Titelbild Osteuropa 1-2/2023

Aus Osteuropa 1-2/2023

Der Kachovka-Stausee
Wirtschaftsmotor und Kriegsschauplatz

Ihor Pylypenko, Daria Malchykova

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Abstract in English

Abstract

Der in den 1950er Jahren geschaffene Kachovka-Stausee im Südosten der Ukraine hat erhebliche Bedeutung für die Energie- und die Agrarwirtschaft des Landes. Das mit Wasser aus dem See gekühlte Atomkraftwerk Zaporižžja und ein nahegelegenes Kohlekraftwerk produzierten vor Russlands Überfall auf die Ukraine knapp 30 Prozent des in der Ukraine erzeugten Stroms. Auch hat der Stausee seit den 1960er Jahren die Errichtung eines weitverzweigten Kanalsystems ermöglicht, das der Wasserversorgung von Millionen Menschen und der Bewässerung riesiger Agrarflächen dient. Russland hat den von der Ukraine nach der Krimannexion im Jahr 2014 gesperrten Nord-Krim-Kanal unmittelbar nach dem Einmarsch im Februar 2022 wieder geöffnet. Jetzt lassen die Besatzungstruppen jedoch in großen Mengen Wasser aus dem Kachovka-Stausee ab. Es steht zu befürchten, dass sie im Falle eines erzwungenen Rückzugs die Staumauer bei Nova Kachovka sprengen werden.

(Osteuropa 1-2/2023, S. 53–60)

Volltext

Die Schaffung künstlicher Seen ist ein massiver Eingriff in die natürliche Umwelt und schafft zugleich zentrale Lebensgrundlagen moderner Gesellschaften. Der in den 1950er Jahren im Südosten der Ukraine durch den Bau einer Staumauer am Dnipro geschaffene Kachovka-Stausee erfüllt mehrere solcher Funktionen. Das gestaute Wasser dient direkt wie indirekt der Erzeugung von Strom. In einem Wasserkraftwerk treibt es Turbinen an, zugleich wird es als Kühlwasser für das größte Atomkraftwerk Europas genutzt. Zudem dient das Wasser des Stausees der Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen und der Versorgung von Haushalten und Industrie in einem durch Kanäle erschlossenen Einzugsgebiet mit drei Millionen Menschen.

Dieser Stausee, das an seinem Ufer stehende AKW Zaporižžja und die Staumauer bei Nova Kachovka sind seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 Schauplätze des Kriegsgeschehens. Der Stausee ist im Schnitt neun Kilometer breit, seine maximale Breite von 25 Kilometern erreicht er im Gebiet Zaporižžja. Von der Straße über den Staudamm bis zum nächsten stromaufwärts gelegenen Übergang über den Dnipro, der Preobražens’kij-Brücke in Zaporižžja, sind es 255 Straßenkilometer. Der Stausee stellt daher eine Barriere dar, die die Truppen der Ukraine und Russlands voneinander trennt. Auch bestimmte er die Stoßrichtung der russländischen Invasionstruppen im Süden der Ukraine. Von der Krim kommend stießen diese zum einen über Melitopol’ auf das am Nordende des Stausees gelegene Zaporižžja zu, zum anderen auf die stromabwärts des Sees gelegenen Städte Nova Kachovka und Cherson.

In den Wochen vor der Rückeroberung des rechts des Dnipro gelegenen Teils des Gebiets Cherson durch die ukrainische Armee im November 2022 war die Sorge groß, russländische Truppen könnten die Staumauer sprengen und diese Tat mit verheerenden Folgen womöglich der Ukraine anlasten. Obwohl russländische Truppen weiter das gesamte linke Ufer des Stausees kontrollieren, war nach der Befreiung von Cherson von dieser Gefahr seltener die Rede. Es gibt jedoch Anzeichen, dass sie sehr real ist.

Zahlreiche via Telegram verbreitete Fotos und Videos aus den ersten drei Monaten des Jahres 2023 zeigen, dass der Wasserspiegel des Stausees in kurzer Zeit um ungefähr zwei Meter gesunken ist.[1] Der Pegel ist damit so niedrig wie niemals zuvor seit Abschluss der Füllung des Stausees Anfang der 1960er Jahre. Der Wasserstand wird durch Schieber, sogenannte „Schütze“, am Wehr geregelt. Je tiefer die Schütztafeln abgesenkt werden, desto schneller fällt der Wasserstand. Das Steuerhaus ist seit Ende Februar 2022 unter Kontrolle der russländischen Besatzer. Nur zu Zeit des Frühjahrshochwassers kann einem gezielten Leerlaufen des Sees in begrenztem Maß entgegengewirkt werden, indem aus den stromaufwärts am Dnipro gelegenen Stauseen mehr Wasser abgelassen wird, als durch das Wehr bei maximal abgesenkten Schiebern abfließen kann.

