„Vaterlandsverteidiger“
Wehrerziehung im okkupierten Donbass
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Abstract in English
Abstract
Teile der ukrainischen Gebiete Donec‘k und Luhans’k sind seit dem Jahr 2014 von Russland besetzt. Die Besatzer versuchen, die Menschen an ihr Regime zu binden. Eines der Mittel ist die Indoktrinierung junger Menschen in den Schulen. Sie sollen zu „Vaterlandsverteidigern“ herangezogen, ihr ukrainisches Selbstverständnis soll gelöscht werden. Die Schulen wurden in das russländische Schulsystem integriert, zudem wurden Elemente der sowjetischen Schule wieder eingeführt. Dies zeigt sich am Kanon der Fächer Literatur, Geschichte und Gesellschaftskunde, in denen Kinder zugleich zu russländischem Patriotismus und Treue zu den „Volksrepubliken“ erzogen werden sollen. Der Sportunterricht wurde militarisiert und ein neues Fach Wehrerziehung eingeführt.
(Osteuropa 10-11/2023, S. 7584)
Volltext
Teile des ukrainischen Donbass stehen seit Sommer 2014 unter Besatzung. Russland sah in den jungen Menschen der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Lugansk, die es im September 2022 annektiert hat, vom ersten Augenblick an ein Reservoir für Mobilmachungen, das es ermöglicht, den bewaffneten Angriff auf die Ukraine fortzusetzen. Daher sind Kinder und Jugendliche in den besetzten Gebieten seit neun Jahren einer massiven Indoktrinierung ausgesetzt. Zentraler Ort der Beeinflussung sind die Schulen.
Das Schuljahr 2014/2015 wurde in den dortigen Sekundarschulen noch nach ukrainischem Lehrplan absolviert. Danach begann mit einer Umstellung der Lehrpläne die ideologische Neuausrichtung. Das Besatzungsregime schuf Schulbehörden, führte neue Lehrpläne sowie neue didaktische und methodische Leitlinien ein und begann mit einer entsprechenden Umschulung der Lehrkräfte. In den Verordnungen der Besatzungsbehörden ist von „patriotischer“ oder „militärisch-patriotischer Erziehung“ die Rede. Nach den ukrainischen Kinderschutzgesetzen handelt es sich um Indoktrinierung.
Besondere Bedeutung messen die Besatzer einer militärischen Ausbildung und der Gewöhnung an Umgangsformen in militärischen Hierarchien zu. Dazu dient ein Wehrunterricht mit theoretischen und praktischen Teilen. Eingeübt wird nicht nur der Umgang mit Waffen, sondern auch die Unterordnung unter Befehle. Zweck war die Vorbereitung von Soldaten für eine Ausweitung des Kriegs. Mit gezielter Propaganda in den Schulen, wo der seit 2014 andauernde Krieg als „Vaterlandsverteidigung“ dargestellt wurde, schafften die Besatzer die Grundlage für den erneuten Überfall auf die Ukraine im Februar 2022.
Instrumentalisierung der Geschichte
Das erste Problem, das die Besatzer bei der Verbreitung des neuen „patriotischen“ Gedankenguts in den Schulen zu lösen hatten, war die Benennung des „Vaterlands“. Die „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk sind künstliche Gebilde, ihre Grenzen Waffenstillstandslinien. Daher wurden die Lehrpläne der Sekundarschulen der besetzten Gebiete zum Schuljahr 2015 um das Fach „Donbass-Staatsbürgerbewusstsein“ ergänzt, das in den Klassenstufen 1 bis 11 unterrichtet wird. Die Lehrkräfte sollen dort „bei den Lernenden ein staatsbürgerliches Bewusstsein und eine moralische Kultur heranbilden, die auf den Anschauungen und dem Weltbild der Volksrepublik Donezk gründen“. Dieses Weltbild wird explizit an jenes der „Russischen Welt“ bezeichnet.[1] Nicht zufällig findet sich in einem Arbeitsheft für Zweitklässler die Kapitelüberschrift „Der Donbass und die ‚russische Welt‘“.[2]
