Titelbild Osteuropa 1-3/2022

Aus Osteuropa 1-3/2022

Der Krieg ist ein gnadenlos ehrlicher Mann

Aleksandr Gol’c

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Abstract in English

Abstract

Wie kein anderes Ereignis stellt der Krieg die Fähigkeit politischer Führer auf die Probe, rational und kaltblütig zu handeln. Unerbittlich bestraft er jene, die ihre Ambitionen nicht in Einklang mit ihren Möglichkeiten bringen. Man sollte einen Krieg nur beginnen, wenn tatsächlich die vitalen Interessen des Staates bedroht und alle nichtmilitärischen Mittel zuvor ausgeschöpft sind. Vor der Entscheidung zum Krieg muss man sich der vollen innen- und außenpolitischen Unterstützung versichern. Mit seiner Entscheidung für einen militärischen Spezialeinsatz hat Vladimir Putin all diese Prinzipien missachtet.

(Osteuropa 1-3/2022, S. 169–172)

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Bismarck wird der ironische Satz zugeschrieben, dass niemals so sehr gelogen werde wie im Krieg und bei der Jagd. Meiner Ansicht nach ist das nur teilweise richtig. In Wahrheit ist der Krieg, um es in Anlehnung an einen bekannten Satz von Beaumarchais zu sagen, ein ehrlicher Mann. Allerdings ein absolut gnadenloser. Wie kein anderes Ereignis stellt der Krieg die Fähigkeit politischer Führer auf die Probe, rational und kaltblütig zu handeln. Er bestraft unerbittlich jene, die ihre Ambitionen nicht in Einklang mit ihren Möglichkeiten bringen.

Man sollte einen Krieg nur dann beginnen, wenn die tatsächlich vitalen Interessen des Staates bedroht sind, wenn alle politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Mittel ausgeschöpft sind. Außerdem muss man sich vor der Entscheidung zum Krieg der vollen Unterstützung versichern, im Innern wie im Ausland. Dies sind die Prinzipien der Weinberger-Powell-Doktrin, die zwei hochrangige Vertreter der amerikanischen Armee nach der Demütigung in Vietnam entwickelten.

Mit seiner Entscheidung für einen militärischen Spezialeinsatz, bei dem es sich faktisch um einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine handelt, hat Vladimir Putin diese Prinzipien missachtet. Wenn Russlands Staatsführer erklärt, es hätte für den Kreml keine andere Wahl als den Überfall auf das Nachbarland gegeben, so entspricht dies schlicht nicht der Realität.

Es hat in den vergangenen Monaten, ja Jahren, in der Ukraine keine grundlegenden Änderungen gegeben, weder beim politischen Kurs noch bei der Zahl der Soldaten und ihrer Bewaffnung. Nichts, was eine echte Bedrohung für Russland wäre. Auch die Militärpolitik des Westens hat sich nicht grundlegend geändert.

Nicht zufällig musste Russlands oberster Chef aus seiner Ansprache an das Volk, in der er die Gründe für den Krieg erklärte, einen langen Vortrag über die Erniedrigung machen, die unser Land seiner Meinung nach in den vergangenen Jahren habe erdulden müssen. Im Grunde verlas er eine Liste der Minderwertigkeitskomplexe des russländischen Führungszirkels, mit dem sich die westlichen Staatschefs seit 2014 nicht mehr unterhalten wollten. Mit den vitalen Sicherheitsinteressen Russlands hat das nichts zu tun.

Wenn ein Krieg auf verletztes Ehrgefühl zurückgeht, dann steckt darin unausweichlich bereits der Keim der zukünftigen Niederlage. Denn das Ziel eines solchen Kriegs ist nicht nur, den Gegner zu besiegen, sondern auch die Erreichung bestimmter politischer Ziele. Und dies ist auf militärischem Weg grundsätzlich unmöglich. So war es auch, als die USA sich das Ziel setzten, den Irak und Afghanistan zu demokratisieren. Nun ist es die von Putin angekündigte „Demilitarisierung“ der Ukraine – aus dem Neusprech des Kreml übersetzt bedeutet das wohl, dass die Ukraine jeglichen militärischen Beziehungen zu irgendeinem Land außer Russland abschwört – sowie die „Entnazifizierung“, womit wahrscheinlich gemeint ist, dass sie den Anspruch auf die Krim und den Donbass aufgibt, denen angeblich im Jahr 2014 ein von Neonazis verübtes Massaker gedroht hätte. Diese Ziele sind nur zu erreichen, indem die ukrainische Regierung gestürzt und ein dem Kreml genehmes Regime installiert wird. Folglich ist auch eine Besetzung der Ukraine unvermeidlich, so sehr der Kreml bestreitet, diese zu planen. Und dies wird eine sehr schwere Aufgabe für Russlands Armee.