Der Rückgang des Pegels begann unmittelbar nach dem Rückzug der russländischen Truppen vom rechten Ufer des Stausees und der Aufgabe des Brückenkopfs am westlichen Ende des Damms. Mit Hilfe von Satellitenbildern lässt sich zeigen, dass neben der Turbinenhalle des Wasserkraftwerks Kachovka über mehrere Wochen hinweg riesige Wassermengen abgelassen wurden. Ausgehend von der Geschwindigkeit, mit der der Wasserspiegel sank, wurden hier zwischen 600 und 1500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde aus dem Stausee abgelassen. Bei einer Fläche des Stausees von 2155 km2 bedeutet ein Pegelrückgang von rund zwei Metern einen Verlust von etwa drei Kubikkilometern Wasser. Das entspricht 45 Prozent des nutzbaren und etwa 16 Prozent des Gesamtvolumens des Stausees. Hätte sich der Wasserrückgang im März 2023 wie in den Vormonaten mit einer Geschwindigkeit von zwei Zentimetern pro Tag fortgesetzt, wäre das gesamte nutzbare Volumen des Stausees bereits Anfang April abgelassen gewesen. Seit Anfang März hat sich der Wasserstand zunächst bei 13,8–14,0 Metern stabilisiert, was 2,0–2,2 Meter unter dem Normalniveau liegt, und ist bei weiter geöffneten Schiebern wegen des Frühjahrswassers bis Ende April auf 14,4 Meter gestiegen.

Es gibt Grund zu der Annahme, dass die gezielte Absenkung des Wasserspiegels der Vorbereitung einer Sprengung des Damms dient, die dann erfolgt, wenn Russland gezwungen wird, auch den links des Dnipro gelegenen Teil der Gebiete Zaporižžja und Cherson zu verlassen. Bislang greift Russland nicht zu diesem Schritt, da die Flutwelle besonders stark das noch besetzte Gebiet links des Dnipro treffen würde.

Wasser für Industrie und Landwirtschaft

Um sich zu vergegenwärtigen, welche Folgen eine Sprengung der Staumauer über die verheerende Flutwelle hinaus hätte, muss man die Funktion des Stausees betrachten. Der Kachovka-Stausee ist der sechste und letzte Stausee der Dnipro-Kaskade.[2]

Die Errichtung des Staudamms beschloss der Ministerrat der UdSSR per Erlass vom 20. September 1950. Das Dekret trägt den Titel: „Über den Bau des Wasserkraftwerks Kachovka am Dnepr, des Südukrainischen Kanals, des Nord-Krim-Kanals und die Bewässerung in der Südukraine und auf der Nord-Krim“.[3] Damit waren die beiden zentralen Ziele genannt: Stromerzeugung und Bewässerung großer landwirtschaftlicher Flächen in der Trockensteppe. Errichtet wurde der Staudamm an einer schmalen Stelle des Dnipro, die bereits zu Zeiten des Großfürstentums Litauen zur Überquerung des Flusses genutzt wurde.

Der Kachovka-Stausee, der oft als „Meer“ bezeichnet wird, hat das Leben der Menschen an seinen Ufern von Grund auf verändert. Er liefert Trink- und Brauchwasser, ermöglicht die Gewinnung von Strom, beherbergt Fischbestände und dient als Transportkorridor. Seit der Schaffung des Sees sind mindestens vier neue Städte entstanden: Nova Kachovka, Tavrijs’k, Dniprorudne und Ėnerhodar. Im Gebiet Cherson wurden Bewässerungssysteme mit einer Gesamtlänge von mehr als 12 000 Kilometern errichtet. Alleine der von 1961 bis 1971 gebaute Nord-Krim-Kanal, der den Hauptarm des Dnipro mit der Krim verbindet, ist 402 km lang. Über ihn wurden bis zum Jahr 2014 zu 85 Prozent des Süßwasserbedarfs der Halbinsel gedeckt. Nach der Annexion der Krim durch Russland sperrte die Ukraine den Nord-Krim-Kanal.[4]