Das größte „Erziehungspotenzial“ sahen die Besatzungsbehörden im Geschichtsunterricht. Das Fach „Geschichte der Ukraine“ wurde in der „Volksrepublik Donezk“ durch die Fächer „Geschichte des Vaterlands“ (für die Klassenstufen 7 bis 9) und „Geschichte des Vaterlands. 20. und 21. Jahrhundert“ (für die Klassenstufen 10 und 11) ersetzt, in denen die Geschichte Russlands mit der Geschichte des Donbass verbunden wird. Die vom sogenannten Bildungs- und Wissenschaftsministerium der „Volksrepublik“ erarbeiteten Empfehlungen für das Unterrichten der neuesten Geschichte der Region enthielten folgende Themenblöcke: „Die Ukraine und der Donbass im Kontext der Entwicklung Russlands“, „Der ‚Krim-Frühling‘ 2014“, „Spontane Proteste im Donbass im März und April 2014“, „Der ‚Russische Frühling‘ in der Südost-Ukraine“, „Die Forderungen der Bevölkerung des Donbass“, „Die Ausrufung der ‚Volksrepublik Donezk‘ und der ‚Volksrepublik Lugansk“, „Der Übergang zur militärischen Konfrontation zwischen den ukrainischen Streitkräften sowie ‚Freiwilligenverbänden der ukrainischen Oligarchen‘ und den ‚Volksmilizen des Donbass‘“, „Die Zunahme bewaffneter Konflikte im Bürgerkrieg in der Ukraine“, „Russenhass in Gesellschaft und Politik der Ukraine“.[3]
Auch in den Unterrichtshilfen „Historische Heimatkunde. Einführung in die Geschichte des Donbass“ und „Historische Heimatkunde. Seiten der Geschichte des Donbass: Neuere Geschichte und Zeitgeschichte (von 1939 bis in die Gegenwart)“ wird den aktuellen Ereignissen in den südöstlichen Gebieten der Ukraine viel Platz eingeräumt, hier werden sie jedoch sehr deutlich in einen Zusammenhang mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ gestellt. Die im Jahr 2014 entstandenen sogenannten Volksmilizen im Donbass – es handelt sich um illegale bewaffnete Verbände und russländische Besatzungstruppen – werden als „einfache Bergleute, … Lehrer und Ärzte …“ hingestellt; die bewaffnete Besatzung wird in Anlehnung an die Ereignisse der Jahre 1941-1945 als „Befreiungskrieg“ bezeichnet. In einer „freien“ Aufgabe sollen historische Parallelen zwischen den Ereignissen im frühen 20. Jahrhundert und der Gegenwart gezogen werden – etwa zwischen der Ausrufung der „Sowjetrepublik Donec-Krivoj Rog“ 1918 und der Ausrufung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk 2014 oder zwischen den Schlachten um die Anhöhe von Savur-Mohyla in den Jahren 1943 und 2014.[4] Der Bezug auf die Ereignisse von 1918 dient dazu, die Gründung der Volksrepubliken damit zu rechtfertigen, dass die Menschen im Donbass sich noch nie als Ukrainer gesehen hätten. Mit dem Bezug auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ wird die Besatzung als Fortsetzung des damaligen „Kampfes gegen den Faschismus“ dargestellt.
Neben den Kernfächern wurden in den Schulen auch „patriotische“ Arbeitskreise und Wahlfächer mit Namen wie „Junger Patriot“, „Die Heimatregion“ oder „Historische Heimatkunde“ geschaffen.[5] Zudem haben die Schülerinnen und Schüler historische Daten festlich zu begehen. So wurde für 2020 in der „Volksrepublik Lugansk“ ein „Gedenk- und Ehrungsjahr in den Bildungseinrichtungen“ ausgerufen. In allen Schulstufen fand das ganze Jahr über jeden Mittwoch eine halbstündige Unterrichtseinheit zu den Ereignissen des deutsch-sowjetischen Krieges von 1941–1945 statt.[6] Zudem wurden außerschulische Veranstaltungen mit diesem thematischen Hintergrund durchgeführt, etwa militärtaktische, militärsportliche und sportpatriotische Spiele für die Klassenstufen 10 und 11.[7] An sowjetische Vorbilder knüpfte auch die Schaffung eines „Staatlichen Zentrums für Leibesübungen und Sport“ in der „Volksrepublik Donezk“ an, das unter dem Motto „Bereit zu Arbeit und Verteidigung“ arbeitet. Von 2016 bis 2018 absolvierten dort etwa 2000 junge Menschen Kurse, 2019 mehr als 7000.[8] Diese Ausweitung deutet darauf hin, dass sehr viele zur Teilnahme genötigt wurden.
