich durch die Rechnung gemacht, da die Partei mit dem „Polnischen Deal“ eine großangelegte Offensive lancieren wollte, um aus dem Umfragetief heraus zu kommen.

Auch die steigenden Covid-19-Infektionzahlen stellen die Regierung vor Probleme. Ende November lag die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen bei 22 000 Men­schen und die Zahl der Toten bei 333 Personen täglich.[46] Einerseits gehört Polen zu den Ländern in der EU, wo es am wenigsten pandemiebedingte Einschränkungen des öffentlichen Lebens gibt. Zwar gilt die Maskenpflicht, von 2G-Regeln, geschweige denn einem Lockdown ist aber keine Rede. Auch hier muss die Regierung einen Spagat machen. Einerseits wächst die Verunsicherung in der Gesellschaft angesichts der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems. Auch der mediale Druck steigt, die vierte Coronawelle entschieden einzudämmen. Andererseits ist die PiS-Wählerschaft gespalten. Die Furcht vor Unmut der Minderheit, die einen radikaleren Kurs in der Pandemiebekämpfung ablehnt, scheint zur Zeit größer zu sein als die Angst vor den Folgen einer nichtrestriktiven Politik. Mittelfristig kann sich die Spannung zwischen beiden Positionen zu einer großen politischen Belastung für die PiS entwickeln und ihre Popularität weiter beeinträchtigen.

Ausblick

Polens Konflikt mit der EU über die Rechtsstaatlichkeit ist eine Etappe der seit langem schwelenden Krise zwischen Warschau und Brüssel. Er ist auch der innenpolitischen Entwicklung in Polen geschuldet. Die Vertragsverletzungsverfahren, welche die Kommission in den vergangenen Jahren gegen Polen eher träge behandelt hatte, kommen in die entscheidende Phase. Dem bisher bedeutendsten Urteil vom 15. Juli 2021 des Europäischen Gerichtshofs über die Rechtswidrigkeit der Disziplinarkammer wird 2022 eine Entscheidung über das sogenannte „Maulkorbgesetz“ folgen. Das Gesetz sieht u.a. Strafen für Richter vor, die sich direkt auf die EuGH-Rechtsprechung be­ziehen. Dazu sind sie nach EU-Recht verpflichtet. Es ist zu erwarten, dass auch dieses Urteil für die polnische Regierung negativ ausfällt. Im Rahmen des Rechtsstaatlichkeits­mechanismus wird nicht nur die Unabhängigkeit der Gerichte, sondern auch die Funktions­weise der Staatsanwaltschaft, deren Politisierung ein Risiko für die Ver­wen­dung und das Controlling der EU-Mittel in Polen darstellt,[47] unter die Lupe genommen. Wenn ein derartiges Risiko festgestellt wird, kann die Auszahlung der EU-Haushalts­mittel suspendiert werden. So wird der Spielraum immer enger für die PiS, aber auch für die EU-Institutionen. Die Rechtsprechung des EuGH lässt sich nicht mit einem politischen Kompromiss umgehen. Wenn die Urteile des EuGH nicht umgesetzt werden, drohen weitere Strafen, die auch von Zahlungen aus dem EU-Haushalt abgezogen werden können.

Der innenpolitische Korridor, in dem sich die PiS bewegt, wird schmäler. Die Unnachgiebigkeit der Partei in der Konfrontation mit Brüssel ist eine Reaktion auf diese unkomfortable Lage. Die Anhäufung von Herausforderungen und Problemen, mit denen die PiS fertig werden muss, drängt die Partei nahezu auf den Weg der politischen Radikalisierung, die aber langfristig in eine Sackgasse führt.

Die für die PiS gesichtswahrende Lösung, die Politik des Sowohl-als-auch fortzusetzen, also die Koalition mit Ziobro fortzuführen und den Streit mit der EU beizulegen,[48] ist mit der jüngsten Ankündigung der Kommission, die Genehmigung des polnischen Wiederaufbauplans mit Verweis auf die Probleme der Justiz auszusetzen, unmöglich geworden. Kaczyński hat sich für einen konfrontativen Kurs entschieden, da ihm der kurzfristige Machterhalt, der nur mit Unterstützung des EU-Feinds Ziobro möglich ist, wichtiger erscheint als Mittel der EU und die Interessen Polens in der EU. Ob sich diese Strategie langfristig auszahlt, ist fraglich. Die politische Zukunft des Landes wird sowohl von der Fähigkeit der Opposition abhängen, die aktuelle Lage zu ihren Gunsten zu nutzen, als auch von der Entschlossenheit der EU, sich nicht erpressen zu lassen.