Wasserkraft und Wasserkühlung: die Stromerzeugung

Nach der Fertigstellung des Damms stieg der Wasserstand des Dnipro an der Mauer auf eine Stauhöhe von 16 Metern. Das damit erhöhte Wasserkraftpotenzial ermöglichte die Errichtung eines Wasserkraftwerks mit einer installierten Leistung von 330 MW. Im Jahr 2016 begannen Planungen und eine öffentliche Debatte über den Bau eines zweiten Wasserkraftwerks Kachovka-2, das es ermöglichen soll, bislang ungenutzten Wasserabfluss aus dem Stausee zur Stromgewinnung einzusetzen. Wie die meisten Wasserkraftwerke in der Ukraine spielt auch jenes in Nova Kachovka eine wichtige Rolle beim Abdecken von Verbrauchsspitzen. Im Jahr 2021 wurden in dem Kraftwerk rund 1,4 Mrd. Kilowattstunden (kWh) Strom erzeugt, rund ein Prozent der ukrainischen Gesamtproduktion.

Eine viel größere Bedeutung haben die zwei riesigen Kraftwerke in Ėnerhodar, deren Errichtung durch die Schaffung des Stausees möglich wurde, da aus diesem das Kühlwasser für ihren Betrieb entnommen wird: das AKW Zaporižžja und das Kohle- und Gaskraftwerk Zaporižžja. Auf sie entfallen knapp 23 Prozent der installierten Kapazität in der Ukraine, und im Jahr 2021 wurden dort knapp 30 Prozent des in der Ukraine erzeugten Stroms produziert.

Das AKW Zaporižžja ist mit einer installierten Gesamtleistung von 6000 MW das größte Kernkraftwerk Europas. 15 Prozent der installierten Leistung aller ukrainischen Kraftwerke entfallen auf die sechs Blöcke in Ėnerhodar. Noch höher ist der Anteil an der Stromproduktion. Mit rund 40 Mrd. kWh im Jahr lag dieser bei etwa 25 Prozent. Das erhitzte Kühlwasser des Kraftwerks wird in einem Kühlteich auf seine ursprüngliche Temperatur zurückgebracht. Das Wasser dieses Kühlteichs wird dem Stausee entnommen, erwärmtes Wasser in diesen zurückgeleitet. Anfang Februar 2023 sprach die Internationale Atomenergie-Organisation davon, dass ein weiteres Sinken des Pegels Anlass zur Sorge über die Sicherheit des AKW geben würde.[5] Das in unmittelbarer Nähe zu dem AKW stehende Kohle- und Gaskraftwerk Zaporižžja hat eine installierte Leistung von 3600 KW. Es erzeugt ca. sechs Mrd. kWh Strom pro Jahr, etwa vier Prozent der ukrainischen Stromproduktion und benötigt ebenfalls Wasser aus dem Kachovka-Stausee. Fällt der Wasserstand an der Staumauer in Kachovka von 16 Metern in den kritischen Bereich, der bei ca. 12,5–13,1 Meter beginnt, ist eine Kühlwasserversorgung aus dem Stausee nicht mehr möglich. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine steht das Kraftwerk allerdings ohnehin still, weil es nicht mehr mit Kohle versorgt wird.

Strukturprägende Bewässerungslandwirtschaft

Der Kachovka-Stausee ist in der sonnenreichen südostukrainischen Trockensteppe von entscheidender Bedeutung für die Landwirtschaft. Über ein weitverzweigtes Kanalsystem wird Wasser aus dem Stausee an seinen Bestimmungsort gebracht. Der älteste große Bewässerungskanal ist der Nord-Krim-Kanal, der am linken Ufer des Stausees in der unmittelbar neben Nova Kachovka gelegenen Kleinstadt Tavrijs’k seinen Ausgang nimmt. Der Bau begann 1957, nachdem der Stausee den vorgesehenen Wasserstand erreicht hatte. Bereits 1963 versorgte der Kanal die nördliche Krim mit Wasser. Eine Verlängerung des Kanals sorgte dafür, dass seit 1975 Wasser aus dem Dnipro bis nach Kerč ganz im Osten der Krim geleitet werden kann. Von diesem Hauptkanal, der jedes Jahr nach Ende der Landwirtschaftssaison trockengelegt wird, zweigen zahlreiche kleinere Kanäle ab, die auch der Bewässerung großer landwirtschaftlicher Flächen im links des Dnipro gelegenen Teil des Gebiets Cherson dienen.