Wehrkunde in Theorie und Praxis
Die Besatzungsbehörden haben überall in den Schulgebäuden Symbole des „Staates“ platziert, damit die Schüler „sie nicht vergessen, während sie in den ersten Stock steigen“.[9] Zudem haben sie ein neues Heldenpantheon geschaffen, dessen Namen in den Schulen propagiert werden. Gebäude wurden nach ihnen benannt, Gedenktafeln aufgehängt, und Schaukästen angebracht, um den schulischen Raum symbolisch mit Bildern der „Vaterlandsverteidiger“ zu füllen. Darüber hinaus wurden Vertreter der illegalen bewaffneten Verbände auch direkt in den Unterricht eingebunden, insbesondere in dem neuen Pflichtfach „Tapferkeits-Unterricht“, das einmal pro Woche auf dem Stundenplan steht. Der Name des Fachs verbrämt den militaristischen Lerninhalt. Auch hier geht es um die Geschichte der Sowjetunion, den Zweiten Weltkrieg und den Krieg im Donbass. Im praktischen Teil wird der Umgang mit Schusswaffen vorgeführt. In der Sekundarschule Nr. 54 in Luhansk wurde im Rahmen einer solchen Unterrichtseinheit etwa der Kampf um Debal’ceve Anfang 2015 behandelt.[10] In der „Volksrepublik Donezk“ wurde zudem festgelegt, dass der „Tapferkeits-Unterricht“ an bestimmten Tagen verpflichtend stattfinden muss. Dies sind zum einen Feiertage, die ihren Ursprung in der Sowjetzeit haben – wie der „Tag der Befreiung des Donbass“, der „Tag des Truppenabzugs aus Afghanistan“, der „Tag der Vaterlandsverteidiger“ und der „Tag des Sieges“ –, zum anderen Daten, die mit der „Staatsgründung“ verbunden sind: der „Tag der Flagge der Volksrepublik Donezk“, der „Tag der Republik Donec-Krivoj Rog“ und der „Tag der Republik“.[11]
Durch die Verbindung theoretischer und praktischer Elemente sollten zum einen die Führungsfiguren und Angehörigen der illegalen bewaffneten Verbände glorifiziert werden. Zum anderen ging es darum, die Kinder und Jugendlichen militärisch zu sozialisieren und Waffen zu einem normalen Teil des Alltagslebens zu machen. Die Auftritte von Vertretern der illegalen bewaffneten Verbände im Rahmen des Unterrichts dienten der Legitimierung dieser Verbände sowie der von ihnen „verteidigten“ Grenzen. Schüler, die sich in diesem Fach besonders hervortaten, wurden anschließend für „militärisch-patriotische Klubs“ angeworben.[12]
Eine wichtige Rolle bei der Militarisierung der Jugendlichen in der Sekundarstufe – insbesondere der jungen Männer in den Abschlussklassen – spielt das Fach „Militärische und medizinische Grundausbildung“ für die Klassenstufen 10 und 11. Laut Lehrplan soll es „mittels eines umfassenden Systems ideeller und militärisch-patriotischer Erziehungselemente die Bereitschaft der Lernenden fördern, ihre staatsbürgerliche und verfassungsmäßige Pflicht zur Verteidigung der Heimat zu erfüllen“. In den Unterrichtsplänen sind in der Regel 88 Stunden im Schuljahr für dieses Fach vorgesehen (zwei Wochenstunden zuzüglich 18 Stunden mit praktischen Übungen). Den Abschluss bilden dreitägige Ausbildungs- und Feldübungen, die von „Truppenteilen“ oder „Wehrämtern“, in Wehrsport- und sportpatriotischen Lagern sowie Erholungsheimen durchgeführt werden. Sie finden in der 10. Klasse außerschulisch und in der 11. Klasse im Rahmen des Schulunterrichts statt.[13] Dort werden Uniformen getragen, es gilt die militärische Rangordnung. Abgehalten werden die Übungen in Frontnähe.
