Titelbild Osteuropa 1-3/2022

Aus Osteuropa 1-3/2022

Editorial
Krieg als Zäsur

(Osteuropa 1-3/2022, S. 5–6)

Volltext

Ein Blitzkrieg sollte es werden. Russlands Präsident Putin und seine Militärberater wollten eine kurze „militärische Spezialoperation“. Dieser Begriff aus dem Orwell-Wörterbuch für Verschleierung bedeutet Krieg. Zugleich steht er auch für die Lügen in Russlands Staatsapparat, wo seit Jahren die Geheimdienste und die Armee das Sagen haben. Die Vorstellung, die Ukraine könne in wenigen Tagen militärisch eingenommen werden, ist ein Spiegel des immer grotesker verzerrten Geschichtsbilds, das Putin in seinen Texten und Reden zeichnet.

„Denazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine seien das Ziel der „Spezialoperation“. Im Klartext bedeutet das, dass Russland den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelens’kyj stürzen, die Ukraine als souveränen Staat zerstören sowie die Identität des ukrainischen Volkes vernichten will. Ob die gesamte Ukraine oder nur Teile unterworfen werden sollen, halten die Strategen und Ideologen im Vagen.

Aus dem geplanten Blitzkrieg ist ein Debakel geworden. Das Putin-Regime hatte die Rechnung ohne die Ukrainer gemacht. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 verteidigen diese ihre Freiheit und die Selbstbestimmung ihrer Nation. Sie kämpfen zugleich für die Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität ihrer Nachbarstaaten in Europa. Die ukrainischen Verbände haben im März den Vormarsch der Invasoren auf Kiew gestoppt und sie zurückgeschlagen. Russlands Truppen haben empfindliche Verluste an Personal und Material erlitten. In den ersten zehn Wochen der Kämpfe hat Russland mehr tote Soldaten zu beklagen als die Sowjetunion in zehn Jahren des Afghanistankrieges. Vor den Toren Charkivs, der zweitgrößten ukrainischen Stadt im Osten, wiederholt sich das Kiewer Szenario. Wieder muss sich Russlands Armee zurückziehen. Selbst im Donbass, wo Russland seit 2014 Kriegspartei ist und nun massive Angriffe durchführt, leisten die ukrainische Armee und Territorialverteidigung erbitterten Widerstand, im Nordosten des Gebiets Luhans’k haben die russländischen Truppen Mitte Mai ähnlich schwere Verluste erlitten wie vor Kiew.

Einzig im Süden kontrolliert Russland nach einem schnellen Vormarsch zu Beginn des Krieges und erbitterten Kämpfen um Mariupol’ den gesamten Küstenstreifen des Asowschen Meeres bis zur Großstadt Cherson und hat damit vorübergehend eine Landbrücke zur Krim geschaffen. Um den Knotenpunkt Mariupol’ zu erobern, haben die russländischen Truppen die einst blühende Hafenstadt Mariupol’ nach dem Muster von Groznyj und Aleppo in Schutt und Asche gelegt.

Im Kern ist die militärische Lage klar: Aus dem Blitzkrieg ist ein Abnutzungskrieg geworden. Dieser kann Monate, vielleicht Jahre dauern. Nachschub und Logistik gewinnen kriegsentscheidende Bedeutung. Ein Waffenstillstand, gar ein diplomatischer Ausweg aus dem Krieg ist nicht in Sicht, solange Russland seine Eroberungspläne nicht aufgibt und weiter darauf setzt, durch Zermürbung und Eskalationsdrohung die Moral und den Widerstandswillen der Ukraine und ihrer westlichen Partner zu untergraben. In der Ukraine hat Moskau damit keinerlei Erfolg, aber auch in Europa hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Russland die Grundlagen der europäischen Friedensordnung angreift und es daher im eigenen Interesse der europäischen Staaten ist, die Selbstverteidigung der Ukraine politisch, wirtschaftlich und militärisch durch Waffenlieferungen zu unterstützen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist eine historische Zäsur. Offen ist, wie tief der Einschnitt ist. Auch dies hängt vom weiteren Kriegsverlauf und der Entwicklung in Russland ab. Mit jedem weiteren Tag der Kämpfe, jeder Bombe, jedem Opfer – von Massakern wie in Buča und Irpin’ oder dem Urbizid in Mariupol’ zu schweigen, der den Tatbestand des Völkermords erfüllt –, vertieft sich der Graben zwischen Russland und der Ukraine. Putins Krieg hat eine nie gekannte Verfeindung zwischen den beiden Völkern bewirkt. Selbst unter günstigen Umständen wird es Generationen dauern, bis sie überwunden ist.