Bereits am dritten Tag nach Beginn der großangelegten Invasion in die Ukraine sprengten die russländischen Truppen den Damm, der den Nord-Krim-Kanal abgesperrt hatte. Vier Wochen später erreichte die Krim wieder in gleichem Umfang Wasser über den Kanal wie vor dem Jahr 2014. Die rasche Zerstörung des Damms spricht dafür, dass die Beseitigung des Wasserproblems auf der Krim eine der Aufgaben der Invasionstruppen in der Südukraine war.[6] Ein vierminütiges Video, das die Sprengung des Damms zeigt, ist mit den Sätzen untertitelt:

„Russländische Soldaten haben den Damm gesprengt, der den Weg des Dnepr-Wassers auf die Krim versperrte. Der Nord-Krim-Kanal wird schon bald wieder die wichtigste Wasserader der Halbinsel sein. Den Damm hatten im Jahr 2014 ukrainische Nationalisten zum Zweck einer Wasserblockade der Krim errichtet. Russland hat den Abzweig des Nord-Krim-Kanals im Gebiet Cherson unter seinen Schutz gestellt.“[7]

Ende der 1960er Jahre begannen erste Arbeiten für die Errichtung eines weiteren großen Bewässerungssystems: der Kachovka-Kanal. Er nimmt seinen Ausgang ebenfalls am linken Stauseeufer, 18 km stromaufwärts vom Ursprung des Nord-Krim-Kanals. Während dieser in einem Erdbett verläuft und jedes Jahr nach Ende der Bewässerungssaison trockengelegt wird, verfügt der Kachovka-Kanal über ein Betonbett und ist ganzjährig mit Wasser gefüllt. Nach der Inbetriebnahme des Hauptkanals 1980 und der Errichtung von Verteilungskanälen konnten etwa 220 000 Hektar Land zusätzlich bewässert werden, davon 190 000 im Gebiet Cherson und 30 000 im Südwesten des Gebiets Zaporižžja.[8] Auch ist der Kanal von zentraler Bedeutung für die Süßwasserversorgung der wasserarmen ukrainischen Küstengebiete am Asowschen Meer. Dies gilt insbesondere für die Industriestadt Berdjans’k mit ihren gut 100 000 Einwohnern (vor dem 24.2.2022), die seit 2004 über eine 175 Kilometer lange unterirdische Rohrleitung an den Kanal angebunden ist,[9] aber auch für weitere 300 000 Menschen im Süden des Gebiets Zaporižžja.

Der Ausbau der Bewässerungssysteme seit den frühen 1960er Jahren hat im Süden der Ukraine zu grundlegenden Veränderungen geführt. Mit der Überwindung der Wasserknappheit im sonnenreichen Gebiet Cherson ist eine agroindustrielle Kulturlandschaft entstanden.[10] Die Zunahme der bewässerten Flächen ging mit einem Bevölkerungszuwachs einher. Die Bewässerungsfeldwirtschaft schafft Arbeitsplätze, etwa weil Personal zur Instandhaltung der Bewässerungssysteme benötigt wird ober weil die Bewässerung den Anbau von Kulturen ermöglicht, deren Aussaat, Ernte und Verarbeitung vergleichsweise arbeitsintensiv ist.[11]

Besonders deutlich zeigt sich der Zusammenhang zwischen Bewässerung und Bevölkerungsentwicklung im Gebiet Cherson, wenn man die Entwicklungen auf der Ebene der Landkreise betrachtet.[12] In jenen Kreisen, in denen der Anteil bewässerter landwirtschaftlicher Flächen zwischen 1959 und 2001 besonders stark stieg, nahm auch die Bevölkerung stark zu. In Kreisen, in denen kaum Bewässerungsfeldwirtschaft betrieben wird, schrumpfte hingegen die Bevölkerung.[13]