Im Mai 2019 wurde eine Schülergruppe für eine solche Übung direkt an die Kontaktlinie gebracht.[14] Sie trainierten die Orientierung im Gelände, das Schießen mit scharfen Waffen, das Reinigen und Zerlegen von Waffen, Taktik, Feldmedizin und Minenräumung. Im Rahmen des „Programms 2020–2022 zur patriotischen Erziehung der Bürger der Volksrepublik Donezk“ wurden für die Organisation und Durchführung von Kursen zur „militärischen und medizinisch-sanitären Grundausbildung“ für Schüler der 10. und 11. Sekundarklassen sowie 1. und 2. Berufsschulklassen 926 000 Rubel zur Verfügung gestellt.[15] Die Bereitstellung von Mitteln für solche Übungen hat für die Besatzungsbehörden hohe Priorität, weil sie junge Männer anspornen sollen, sich den illegalen bewaffneten Verbänden anzuschließen, und dazu dienen, künftige Ressourcen heranzubilden.
Erweiterter Wehrunterricht als Vorbereitung auf den Militärdienst
Selbst die umfangreiche Propaganda und die praktischen Übungen in den gewöhnlichen Schulklassen sind keine Gewähr dafür, dass sich die jungen Männer nach Abschluss der Schule zu einem Eintritt in die illegalen bewaffneten Verbände entschließen. Daher führten die Behörden der „Volksrepubliken“ zusätzlich Fachklassen mit erweitertem Wehrunterricht ein – auch als Kadetten- oder Kosakenklassen bezeichnet.
Die Schüler dieser Klassen, die als Vorbereitung für eine weitere militärische Ausbildung dienen, stammen überwiegend aus Familien von „Armeeangehörigen“. Der Unterricht in diesen Klassen findet nach dem allgemeinen Lehrplan statt, zielt jedoch vor allem darauf ab, die Minderjährigen auf den „Militärdienst und sonstigen Staatsdienst“ vorzubereiten. Entsprechend ist die Ausbildung der Kadetten nach militärischem Vorbild organisiert: Sie legen einen „Eid“ ab, tragen Uniformen und Abzeichen, haben eine „Dienstvorschrift“ und „Dienstausweise“. Die Klassen sind militärisch organisiert: eine Klasse bildet einen Zug, der in zwei oder mehr Trupps unterteilt ist, der Klassenlehrer ernennt Zug- und Truppführer. Während der Sommerferien finden „Feldübungen“ statt.[16]
Nach Angaben ukrainischer Menschenrechtsaktivisten gab es 2021 in den besetzten Gebieten mehr als 70 solcher Klassen.[17] So wurde in der Sekundarschule Nr. 4 in Donec’k ein „Kadettenkorps A. Sacharčenko“ geschaffen, das nach dem ehemaligen Führer der „Volksrepublik Donezk“ benannt ist. Im Dezember 2021 wurden 47 Schüler und Schülerinnen in dieses Korps aufgenommen.[18] Auch in Internatsschulen entstanden solche Klassen, etwa im „Donezker G.-T.-Beregovoj-Lyzeum mit erweiterter militärischer Körpererziehung“, den spezialisierten Internatsschulen Nr. 19 und 22 und der allgemeinbildenden Internatsschule Nr. 1 für Waisenkinder.[19] Das Beregovoj-Lyzeum kann nach Abschluss der Sekundarstufe 1 (9. Klasse) besucht werden, es untersteht dem „Verteidigungsministerium der Volksrepublik Donezk“ und ist der „Donezker Kommandeursschule der allgemeinen Truppen“ angegliedert, wo die „hohe Schule des Kriegs“ unterrichtet wird.[20]
Viel ausgeprägter noch als in der „Volksrepublik Donezk“ ist die „Kadetten- und Kosakenbewegung“ im besetzten Teil des Gebiets Luhans’k. Dort hat das „Ministerium für Bildung und Wissenschaft“ spezielle „Verordnungen“ zu den Kadettenschulen erlassen.[21] Zudem wurde in der dem „Staatsoberhaupt der Volksrepublik Lugansk“ unterstehenden Behörde eigens eine Stelle mit der Bezeichnung „Berater in Angelegenheiten des Kosakentums, der patriotischen Erziehung und der Kadettenausbildung“ geschaffen. Auch große öffentliche Veranstaltungen wurden genutzt, um unter jungen Männern das sogenannte Kosakentum zu fördern. So fand 2019 in der „Volksrepublik“ ein Kosakenkultur-Festival statt.[22] Anfang Dezember 2021 hatten in der „Volksrepublik“ fast 10 000 Schüler der Sekundarstufe im Rahmen einer russlandweiten Aktion ein „Kosakendiktat“ zu schreiben.[23]
