Titelbild Osteuropa 10-11/2023

Aus Osteuropa 10-11/2023

Ein kleiner Weltkrieg
Die ethnische Säuberung Bergkarabachs

Georgi Derluguian

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Abstract in English

Abstract

Aserbaidschan hat die armenische Bevölkerung aus Karabach vertrieben. Die Türkei hat Baku unterstützt und Moskau dem kleinen Bruder des „rivalisierenden Partners“ Ankara freie Hand gegeben. Die Katastrophe der Armenier scheint nur ein weiteres unschönes Ereignis in einer entlegenen Region zu sein, erweist sich aber als Mosaikstein des Weltgeschehens.

(Osteuropa 10-11/2023, S. 3–6)

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Die ethnische Säuberung Bergkarabachs von den dort lebenden Armeniern schaffte es für einige Herbsttage kurz in die Weltnachrichten. Mittlerweile sind die letzten der 120 000 Karabach-Armenier aus ihrer Heimat geflohen. Nicht alle schafften es nach Armenien, einige wurden verhaftet, ihnen stehen Schauprozesse in Baku bevor, wenn sie nicht gar einfach verschwinden. Einige Soldaten der Moskauer Friedenstruppen, darunter hohe Offiziere, sind in einem Auto von „Querschlägern“ getötet worden. Keine Überlebenden. Wurden vielleicht Zeugen beseitigt? Baku hat sich eilig entschuldigt und Moskau willig akzeptiert. Nur einige russische Militärblogger zischten „Verrat“.

Schon einmal hat Moskau es aserbaidschanischen Truppen erlaubt, in den armenischen Dörfern in Karabach aufzuräumen.[1] Im schicksalhaften Sommer 1991 hoffte Michail Gorbačev offenbar, dass die Sowjetrepublik Aserbaidschan seine runderneuerte Version der UdSSR unterstützen würde, anders als die rebellischen und zunehmend prowestlichen Armenier. Wenige Monate später folgte der Zusammenbruch der Supermacht Sowjetunion.

Jedes Lexikon weiß, dass Armenien das älteste christliche Land der Welt ist. Im Jahr 301 wurde das Christentum Staatsreligion. Das Land hatte eine eigene Schrift und spielte eine herausragende Rolle in der Spätantike. Man schlage nach, von wo Servatius, der Schutzpatron von Maastricht, nach Mitteleuropa kam. Doch als das Römische Reich in den Völkerwanderungen unterging, blieben die Armenier als Relikt, eine versprengte Minderheit wie die Kelten, die Basken, die Kopten oder die besiegten Griechen und die Balkanslawen.

Neuzeitliche Geschichtswissenschaft weckte das Bewusstsein dafür, wie alt diese Völker sind. Es folgte der Traum vom Nationalstaat. Ob er realisiert werden konnte, hing von westlicher Geopolitik ab. Die Griechen erhielten ihren Staat in den 1820ern, die Iren ein Jahrhundert später. Die Armenier erhielten – 1915, im zerfallenden Osmanischen Reich – genozidale Vernichtung. Wie viele andere Minderheiten wurden sie beim Untergang der alten Welt zugleich als kapitalistische Ausbeuter und sozialistische Revolutionäre beschimpft. Zu westlich, zu modern.

Nach dem Gemetzel blieben vom einstigen armenischen Siedlungsgebiet nur ein paar Splitter, die 1920 in die neugegründete Sowjetunion eingingen. Der größere wurde zur Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik, den kleineren, genannt Bergkarabach, gliederte Moskau der Aserbaidschanischen SSR mit ihrer überwiegend muslimischen, turksprachigen Bevölkerung an.

Der Nationalitätenkommissar der Bolschewiki Iosif Stalin folgte einer materialistischen Logik. Ethnischer Hass galt ihm als Zeichen von Rückständigkeit. Baku, die Hauptstadt des neugeschaffenen Aserbaidschan, war ein Zentrum der Ölindustrie, das „Chicago des Ostens“.

Tatsächlich erlebte Baku um die Jahrhundertwende eine phantastische kosmopolitische Blüte. Die einheimische muslimische Oberschicht strebte in die Moderne, ging zum lateinischen Alphabet über und rief noch vor der Türkei eine Republik aus. Im Satiremagazin Molla Nasreddin, das von Britisch-Indien bis Marokko gelesen wurde, wagten die aserischen Aufklärer sogar, die islamischen Traditionen aufs Korn zu nehmen.