Ursprünglich sollte die Schaffung von Bewässerungssystemen eine Ausweitung des Getreideanbaus ermöglichen. Doch im Laufe der Jahre stellten immer mehr Agrarbetriebe auf den Anbau von Gemüse und Melonen um. Dieser Trend begann zu sowjetischen Zeiten und verstärkte sich mit dem Ende der Planwirtschaft. Mit diesen Kulturen lässt sich ein höherer Ertrag erzielen, zugleich sind sie arbeitsintensiver. Beim Getreideanbau werden rund 40 Personenstunden pro Jahr und Hektar benötigt, bei Freiland-Gemüsekulturen mindestens 1000. Mittels einer Korrelationsanalyse lässt sich auch hier zeigen, dass die Spezialisierung eines Landkreises auf den Gemüseanbau zu einer höheren Bevölkerungsdichte geführt hat.[14] In den fünf Landkreisen mit dem höchsten Anteil bewässerter Agrarflächen liegt die durchschnittliche Dorfgröße zwischen 730 und 1300 Einwohnern. In den fünf Kreisen, in denen die Bewässerungsfeldwirtschaft die geringste Rolle spielt, liegt die Dorfgröße hingegen zwischen 280 und 325 Personen. Im Mittel leben im Gebiet Cherson 650 Personen in einem Dorf.

Auf den Gemüseanbau folgte die Lebensmittelindustrie. Im Kreis Kachovka etwa hat sich der größte Tomatenverarbeitungsbetrieb Ostmittel- und Osteuropas angesiedelt. Das Mitte der 1990er Jahre von zwei jungen Schweden gegründete Unternehmen Čumak hatte vor der Besatzung durch russländische Truppen ca. 1500 Beschäftigte. Allein für die Ketchup- und Soßenproduktion wurden über 60 000 Tonnen Tomaten pro Jahr verarbeitet.[15] Nach dem Einmarsch der russländischen Truppen wurden die Betriebe geplündert und Teile der Anlagen offenbar nach Russland verbracht. Kaum anders erging es vermutlich dem Unternehmen Agrofusion, für das in Hola Prystan’ vor 2022 in der Fabrik Južnyj zavod rund 900 Menschen bis zu 15 000 Tonnen Tomaten pro Jahr vor allem zu Tomatenmark verarbeiteten.[16] Die Produktion ist eingestellt; verlässliche Informationen über den Zustand liegen nicht vor.

Katastrophale Folgen einer Sprengung der Staumauer

Leider besteht Grund zu der Annahme, dass Russlands Besatzungstruppen den Wasserspiegel des Kachovka-Stausees in den ersten Monaten des Jahres 2023 gezielt abgesenkt haben, um bei bestimmten Entwicklungen des Kriegsgeschehens die Staumauer zu sprengen. Es steht zu befürchten, dass dieser Moment gekommen wäre, wenn Russland zu einem vollständigen Rückzug seiner Truppen aus den Gebieten Cherson und Zaporižžja gezwungen wird. Die Flutwelle in den zum Zeitpunkt der Sprengung vielleicht noch nicht vollständig geräumten Gebieten links des Dnipro wären mit dem aktuellen Wasserstand weniger verheerend als im Falle einer Zerstörung der Staumauer bei vollem Füllstand des Sees. Die Folgen für die Menschen im Südosten der Ukraine und die gesamte ukrainische Wirtschaft wären jedoch katastrophal. Drei Kraftwerke, auf die vor Russlands Überfall 30 Prozent der ukrainischen Stromproduktion entfielen, könnten nicht mehr betrieben werden. Das bisherige System der Trinkwasserversorgung von etwa 400 000 Menschen im ukrainischen Küstengebiet des Asowschen Meers, einschließlich der Städte Melitopol’ und Berdjan’sk, würde zerstört. Zudem könnte die seit Jahrzehnten etablierte Bewässerungslandwirtschaft nicht mehr fortgeführt werden. Damit wäre die Existenzgrundlage von 280 000 bis 420 000 Menschen in den südostukrainischen Agrargebieten zerstört. Auch auf der Krim würde wieder der Wassernotstand der Jahre 2014–2022 herrschen. Russland würde von der Sonne verbrannte Erde hinterlassen.

Aus dem Russischen von Anselm Bühling, Berlin

 


[1]   Russia is Draining a Massive Ukrainian Reservoir, Endangering a Nuclear Plant. Npr.org, 10.2.2023.

[2]   Die Kaskade beginnt mit dem „Kiewer Meer“, einem nördlich der Hauptstadt gelegenen Stausee mit der doppelten Fläche des Bodensees (922 km²), es folgt der Kaniv-Stausee südlich von Kiew (675 km²), der Kremenčuk-Stausee (2252 km²), der Kamjans’k-Stausee (567 km²) und der Zaporižžja-Stausee (410 km²) mit dem großen Dnipro-Wasserkraftwerk.

[3]   Erlass des Ministerrats der UdSSR vom 20. September 1950, <http://docs.historyrussia.org/ru/nodes/246656#mode/inspect/page/1/zoom/4>.

