Titelbild Osteuropa 11/2022

Aus Osteuropa 11/2022

Mit Mord und Tat

Editorial

(Osteuropa 11/2022, S. 3–4)

Volltext

Russlands Geheimdienste sind mehr als Nachrichtendienste, die Informationen  für politische Entscheidungsträger sammeln. Sie sind Instrumente der politischen Führung, Exekutivorgane im Kampf gegen vermeintliche Feinde im Inneren und Feinde im Ausland. Subversion, Desorientierung, Demoralisierung lautet ihr Auftrag. Zugleich sind diese Repressionsapparate eigenständige Machtfaktoren und kämpfen untereinander um Einfluss. Der wichtigste dieser Gewaltapparate ist der Föderale Sicherheitsdienst (FSB). An ihm zeigt sich diese Doppelrolle besonders deutlich. Der FSB dient dem Präsidenten zur Durchsetzung seiner uneingeschränkten Macht. Und während er es Vladimir Putin ermöglicht hat, immer mehr Kontrollinstanzen auszuschalten, ist er selbst immer mächtiger geworden.  

Putin stammt selbst aus dem Geheimdienst. Er wurde auf dem Höhepunkt der sowjetischen Machtentfaltung in den 1970er Jahren im KGB politisch sozialisiert und hat dort das Weltbild vom ewigen Kampf gegen Feinde, Verschwörungen, den Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen verinnerlicht. Heute beginnt dieser Präsident jeden Arbeitstag mit der Lektüre der Dossiers von drei Geheimdiensten: des FSB über die Lage in Russland, der Auslandsaufklärung SVR über internationale Entwicklungen sowie des Föderalen Schutzdienstes über die Vorgänge in Russlands Elite. Die Dienste werden von Vertrauten geleitet, Männern seiner Alterskohorte, die wie er aus dem KGB stammen.

Diese Repressionsapparate sind Nachfolgeorganisationen der von den Bolschewiki 1917 gegründeten Tscheka (VČK), aus der über mehrere Stationen – OGPU, NKVD, NKGB, MGB und MVD – der sowjetische KGB hervorging. Deren Aufgabe war es, reale oder vermeintliche Gegner des sowjetischen Staats und Kritiker der kommunistischen Ordnung mit allen Methoden zu schwächen und auszuschalten. Unter Stalin ermordeten die Männer der Dienste Hunderttausende Menschen und deportierten Millionen in Lager, aus denen sehr viele nie zurückkehrten. Jede Regung abweichenden Denkens und gesellschaftlicher Autonomie galt ihnen als gefährlicher Verrat. Nach Stalins Tod wurden die Methoden weniger grausam, das Denken änderte sich nicht. Und genau diesem Denken sind auch die heutigen Geheimdienstler in Russland verpflichtet. Sie verteidigen den „starken Staat“ und erweitern ihre eigene politische und wirtschaftliche Macht. Sie begreifen Russland als Nachfolger des zarischen und sowjetischen Imperiums und leiten daraus imperiale Herrschaftsansprüche in Russlands Nachbarschaft ab. Sie sehen ihr eigenes Land als belagerte Festung, welche die USA und die NATO angeblich zerstören wollen. Der Krieg gegen die Ukraine ist der aggressivste Ausdruck dieses Denkens.

Wie konnte es geschehen, dass die Repressions- und Gewaltapparate in Russland wieder solchen Einfluss haben? Die Antwort lautet: Die Pfeiler des autoritären, militarisierten Staates – neben den Diensten auch die Armee, die Polizei, die Justiz, die Staatsanwaltschaft – wurden nach dem Ende der Sowjetunion nie abgetragen. Der mächtige Geheimdienst KGB war geschwächt, er wurde umbenannt, umstrukturiert, entflochten, aber die Handlungslogik sowie die formalen und informellen Praktiken blieben dieselben. Bereits der politische Konflikt zwischen Präsident El’cin und dem Obersten Sowjet im Jahr 1993 ließ ihre Bedeutung wieder wachsen, ebenso der erste Tschetschenienkrieg 1994–1996. Die entscheidende Wende kam 1999. Im August wurde FSB-Chef Vladimir Putin zum Ministerpräsidenten ernannt, im September starben über 200 Menschen bei zwei Anschlägen auf Wohnhäuser in Moskau, am 1. Oktober marschierte Russlands Armee erneut in Tschetschenien ein, und am 31. Dezember hält Putin bereits als eingesetzter Interimsnachfolger El’cins die Neujahrsansprache.