Die dünne Schicht der aserbaidschanischen Westler kamen in Stalins Terror der 1930er Jahre um. An ihre Stelle traten Männer wie Heydar Alijew – in den 1940er Jahren ein Protegé des sowjetischen NKVD-Chefs Lavrentij Berija, später der Gründervater jener Herrscherdynastie, die seit 1969 in Baku an der Macht ist.

Die Familie Alijew scheint entschlossen, die satirischen Phantasien eines Sacha Baron Cohen in den Schatten zu stellen. Präsident Ilham Alijew verleiht den Heydar-Alijew-Orden an seine Frau Mehriban Alijew, die Vizepräsidentin des Landes. Sie posieren im Flecktarn für Selfies vor eroberten armenischen Stellungen. Andere aserbaidschanische Kriegshelden werden fast nie erwähnt. Personalistische Herrschaft duldet keine Konkurrenz, und sei sie noch so loyal.

Solche grotesken Details liefern jedoch nur die Fassade. Geschichte entsteht aus dem Zusammenspiel von Strukturen, Akteuren und Zufall. Entscheidend ist der Zeitpunkt. Warum eskalierte der Karabach-Konflikt gerade jetzt? Was ist als nächstes zu erwarten?

Gorbačevs Perestrojka ließ Ende der 1980er Jahre viele Menschen auf eine humanere und rationalere Weltordnung hoffen. Die Intelligencija erlebte einen Höhenflug: Schriftsteller und Wissenschaftler sind per definitionem die Hüter alles Rationalen und Humanen. Die Verwaltungsgrenzen, die das armenische Autonomiegebiet Karabach durch einen schmalen Streifen Bergland von der Armenischen Sowjetrepublik trennten, erschienen irrational. Dies ließ sich vermeintlich leicht beheben, waren doch Armenien und Aserbaidschan Sowjetrepubliken. Es folgte eine Kette schrecklicher Ereignisse, verborgen unter dem kühlen Begriff „Bevölkerungsaustausch“. Eine große Zahl ethnischer Armenier, die meisten Angehörige der städtischen Intelligenz, wurde gewaltsam aus Baku vertrieben. 1992–1994 sicherten armenische Truppen – wild entschlossen, den Genozid zu sühnen –, Bergkarabach und brachten eine große Pufferzone um das Gebiet herum unter ihre Kontrolle. Die dort lebenden Aseris wurden vertrieben.

In Baku schwang sich nach einem kurzen und chaotischen Interregnum der demokratischen Intelligencija Heydar Alijew erneut zum Alleinherrscher auf. In Karabach und bald auch in Armenien gelangten die siegreichen Guerilla-Kommandeure an die Macht, die meisten von ihnen Parteikarrieristen aus der Provinz. Dieser soziale Hintergrund der Herrschenden hat mit dazu beigetragen, dass keine der beiden Seiten sich in den 25 Jahren nach dem Waffenstillstand von 1994 ernsthaft um Frieden bemühte, bis Aserbaidschan 2020 wieder zu den Waffen griff. Die Männer an der Macht waren allesamt ehemalige sowjetische Funktionäre, sie genossen die Früchte der Korruption. Mit dem Unterschied allerdings, dass Heydar Alijew ein für seine Gewieftheit bekannter KGB-General war, seine armenischen Gegner dagegen simpler gestrickt. Das postsowjetische Aserbaidschan wurde zum Petrostaat mit einem Präsidenten auf Lebenszeit. Heydar Alijew vermied Risiken und baute sein Regime umsichtig auf, bevor er die Herrschaft an seinen Sohn und die angeheiratete Verwandtschaft übergab. In Armenien ging es turbulenter zu, mehrere Präsidenten wechselten sich an der Spitze des Regimes ab, bevor es im Jahr 2018 in einem Volksaufstand gestürzt wurde. Angeführt wurde die Revolte von Nikol Paschinjan, einem Journalisten mit Hang zum Populismus. Wie man Staatsgeschäfte führt, lernte er erst im Präsidentenamt, wofür sein Land einen hohen Preis zahlte. Eine große Mehrheit der Wähler hielt ihn dennoch im Vergleich zu seinen Vorgängern für das geringere Übel. Aus einer turbulenten Autokratie wurde eine turbulente Demokratie. Moskau verbarg sein Missfallen nicht.