 

 


[1]   Sondaż: Spada poparcie dla PiS. „Tracą wyborców od roku“. polsatnews.pl, 22.11.2021.

[2]   Laurent Pech, Patryk Wachowiec, Patryk Mazur: 1825 Days Later: The End of the Rule of Law in Poland (Part I). Verfassungsblog.de, 13.1.2021.

[3]   Die Demontage des Rechtstaats in Polen nach 2015 analysieren: Wojciech Sadurski: How Democracy Dies (in Poland): A Case Study of Anti-Constitutional Populist Backsliding, 17.1.2018, <https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3103491>, sowie Marta Bucholc, Maciej Komornik: Finaler Akt. Die Unterwerfung der polnischen Justiz, in: Osteuropa, 12/2019, S. 23–37. – Dies.: Gewaltenteilung ausgehebelt. Der Umbau der polnischen Justiz 2017, in: Osteuropa, 3–5/2018, S. 7–18. – Dies.: Die PiS und das Recht. Verfassungskrise und polnische Rechtskultur, in: Osteuropa, 1–2/2016, S. 79–93.

[4]   Eine kritische Auseinandersetzung: Gazing into the Abyss. The K 3/21 decision of the Polish Constitutional Tribunal. Verfassungsblog.de, 12.10.2021.

[5]   Polnisches Verfassungsgericht. EU-Recht teils unvereinbar mit Verfassung. Tagesschau.de, 7.10.2021.

[6]   Einschlägige Beispiele hat die Initiative Wolne sądy (Freie Gerichte) zusammengestellt: Jak Trybunał Konstytucyjny Julii Przyłębskiej jest wykorzystywany do rozwiązywania problemów rządu PiS. Facebook, 17.11.2021.

[7]   Inside the system Ziobro built. ESI Background Paper, 5.8.2021.

[8]   Ziobro i Morawiecki niemal jednym głosem krytykują wyrok TSUE. Podają przykład Hiszpanii. tokfm.pl, 15.7.2021.

[9]   Wyrok z Karlsruhe wytrychem dla PiS. Polska zamierza skorzystać z niemieckiego precedensu. Dzoennik.pl, 11.5.2021.

[10] Ziobro: Nie ma możliwości realizacji bezprawnych postanowień TSUE. Rmf24, 21.7.2021.

[11] Piotr Buras: Autocratic power grab is no defence of sovereignty. Ecfr.eu, 17.11.2021. 

[12] Premier Mateusz Morawiecki w Parlamencie Europejskim. Von der Leyen: Chcemy silnej Polski w zjednoczonej Europie. Wyborcza.pl, 19.10.2021.  

[13] Sondaż: Polacy zdecydowanie nie chcą polexitu. Jest tylko jedno „ale“. Wiadomosci.onet.pl, 24.11.2021.

[14] Ryszard Terlecki i Unia Europejska. W środę mówił o brexicie i potrzebie „rozwiązań drastycznych“, w czwartek o tym, że polexit to „wymyślona szopka“. Tvn24.pl, 9.9.2021.

[15] Marek Suski o Unii Europejskiej jako „brukselskim okupancie“. Waldemar Buda: może sobie na takie słowa pozwolić. Tvn24, 13.9.2021.

[16] Sondaż CBOS: 88 proc. popiera członkostwo Polski w Unii Europejskiej. Polsatnews.pl, 16.11.2021.

[17] PiS: Nie zamierzamy wyprowadzać Polski z Unii Europejskiej. Prawo.pl, 15.9.2021.

[18] Gomułkowska propaganda w TVP. Mówiąc o niedzielnych demonstracjach, tuba Kurskiego walczy o rekord kłamstwa. wyborcza.pl, 11.10.2021.

[19] Sędzia Rutkiewicz z Elbląga zawieszony za stosowanie prawa UE. Wbrew zabezpieczeniu TSUE. Oko.press, 9.11.2021.  

[20] Jarosław Kaczyński: zlikwidujemy Izbę Dyscyplinarną w postaci, w jakiej funkcjonuje ona obecnie. Tvn24.pl, 7.8.2021. – Morawiecki zapowiedział likwidację Izby Dyscyplinarnej. KE: To nie wystarczy. Rmf24.pl, 19.10.2021.

[21] TSUE: Milion euro kary dziennie dla Polski za niezawieszenie Izby Dyscyplinarnej SN. Gazetaprawna.pl, 27.10.2021.  