[4]   Siehe dazu Roland Götz: Wasserblockade. Die Ukraine, die Krim und Russland, in: Osteuropa, 7/2021, S. 117–131.

[5]   Update 145 – IAEA Director General Statement on Situation in Ukraine, <www.iaea.org/ newscenter/pressreleases/update-145-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine>.

[6]   „Bol’šaja kraža“: kak Rossija pustila dneprovskuju vodu v Krym i čem ėto črevato,  <www.bbc.com/russian/news-62053284>.

[7]   <www.youtube.com/watch?v=0rDoJSUo75c>.

[8]   Kachovs’kyj mahistral’nyj kanal, in: Encyklopedija Sučasnoji Ukrajiny,  <https://esu.com.ua/article-11150>.

[9]   Zur Geschichte der Rohrleitung, deren Bau bereits 1988 begann, siehe: Istoria odnoj truby. zn.ua, 12.2.2010.

[10]  I. Gukalova, D.S. Malchykova, I.O. Pylypenko: Irrigation of the Steppe Regions in Ukraine: Geographical Features of Nature-Society Co-Adaptation (on Example of Kherson Region), in: Scientific Herald of Chernivtsi University. Geography Nr. 762-763/2015, S. 15–23. – R.S. Molikevych: Some Aspects of the Latest Flooding in the Kherson Region. Bulletin of Odessa National University. Geo­graphical and Geological Sciences, Ausgabe 24, Bd. 2(41), 2022, S. 44–66.

[11]  Daria Malchykova, Ihor Pylypenko, Olena Shelukhina: Spatial Analysis of Environmental and Ameliorative Factors of Rural Area Development. International Multidisciplinary Scientific Geo Conference: SGEM, 18(5.2), 2018, S. 889–896. – O. Maškova: Suspil’no-heohrafične doslidžennja heoprostorovoji neodnoridnosti umov žyttjedijal’nosti sil’s’koho naselennja rehionu. Odesa 2008. – Siehe auch Brian Kuns: „In These Complicated Times“: An Environmental History of Irrigated Agriculture in Post-Communist Ukraine, in: Water Alternatives, 3/2018, S. 866–892. – Ders.: Beyond Coping: Smallholder Intensification in Southern Ukraine, in: Sociologia Ruralis, 4/2017, S. 481–506.

[12]  Bis zur Verwaltungsreform im Jahr 2020 bestand das Gebiet aus 18 Kreisen und den vier kreisfreien Städten Cherson, Kachovka, Nova Kachovka und Hola Prystan’, von denen zwei umfangreiche Agrargebiete auf dem Stadtgebiet hatten. Seit 2020 ist das Gebiet in fünf Kreise gegliedert. Die alte Verwaltungsstruktur eignet sich jedoch besser, um die regional unterschiedliche Entwicklung zu verdeutlichen.

[13]  Herangezogen werden die Daten der gesamtsowjetischen Volkszählung 1959, als die großflächige Bewässerung noch in den Anfängen steckte, und der Volkszählung in der Ukraine im Jahr 2001, als der Anteil der bewässerten Flächen auf dem Höchststand war, bevor er mit der Agrarreform aus demselben Jahr, bei der die Kollektivwirtschaften abgeschafft wurden, zu sinken begann. In den vier Kreisen mit dem größten Anteil bewässerter Fläche im Jahr 2001 (zwischen 26,7 und 41,2 Prozent) nahm die Bevölkerungszahl in den vorausgehenden 40 Jahren um das 1,5- bis 3,5-fache zu. In den vier Kreisen mit dem geringsten Anteil (0,2–3 Prozent) schrumpfte hingegen die Bevölkerung um 10 bis 20 Prozent. Insgesamt zeigt sich mit einem Korrelationskoeffizient von 0,867 ein starker Zusammenhang.

[14]  Herangezogen wurde ein Lokalisationskoeffizient, der angibt, wie stark die Gemüseproduktion pro Kopf in den untersuchten Landkreisen von dem entsprechenden Wert im gesamten Gebiet Cherson abweicht. Die Korrelation zwischen diesem Lokalisationskoeffizienten und der Bevölkerungsdichte beträgt 0,944, es liegt also ein starker unmittelbarer Zusammenhang vor.

[15]  Internetseite des Unternehmens, <https://en.chumak.com/about>.

[16]  Internetseite des Unternehmens, <www.inagro.ua/about-us/>.

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