Titelbild Osteuropa 9-10/2022

Aus Osteuropa 9-10/2022

Der Krieg in der Ukraine und die deutsch-polnische Krise

Editorial


Abstract in English

(Osteuropa 9-10/2022, S. 3–4)

Volltext

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat in zehn Monaten Zehntausenden Ukrainerinnen und Ukrainer das Leben gekostet. Sie starben als Soldaten und Freiwillige bei der Verteidigung ihrer Freiheit. Sie starben in ihren Wohnungen und Häusern durch Artillerie- und Raketenbeschuss. Sie starben durch die Gewalt und den Terror der Besatzungsmacht. Als Zivilisten und Passanten waren sie zur falschen Zeit am falschen Ort: Sie wurden gedemütigt, gefoltert und erschossen – einfach so.
Niedertracht kennt keine Grenzen. Seit Beginn des Winters begeht Russlands Armee ein weiteres vorsätzliches Kriegsverbrechen. Sie greift systematisch die zivile Infra-struktur der Ukraine an. Sie lenkt Drohnen auf Kraftwerke und beschießt Umspannwerke. Sie zerstört Überlandleitungen und Wasserwerke. Den Menschen in der Ukraine soll Trinkwasser und Nahrung, Wärme und Strom entzogen werden. Das Ziel der Aggressoren: die Ukrainer durch Frost und Hunger mürbe zu machen, ihren Widerstandsgeist zu brechen und sie zur Kapitulation zu zwingen. Wenn die Ukraine von Europa, Kanada und den USA nicht weiterhin Hilfe erhält – zur militärischen Verteidigung und zur Versorgung der Menschen mit Strom und Wärme –, dann werden auf Putins Geheiß weitere zehn- und hunderttausende Menschen umgebracht.
Man sollte meinen, dass in der Stunde des Krieges kein Zweifel darüber besteht, wer Täter und wer Opfer ist, wer die Quelle von Aggression und Revisionismus ist und wer die Sicherheit und Souveränität aller Staaten in Ostmitteleuropa bedroht. Die baltischen Staaten wissen das, weshalb sie den Ausbau der Präsenz von NATO-Truppen in Litauen begrüßen. Ein Teil der polnischen Bevölkerung weiß das auch. Doch die in Polen regierenden Nationalkonservativen der PiS (Recht und Gerechtigkeit) und der Kleinstpartei Solidarisches Polen haben ein anderes Koordinatensystem. Für sie kommt die gefährlichste Bedrohung dieser Zeit aus Berlin.
Der Europaabgeordnete der PiS, Zdzisław Krasnodębski, erklärte im Herbst 2022 in einem Interview: „Die Bedrohung unserer Souveränität durch den Westen ist größer als die durch den Osten.“ Polens Justizminister Zbigniew Ziobro beklagte im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Warschau und Brüssel über die Rechtsstaatlichkeit, „dass Deutschland hinter der EU-Erpressung steht“. Und die graue Eminenz der Regierung, der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, weiß seit Jahren, wie die Deutschen ticken: „Sie wollen ein Viertes Reich gründen, das liegt ihnen in den Genen.“
Diese Äußerungen sind keine rhetorischen Ausreißer, die man damit erklären könnte, dass sie bereits der Mobilisierung der Wählerschaft für die Parlamentswahlen im Herbst 2023 dienen. Sie sind Ausdruck eines tief verankertes Ressentiments der polnischen Rechten gegen Deutschland. Ihre Ideologen, Publizisten und Politiker stellen Deutschland als hegemoniale, ja imperialistische Macht dar, der es darum gehe, Polen zu unterdrücken, seine Wirtschaft zu schwächen und mit Hilfe der EU seine Souveränität zu zerstören. Das ist ein Zerrbild. Man kann dies benennen und gleichzeitig anerkennen, dass es auch sachliche Gründe für Kritik an Deutschland gibt. Nahezu das gesamte politische Spektrum in Polen war bereits vor zwei Jahrzehnten irritiert über die deutsche Russlandpolitik, insbesondere im Energiesektor. Die zögerliche Reaktion zu Beginn des Krieges, als Berlin der Ukraine nicht die erforderlichen Waffen liefern wollte, hat das weit verbreitete Misstrauen vertieft.
Politik und Öffentlichkeit in Deutschland blicken nicht weniger irritiert auf den Furor, mit dem die seit 2015 amtierende nationalkonservative Koalition in Polen systematisch die Gewaltenteilung unterminiert und die Unabhängigkeit der Justiz sowie der öffentlich-rechtlichen Medien ausgehebelt hat. Ratlos steht die Bundesregierung vor der Forderung nach Reparationen für die Polen zwischen 1939 und 1945 zugefügten Kriegsschäden, die eine Untersuchungskommission des Sejm jüngst auf 1,3 Billionen Euro beziffert hat und die Polens Regierung nun geltend machen möchte. Für die Bundesrepublik Deutschland ist die Entschädigungsfrage seit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 juristisch abgeschlossen. Die Devise lautet: politische Verantwortung für deutsche Verbrechen vor 80 Jahren ja, unmittelbare Ausgleichszahlungen nein.
Wertedifferenzen, inkompatible Weltbilder und Interessengegensätze – die deutsch-polnischen Beziehungen befinden sich in einer ernsten Krise. Sie sind von Dauerkon-flikten, Vertrauensverlust, Frustration und Entfremdung gekennzeichnet. Diesen Be-fund teilen die Autoren, die im vorliegenden Band eine Beziehungsanalyse vornehmen.
Zwei Befunde aus der originellen und empirisch fundierten Analyse, mit der Felix Ackermann diesen Band eröffnet, verdienen besondere Beachtung. Die Idee der Versöhnung – Deutsche bitten um Vergebung, Polen verzeihen – trägt nicht mehr. Auf ihr hatte der deutsch-polnische Dialog seit Anfang der 1970er Jahre basiert. Der institutionalisierte deutsch-polnische Dialog, der von Dutzenden deutschen und polnischen Organisationen und Einrichtungen gepflegt, gefördert und vorangebracht werden soll, ist nicht mehr das Fundament für politische Zusammenarbeit. Einst verdienstvolle Foren sind zu Räumen ritualisierter Monologe geworden. Häufig gilt: Der Betrieb ist sich selbst genug. Aus dem Sprechen über die Vergangenheit ergeben sich keine Folgen für die Gegenwart.
Selbstreferentialität und Entfremdung zwischen Polen und Deutschland sind schlechte Voraussetzungen, um den Belastungstest zu bestehen, den Russlands Angriffskrieg für die EU darstellt. Das Putin-Regime hat den Widerstandsgeist der Ukrainer massiv unterschätzt. Und es hat nicht mit der Entschlossenheit und Geschlossenheit der EU gerechnet, dem Aggressor entgegenzutreten und den Angegriffenen zur Seite zu stehen. Nun setzt das Putin-Regime darauf, dass die europäische Solidarität bröckelt, je länger der Krieg dauert.
Wenn sich auch das als Fehlkalkulation herausstellen soll, dann braucht die Ukraine mehr Systeme zur Abwehr von Raketen und Drohnen, mehr gepanzerte Fahrzeuge, mehr Generatoren und Treibstoff, Transformatoren und Technik, Fachkräfte zum Unterhalt des Stromnetzes, der Fernwärme und der Eisenbahn. Dazu bedarf es einer funktionierenden und leistungsfähigen Logistik.
Eines ist offensichtlich. Ohne Polen geht das nicht! Ohne Deutschland auch nicht!
Berlin, Dezember 2022                                Manfred Sapper, Volker Weichsel