Auch wurden in der „Volksrepublik Lugansk“ zwei „Kadettenkorps“ eingerichtet: das „Republikanische Kosaken-Kadettenkorps Luftmarschall Aleksandr Efimov“ in Luhans’k sowie das „Kosaken-Kadettenkorps General Matvej Ivanovič Platov“ in Alčevs’k. Das „Korps“ in Luhans’k ist dem „Bildungs- und Wissenschaftsministerium“ unterstellt, das in Alčevs’k dem „Schulamt der Stadtverwaltung Alčevs’k“. Alleine bis Ende 2021 wurden 417 Kinder in diesen beiden Korps ausgebildet. Im Schuljahr 2018/2019 gab es in den Sekundarschulen der „Volksrepublik“ acht sogenannte Kadetten-(Kosaken-)Klassen; im darauffolgenden Schuljahr 2019/2020 waren es 18. Für das Schuljahr 2020/2021 plante die Besatzungsverwaltung, ihre Zahl auf 33 zu erhöhen.[24] Nach Angaben der ukrainischen Ombudsperson für Menschenrechte gab es Ende 2021 im besetzten Teil des Gebiets Luhans’k 62 Kadettenklassen, in denen mehr als 1200 Kinder unterrichtet wurden.[25] Alle Kadettenklassen waren den „Schulämtern“ bzw. „Bildungsreferaten“ der sogenannten Stadt- oder Kreisverwaltungen unterstellt.
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 wurden ehemalige „Eleven“ der „Kadettenkorps“ und Angehörige von „Kosaken“-Organisationen an der Front eingesetzt.[26] So starb Anfang April 2022 ein Absolvent des „Kadettenkorps Luftmarschall Aleksandr Efimov“ des Abschlussjahrgangs 2017.[27] Der Leiter des „Kadettenkorps“ von Luhans’k brüstete sich im März 2022 damit, dass ehemalige „Kadetten“ an der Front kämpfen würden:
"Die Absolventen des Korps stehen heute in den Reihen der Soldaten, die das Vaterland verteidigen. […] Unser wichtigstes Ziel ist es, die Jungs auf den Staats- und Militärdienst vorzubereiten – und dieses erfüllen wir mit Bravour."[28]
Die Rolle der Lehrkräfte
Die Aufgabe, das Bildungsumfeld in sämtlichen Einrichtungen auf allen Klassenstufen an die neue ideologische Linie anzupassen, wurde den Schulverwaltungen und dem Lehrpersonal auferlegt. Das Ziel der „patriotischen Erziehung“ verdeutlichte ein aus Russland entsandter Beauftragter vor den Lehrkräften einer Schule im Rajon Pereval’s’k (Gebiet Luhans’k) so:
"Im Krieg schießt nicht die Waffe, nicht der Mensch drückt den Abzug, sondern die Weltanschauung, die er im Kopf hat. Der große Krieg kommt erst noch. Russland braucht treue Soldaten, die die russischen Menschen verteidigen."[29]
Von den Lehrkräften wird verlangt, dass sie „den Stoff in Beziehung zum patriotischen Gedankengut zu setzen und ins Bewusstsein der Schüler bringen“.[30] Das Lehrpersonal wurde mit der Aufgabe betraut, Patrioten der „Volksrepubliken“ zu erziehen. Die Lehrer haben nicht zuletzt Informationen über „militärpatriotische“ Organisationen wie „Molodaja gvardija – Junarmija“ und „Molodaja Respublika“ unter den Schülern zu verbreiten.[31]