2020 kamen drei äußere Faktoren zusammen, die zum Wiederauflodern des Karabach-Kriegs führten: Covid, Brexit, Trump. Der Westen war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Die armenischen Kräfte in Karabach hatten mit ihren sowjetischen Gewehren und der Taktik alter Schule kaum eine Chance gegen die aserbaidschanischen Truppen, die mit modernen Waffen aus Israel und Russland ausgestattet und von türkischen Beratern trainiert worden waren. So weit, so erwartbar.

Seltsamerweise endete der zweite Karabach-Krieg aber im November 2020, als der Sieg Aserbaidschans scheinbar unmittelbar bevorstand. Sofort wurden hervorragend ausgebildete russländische Friedenstruppen stationiert, mit einem vagen Mandat von unklarer Dauer. Armenien hatte zweifellos verloren. Aber Aserbaidschan hatte nun neben den eigenen Truppen und den Überbleibseln der karabach-armenischen Einheiten russländische und türkische Kontingente auf seinem Territorium. Oft wurden auch israelische Ausbilder im Land vermutet, aber bewiesen werden konnte das natürlich nie.

Zweifellos musste Baku dieses sonderbare Ergebnis akzeptieren, weil Putin und Erdoğan zu „rivalisierenden Partnern“ geworden waren. Im Jahr 2020 schien Putins Stern noch zu steigen. Dies könnte der entscheidende Punkt sein. Karabach war Teil eines viel größeren Geschehens.

Es sei daran erinnert, dass im Sommer 2020 der belarussische Dauerdiktator Lukašenka beinahe die Macht verloren hätte. Putin rettete ihn und kassierte Belarus ein.

Der wiedereingefrorene Krieg in Karabach machte sowohl Armenien als auch Aserbaidschan schmerzhaft abhängig von Russland. Georgien schien unter seiner rückgratlosen Führung ohnehin erledigt zu sein. Dann ließ ein unerwarteter (wie immer) Volksaufstand in Kasachstan beinahe das Regime und den Staat kollabieren. Russländische „Friedenstruppen“ waren sofort zur Stelle und verschwanden überraschenderweise sofort wieder. Natürlich wurden sie für den Überraschungsangriff auf die Ukraine gebraucht. Aber das Bauernopfer funktionierte nicht, der ukrainische Widerstand machte Moskau einen Strich durch die Rechnung.

Das Schicksal Karabachs war damit besiegelt. Baku, risikoscheu wie eh und je, kreiste noch ein Jahr über der Beute und beobachtete, wie Moskaus Macht dahinschwand. Und nicht nur das: Russland brauchte Aserbaidschan und die Türkei immer dringender, um westliche Sanktionen zu umgehen und die Verbindung zum aufgewerteten Partner Iran auszubauen.

Und Armenien? Russland, das an allen Fronten verliert, würde dort nur allzu gern einen Regimewechsel herbeiführen. Der Militärstützpunkt in Armenien ist Moskaus letzter Außenposten im Südkaukasus. Das Ende des Karabach-Konflikts könnte das Ende von Paschinjans populistischer Demokratie nach sich ziehen.

Vielen Armeniern wird erst jetzt schmerzhaft klar, dass Moskau kein Verbündeter mehr ist. Dieser Gedanke tauchte erstmals zur Zeit der gutgemeinten Reformen Gorbačevs auf, und er führte letztlich zum Ende der Sowjetunion. Putins geopolitischer Masterplan könnte nun zum Ende Russlands führen. Die Geschichte ist voll solcher tragisch-ironischer Wendungen. Was wie ein kleiner Krieg an einem entlegenen Ort aussieht, kann sich unvermutet als Weltkrieg entpuppen.

Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Zur sogenannten „Operation Ring“ (operacija kol’co) siehe Thomas de Waal: Black Garden. Armenie and Azerbaijan through Peace and War. New York 2013, S. 108–124 – Anm. d. Red.

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