Zweifellos: Russlands Armee ist der ukrainischen drückend überlegen: Bei der Anzahl der Soldaten, bei ihrer Ausrüstung, insbesondere bei den Luftstreitkräften und der Flugabwehr. Im Falle einer Besatzung ist es in dem fast unausweichlich darauf folgenden Partisanenkrieg mit der Überlegenheit jedoch vorbei. Denn in diesem wird die bessere Ausrüstung keine entscheidende Bedeutung mehr haben. Eine Besatzungsherrschaft erfordert eine riesige Anzahl von Soldaten. An jeder der Tausenden Straßen müssen Sperren errichtet werden, und in sämtlichen Städten, selbst im kleinsten Dorf noch, müssen Soldaten stationiert werden. Andernfalls werden die ukrainischen Widerstandskämpfer, die ja im eigenen Land kämpfen, genau wissen, wo sie sich auf den nächsten Angriff vorbereiten können. Für eine solche Besatzung wird ein großer Teil des Heeres benötigt, das lediglich 300 000 Soldaten umfasst. Eine Verteidigung der Grenzen im Osten und im Westen ist dann nicht mehr möglich. Von der Demoralisierung und dem Niedergang der Disziplin in den Einheiten, die bei der Okkupation und der Partisanenbekämpfung eingesetzt werden, gar nicht zu reden.

Der Preis der Siegesmeldungen

Der gnadenlos ehrliche Mann namens Krieg wird der russländischen Armee definitiv ein Zeugnis ausstellen. Noch vor kurzem schien es, dass die Führung des Verteidigungsministeriums sich in einer idealen Lage befindet. Kein Land der Welt riskiert es, mit einer Atommacht Krieg zu führen. In dieser Position konnte Russland sich von Zeit zu Zeit relativ ungefährliche Eskapaden erlauben, indem es gegen eindeutig schwächere Gegner in den Krieg zog. Zum Beispiel die Luftoperation in Syrien, wo der Feind schlicht über keine Luftabwehr verfügte. Daher konnte man sich unendlich einer nie dagewesenen Militärmacht rühmen und den Widersachern mit der atomaren Hölle drohen. Und jeden fünften Rubel eines ziemlich armen Landes dafür aufwenden. Und dabei darauf setzen, dass sich der 22. Juni 1941 nie wiederholt.

Jetzt hat sich gezeigt, dass der Staatsführer ebenfalls an die zu Fanfarenklängen vorgetragenen Berichte des Verteidigungsministeriums geglaubt und sich daher entschlossen hat, die Armee gegen einen großen europäischen Staat einzusetzen. Und da gibt es jetzt offensichtlich Probleme. Die ersten zwei Tage erinnerten keineswegs an die amerikanische Luftoperation im Irak, die innerhalb weniger Stunden die koordinierte Verteidigung zusammenbrechen ließ. Russlands Oberkommando versuchte im Krieg gegen die Ukraine exakt nach amerikanischem Vorbild vorzugehen. Mit Marschflugkörpern und taktischen Raketen wurden auf dem gesamten Territorium der Ukraine, auch in den westlichen Gebieten, Luftschläge ausgeübt. Ziel waren die Luftabwehrstellungen, die Radarstationen, die Luftwaffenstützpunkte und die Kommandozentren. Obwohl das russländische Verteidigungsministerium stolz verkündete, 200 Ziele seien vernichtet worden, hat das ukrainische Oberkommando die Kontrolle über die Streitkräfte nicht verloren und die Verteidigung organisiert. Bei den amerikanischen Operationen haben Luftschläge zudem das Ziel, den Gegner zu demoralisieren. Wie es scheint, ist auch dies in der Ukraine nicht eingetreten. Keine Kapitulation in größerem Stil.