Zudem wurden auch die Lehrkräfte selbst in die Tätigkeit der an den Schulen eingerichteten „militärisch-patriotischen Klubs“ einbezogen, meist in Leitungsfunktion. Noch im Jahr 2014 begannen die Besatzungsbehörden damit, die Lehrkräfte in den besetzten Gebieten umzuschulen. Das Programm umfasste Konferenzen und Seminare mit didaktisch-methodischem und wissenschaftlich-praktischem Schwerpunkt, Wettbewerbe für Unterrichtsprojekte zur „patriotischen Erziehung“ und Maßnahmen zur persönlichen „beruflichen Weiterentwicklung“.[32] Im Jahr 2019 nahmen in der „Volksrepublik Lugansk“ 46 Lehrer an einem Projekt mit dem Titel „Besonderheiten der Erziehung in Kadetten- (Kosaken-) Klassen in den Bildungsorganisationen (-einrichtungen) der Volksrepublik Lugansk“ teil. Ziel war die „Bestimmung der Rolle des Erziehers bei der Herausbildung und Entwicklung der Persönlichkeit des Zöglings durch verschiedene Arten erzieherischer Tätigkeit auf Grundlage eines integrierten Ansatzes zur Lösung von Aufgaben der patriotischen Erziehung der Kadetten“.[33]
Russifizierung zum Zweck der Annexion
Den Schülern in den besetzten Gebieten soll nicht nur die Bereitschaft zur Verteidigung eines nicht näher bestimmten „Vaterlands“ eingeimpft werden. Ein weiteres Ziel ist die Schaffung einer vermeintlichen inneren Verbundenheit mit Russland. Dem dient die intensive Beschäftigung mit der russischen Sprache sowie der Geschichte und Kultur Russlands. Auch bei außerschulischen Veranstaltungen und in der Ferienzeit – etwa bei Sommerlagern – werden den Kindern die entsprechenden Inhalte eingeflößt. Zu den Einweisungen ins Thema „Russlands Kultur“ gehören etwa Vorträge über die Geschichte des russländischen Grenzschutzes. Das Jahr 2019 wurde zum „Jahr der russischen Sprache in der Volksrepublik Donezk“ erklärt, überall in den besetzten Gebieten fanden Schülerwettbewerbe unter dem anbiedernden Motto „#IchkannRUSSISCH“ statt.[34]
Diese und andere Maßnahmen hatten ein klares Ziel: Den Anschluss des Schulsystems der besetzten Gebiete an das russländische System. Nach einigen Jahren der Vorbereitung dekretierte dann auch das sogenannte Bildungs- und Wissenschaftsministerium der „Volksrepublik Donezk“ die „vollständige Integration des örtlichen Bildungssystems in das Bildungswesen der Russländischen Föderation. Mit diesem Erlass wurde das Schulfach „Russland in der Welt“ eingeführt, das den Lernenden „eine Vorstellung von Russland in verschiedenen historischen Epochen“, „die Kenntnis von Russlands Platz und seiner Rolle in der Welt“ und „Vorstellungen über Mechanismen zur Schaffung eines Bildes des historischen und modernen Russlands in der Welt“ vermitteln soll. Auch soll den Schülern „eine Sicht auf die moderne Welt unter dem Gesichtspunkt der Interessen Russlands“ nähergebracht werden.[35]
Fazit
Seit der Besetzung im Jahr 2014 werden in den Schulen der mittlerweile von Russland annektierten Pseudo-Republiken von Donezk und Lugansk die Schüler indoktriniert und sie müssen Wehrunterricht über sich ergehen lassen. Eltern und ihre Kinder haben keine Möglichkeit, sich dieser Militarisierung zu entziehen. Die Jugendlichen werden als Reservoir für Mobilmachungen betrachtet und dazu angespornt, sich illegalen bewaffneten Verbänden anzuschließen.
Das Bildungssystem ist ganz darauf getrimmt, den Schülern eine neue Identität einzupflanzen. Ein Selbstverständnis als Bürger der Ukraine soll ihnen aberzogen werden. Auf diese Weise wurde der Anschluss an Russland vorbereitet. Sie sollen sich als „Patrioten“ der Volksrepubliken verstehen und zugleich als Teil der russischen Welt. „Vaterland im Vaterland“ lautete die entsprechende Parole. Auf diese Weise konnte offenbleiben, auf welchen Raum sich die Forderung nach Bereitschaft zur bewaffneten Verteidigung, die allen Schülern antrainiert wird, konkret bezog.