Der Fortbestand informeller Netzwerke sowie die Bedeutung der Geheimdienste im politischen Kampf der Eliten hatten die Voraussetzung dafür geschaffen, dass ein „Mann ohne Eigenschaften“ wie Vladimir Putin zum Präsidenten Russlands werden konnte. Dort angelangt, ließ er den FSB systematisch unabhängige Unternehmer und Medienbesitzer sowie regionale Eliten ausschalten. Mit all den neuen Aufgaben wurde der Dienst immer mächtiger.

Doch die Machtkonzentration führte nicht zum Ende des Kampfs gegen die eigene Gesellschaft. Im Gegenteil. Seit mehr als einem Jahrzehnt wähnen sich Russlands Dienste im Krieg. Im Winter 2011 protestierten Hunderttausende Menschen gegen die Fälschung der Dumawahlen, im Frühjahr 2012 gegen Vladimir Putins Rückkehr in das Präsidentenamt. Durch diesen gesellschaftlichen Aufbruch und die Forderung nach Demokratie und Recht sah sich das Regime in seiner Existenz bedroht. Seitdem haben die Repressionsorgane Russland nach autoritärer Manier und mit tschekistischen Methoden „gesäubert“: NGOs und Individuen wurden als „ausländische Agenten“ diffamiert, unabhängige Medien schikaniert, geschlossen, ins Exil getrieben, herausragende Oppositionelle erschossen oder vergiftet, Menschenrechtsorganisationen wie Memorial, die Soldatenmütter oder das Sacharov-Zentrum kujoniert, kriminalisiert, verboten und enteignet.

Damit wurden Menschen und Organisationen ausgeschaltet, die organisierten Widerstand gegen den massiven Krieg hätten leisten können, den Russland am 24. Februar 2022 begann. Das Putin-Regime hat in Russland eine Kriegsdiktatur errichtet. Der FSB und der SVR haben mit ihren Vorlagen und Empfehlungen mutmaßlich erheblich zu Putins Entscheidung beigetragen, den Krieg gegen die Ukraine zu beginnen.

Frappierend sind die Fehlleistungen der russländischen Geheimdienste. Sie haben die politische Stimmung in der Ukraine verkannt, den Widerstandswillen der ukrainischen Gesellschaft unterschätzt, die Kampffähigkeit der Verteidiger falsch eingeschätzt  und die Bereitschaft des Westens zu Solidarität mit den Angegriffenen, zu finanzieller und militärischer Unterstützung nicht erwartet.

Die eigene Gesellschaft zu atomisieren ist das Eine. Das haben Russlands Dienste geschafft. Das war auch dem sowjetischen KGB gelungen. Aber den Zusammenbruch der Sowjetunion konnte er nicht verhindern, weil die strukturellen sozioökonomischen Modernisierungsdefizite und die nationale Frage ungelöst blieben.

Die Freiheit und Selbstbestimmung eines Nachbarlands zu brechen, ist das Andere. Das war der Sowjetunion nicht einmal in Afghanistan gelungen. Das Scheitern am Hindukusch hatte erhebliche Rückwirkungen auf die Heimat. Das von den Geheimdiensten mit zu verantwortende militärische Debakel in der Ukraine hat erhebliche Rückwirkungen auf Russlands Machtgefüge und die Gesellschaft – ungeachtet der Unterdrückung abweichender Meinungen und Propaganda in der Kriegsdiktatur. Der Krieg ist ein Katalysator. Hunderttausende Soldaten sind tot oder verletzt nach Russland zurückgekehrt. Hunderttausende Menschen haben das Land verlassen. Und zwischen der Armee, den Geheimdiensten und Pseudo-Privatarmeen wie der Wagner-Truppe sind offene Konflikte zutage getreten. Gut möglich, dass der Krieg die Pfeiler der Macht in Russland unterspült und die Legitimität des Führers erodiert.

 

Berlin, im Februar 2023                               Manfred Sapper, Volker Weichsel