Besonders bezeichnend sind die gelinde gesagt bescheidenen Erfolge an der angeblich wichtigsten Front, im Donbass. Falls Sie es vergessen haben: Offizielles Ziel des Krieges soll der Schutz der leidenden Menschen in den Volksrepubliken von Donezk und Lugansk sein. Medienberichten zufolge verfügt Russland dort über drei Mal so viele Soldaten, fünf Mal so viele Panzer, doppelt so viele gepanzerte Fahrzeuge und über das 2,3fache an Artilleriegeschützen. Trotz einer solchen Übermacht ist es nach offiziellen Angaben lediglich gelungen, die erste Verteidigungslinie zu durchbrechen und in zwei Tagen lediglich um 20 Kilometer vorzurücken.

In den Siegesmeldungen aus der Ukraine heißt es, Luftlandetruppen, die von 200 Hubschraubern abgesetzt worden seien, hätten den Flugplatz in Hostomelʼ eingenommen und Kiew von Westen her abgesperrt. Verschwiegen wurde, dass die Luftlandetruppen bereits einen Tag zuvor abgesetzt worden waren und offensichtlich auf erbitterten Widerstand gestoßen waren. Davon, dass die Dinge nicht zum besten stehen, zeugt auch, dass Vladimir Putin als Chefpropagandist auftreten muss und in dieser Rolle behauptet, die Armee des Gegners stehe vor dem Zusammenbruch. Auf einer Sitzung des Sicherheitsrats wendete er sich plötzlich an die ukrainischen Soldaten und rief sie zu einem Staatsstreich auf. „Erlaubt den Nazisten und Bandera-Leuten nicht, Eure Kinder, Eure Frauen und Alten, als lebende Schutzschilder zu missbrauchen. Ergreift die Macht. Mit Euch werden wir gewiss leichter zu einer Einigung kommen als mit dieser Bande von Drogensüchtigen und Neonazis, die sich in Kiew festgesetzt hat und das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen hat.“ Würden die Dinge nach Plan verlaufen, wäre so etwas ganz gewiss nicht notwendig gewesen.

Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass die Mitteilung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace, dass die russländische Armee 450 Mann verloren habe (während das Verteidigungsministerium behauptet, es gäbe überhaupt keinerlei Verluste), der Realität entspricht und dass dies der Grund für Putins Worte war.

Bei einer solchen Operation ist das Tempo extrem wichtig. Wenn der Sieg nicht in den ersten Stunden errungen wird, droht sich der Krieg in die Länge zu ziehen, was katastrophale Folgen haben kann.

Schließlich müssen die Truppen auf fremdem Territorium versorgt werden und dies über ausgedehnte Nachschubwege, die äußerst anfällig für feindliche Angriffe sind. Und hier taucht die Frage nach den Ressourcen für die Kriegsführung auf.

Wenn es nicht gelingt, den Widerstand der Ukraine rasch zu brechen, werden wir leider bei einem Praxistest feststellen müssen, in welchem Maß die triumphalen Berichte der Verantwortlichen des Verteidigungsministeriums zutreffen, in denen von überreichlicher Ausstattung mit modernen und hochpräzisen Waffen die Rede war. Bis vor kurzem hat die militärische Führung sehr detaillierte Angaben gemacht. So wurde etwa erklärt, dass sich die Zahl der Marschflugkörper in der Zeit, in der Šojgu das Ministerium leite, um das Siebenunddreißigfache erhöht habe. Was fehlte, war eine Angabe, von welcher absoluten Zahl dabei ausgegangen wurde. Schon jetzt gibt es Berichte über den Einsatz von Mehrfachraketen-Systemen. Wenn dies zutrifft, dann gibt es keine gezielten Schläge, die, wie das Verteidigungsministerium behauptet, ausschließlich gegen militärische Ziele durchgeführt werden. Das wiederum könnte auf einen Mangel an Hochpräzisionswaffen hindeuten. Je länger der Krieg dauert, desto deutlicher wird die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) der militärischen Führung, die kriegführenden Truppen zu versorgen.

Jeder Krieg, selbst einer, der ursprünglich als kleine, siegreiche Spezialoperation geführt werden sollte, wird unweigerlich zur Zerreißprobe für den gesamten Staatsapparat. Ich bin nicht sicher, ob das heutige Russland diese Probe besteht.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Der Text erschien auf Russisch auf der Seite republic.ru am 26.2.2022.

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