[22] 500 tys. euro dziennej kary dla Polski. Decyzja TSUE ws. Turowa. Rmf24.pl, 20.9.2021.

[23] Zbigniew Ziobro ogłasza rewolucyjne zmiany w sądach. Rp.pl, 15.11.2021.  

[24] Nadchodzi wielka „reforma“ sądów. Co wynika z zapowiedzi Kaczyńskiego i Ziobry. wyborcza.pl, 18.10.2021.  

[25] Art. 6 ust. 1 zd. 1 Konwencji o ochronie praw człowieka i podstawowych wolności w zakresie, w jakim pojęciem „sąd“ obejmuje Trybunał Konstytucyjny. Trybunal.gov.pl, 24.11.2021.

[26] <Morawiecki o wyroku ETPC: „Szanujemy, ale realizujemy nasze programy“. Jest też komentarz MS. wiadomosci.gazeta.pl,  29.6.2021.

[27] Poland must undo judicial overhaul to get EU COVID aid, commission chief says. Reuters.com, 28.10.2021.

[28] Ziobro strofuje unijnego komisarza i daje mu zdjęcia ruin Warszawy. Wyborcza.pl, 18.11.2021.

[29] UE: Mówmy o niezależności sądów, a nie o TK. Dw.com, 21.10.2021.  

[30] EU gets closer to unlocking Poland recovery plan. Financial Times, 1.12.2021.

[31] KE wysłała list do Polski i Węgier ws. mechanizmu warunkowości. Gazetaprawna.pl, 19.11.2021.

[32] Maria Ejchart-Dubois, Sylwia Abram Gregorczyk, Michał Wawrykiewicz; Paulina Kieszkowska-Knapik: The Jokes Have Ended. Why the European Commission Has Lost Patience with Poland’s Ruling Party. Verfassungsblog.de, 17.9.2021.

[33] Legal Polexit’: Poland court rules EU measure unconstitutional. The Guardian, 14.7.2021.

[34] Judicial spats set to delay EU recovery funds to Poland and Hungary. Financial Times, 7.12.2021.

[35] Spadają notowania PiS. Wśród wierzących, mało zarabiających i zwolenników prawicy. wyborcza.pl, 18.11.2021.

[36] Porozumienie wychodzi ze Zjednoczonej Prawicy. Formalny koniec koalicji. Wyborsza.pl 11.8.2021.

[37] Jak Łukasz Mejza postanowił zarobić na cierpieniu. Wiadomosci.wp.pl, 24.11.2021.

[38] Prawa ręka Ziobry o kryzysie w koalicji: My walczymy o polską duszę. wyborcza.pl, 18.9.2021.

[39] Wojciejch Szacki: PiS się rozjeżdża. Klimat w Polsce powoli przestaje sprzyjać Kaczyńskiemu Polityka. 23.11.2021.

[40] Najmłodsi wyborcy mają zupełnie innego lidera. PiS z zaskakująco niskim poparciem. natemat.pl, 14.10.2021.  

[41] Patryk Jaki przekonuje, że Unia nam się nie opłaca. „Nie skłamali, ale prawdy nie powiedzieli“. Money.pl, 21.9.2021.  

[42] Raport Jakiego, czyli coś tu nie pasuje. „Momentami wygląda na losowy generator liczb“. next.gazeta.pl, 21.9.2021.

[43] Jacek Kucharczyk: Widmo polexitu? Społeczne postawy wobec członkostwa Polski w Unii Europejskiej. Warszawa 2021, <www.isp.org.pl/pl/publikacje/widmo-polexitu-spoleczne-postawy-wobec-czlonkostwa-polski-w-unii-europejskiej>.

[44] Kaczyński ma się czym martwić. Skąd wziął się nagły spadek notowań? wyborcza.pl, 2.11.2021.

[45] Michał Szułdrzyński: Uciec przed sondażową spiralą. Rzeczpospolita. 25.11.2021.

[46] Koronawirus w czwartek 25 listopada oficjalnie znów ponad 28 tys. zakażeń i rekord zgonów tej fali. biqdata.wyborcza.pl, 25.11.2021.

[47] Piotr Bogdnaowicz, Piot Buras: Defending the EU against „grand corruption“. Rule of law conditionality mechanism and Poland, in: Rule of Law, 21.7.2021.

[48] Letʼs Not be Fooled by the Polish PMʼs Lip Service. Tinkering with the Disciplinary Chamber Wonʼt Fix the Rule of Law Crisis. wyborcza.pl, 20.10.2021.

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