Russland wurde wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Mitte März 2022 aus dem Europarat und Anfang April aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ausgeschlossen. Finnland und Schweden, zwei traditionell neutrale Staaten, werden der NATO beitreten. Dies markiert den Graben, der Russland von Europa scheidet. International ist Russland nicht komplett isoliert, aber die Staaten, die sich nicht abgewendet haben, sind entweder wie Belarus und Syrien vollständig von dem Regime in Moskau abhängig oder warten opportunistisch den Kriegsverlauf ab.

Der Krieg wirkt als Katalysator für die Neuausrichtung der Energiepolitik Deutschlands und der EU. Die Energiepartnerschaft mit Russland wird beendet; der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen wird beschleunigt. Das sind irreversible Entscheidungen. Sie stellen das Geschäftsmodell des Rohstoffstaats Russland ebenso infrage wie dessen Einbindung in die ökonomische und politische Arbeitsteilung Europas. Die westlichen Sanktionen und der Rückzug Hunderter internationaler Unternehmen schwächen Russlands Volkswirtschaft. Auf welche Weise Russland zukünftig in den Weltmarkt eingebunden sein wird, hängt wie vieles vom weiteren Verlauf und vom Ausgang des Krieges ab.

Im Schatten des Krieges gegen die Ukraine ist Russland zu einer Diktatur geworden. Das Putin-Regime hat einen massiven Angriff auf die eigene Zivilgesellschaft gestartet: Der Polizeistaat hat die Reste bürgerlicher Freiheiten zerstört. Inseln der Pressefreiheit wie Echo Moskvy oder die Novaja gazeta sind beseitigt worden. Es bleibt ein Meer von Zensur, Gleichschaltung und Propaganda. Wer den Krieg Krieg nennt, dem drohen bis zu 15 Jahre Lagerhaft. Kein Wunder, dass Journalisten und Publizisten, Wissenschaftler und Historiker zu den Hunderttausenden gut ausgebildeter Bürgerinnen und Bürger gehören, die bereits in die Emigration getrieben worden sind. Wer bleibt, kann sich der Mobilisierung unter dem Zeichen des Putinschen „Z“ kaum entziehen.

All das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Arbeit von Osteuropa. Einige unserer Autorinnen aus der Ukraine sind geflüchtet, ukrainische Autoren haben andere Prioritäten, als Analysen zu verfassen; in Russland sind etliche Autoren unter Druck, viele haben das Land verlassen und versuchen unter prekären Bedingungen in der Emigration Fuß zu fassen. Eine wichtige Aufgabe ist in Zeiten des Kriegs die Dokumentation. Vladimir Putins Ansprache am frühen Morgen des 24. Februar 2022 zur Begründung des Überfalls auf die Ukraine ist eine zeithistorische Quelle. Diese und andere seiner Reden sind von solch demagogischem Charakter, dass jedes Wort einer wissenschaftlichen Einordnung bedarf. Einen Großteil der erforderlichen Einordnung haben Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler aus Deutschland, der Ukraine und Russland in den vergangenen Jahren auf den Seiten von Osteuropa geleistet. Wir setzen diese Arbeit fort: online unter <zeitschrift-osteuropa.de>. Und natürlich in den kommenden Heften.

Berlin, im Mai 2022                                                        

Manfred Sapper, Volker Weichsel