Sollte es der Ukraine gelingen, die seit mittlerweile zehn Jahren besetzten Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, wird sie es mit einer Generation von Menschen zu tun haben, die in der entscheidenden Phase ihrer politischen Sozialisation nichts anderes als diese Indoktrination erlebt hat. Daher stellt sich die brennende Frage: Wie können diese jungen Menschen wieder für die Ukraine und ihre Gesellschaft gewonnen werden? Wie kann die langjährige ideologische Beeinflussung, die Schaffung eines Feindbilds Ukraine, überwunden werden? Die gleiche Frage stellt sich seit Russlands Großinvasion auch für jene Gebiete, die im Frühjahr 2022 unter Kontrolle der russländischen Armee und der Moskauer Behörden gelangt sind.
Aus dem Russischen von Anselm Bühling, Berlin
Olha Pashkova, PhD, Historikerin, National Defence University of Ukraine, Kiew
[1] Rasporjaženie glavy Doneckoj Narodnoj Respubliki № 252 ob utverždenii programmy “Patriotičeskoe vospitanie detej i molodeži Doneckoj Narodnoj Respubliki“ ot 9.8.2017.
[2] S. Movčan, M. Suljalina, A. Halaj: Osvitnje pole na tymčasovo okupovanych terytorijach Ukrajiny (2014–2019 rr.), S.·40, <www.helsinki.org.ua/wp-content/uploads/2021/02/Osvita_02.pdf>.
[3] Ebd., S. 41.
[4] Olha Pashkova: Use of Historical Science of The Russian Federation in Supporting Armed Aggression against Ukraine, in: Journal of Modern Science, 1/2020, S. 91–104, hier S. 98f.
[5] Prikaz ministerstva molodeži, sporta i turizma Doneckoj Narodnoj Respubliki № 94 ot 22.6.2015. Prikaz ministerstva obrazovanija i nauki Doneckoj Narodnoj Respubliki № 322 ot 17.07.2015 „Koncepcija obučajuščejsja patriotičeskogo vospitanija detej i molodeži Doneckoj Narodnoj Respubliki“.
[6] Prikaz ministerstva obrazovanija i nauki Luganskoj Narodnoj Respubliki № 49-od „O provedenii v 2020 godu goda pamjati i slavy v obrazovatel’nych organizacijach (učreždenijach) Luganskoj Narodnoj Respubliki“ ot 20.1.2020.
[7] Movčan, Suljalina, Osvitnje pole [Fn. 2], S. 43.
[8] Postanovlenie Doneckoj Narodnoj Respubliki № 22-3 „Ob utverždenii Respublikanskoj Programmy patriotičeskogo vospitanija graždan Doneckoj Narodnoj Respubliki na 2020–2022 gody“ ot 30.4.2020.
[9] So eine treffende Wendung von Stanislav Aseev in dem Buch: V izoljacii: sbornik statej. Kyjiv 2018, S. 112. Deutsch unter dem Titel: Stanislaw Assejew: In Isolation. Texte aus dem Donbass. Berlin 2020.
[10] Tak boeviki „vospityvajut“ detej. radiosvoboda.org, 14.5.2019.
[11] Postanovlenie Doneckoj Narodnoj Respubliki № 22-3 „Ob utverždenii respublikanskoj programmy patriotičeskogo vospitanija graždan doneckoj narodnoj respubliki na 2020–2022 gody“ ot 30.4.2020.
[12] Okkupacija RF podrastajuščego pokolenija v ORDLO. Čast’ 1. Militarizacija. lb.ua, 16.8.2021.
[13] K.V. Chrip, N.È. Šed’ko, A.I. Gorelkin (Hg.): Načal’naja voennaja i mediko-sanitarnaja podgotovka: 10–11 kl.: programma dlja obščeobrazovat. organizacij: bazovaja programma. Doneck 2015.
[14] Siehe die Meldungen auf der Seite der Organisation „Spravedlivist’ zaradi myru na Donbasi“, ein Zusammenschlusses mehrerer Menschenrechtsorganisationen, <www.jfp.org.ua/rights/ porushennia/violation_categories/dity-u-zbroinomu-konflikti>.
[15] Postanovlenie Doneckoj Narodnoj Respubliki № 22-3 „Ob utverždenii respublikanskoj programmy patriotičeskogo vospitanija graždan doneckoj narodnoj respubliki na 2020–2022 gody“ ot 30.4.2020
[16] Prikaz Ministerstva obrazovanija i nauki Luganskoj Narodnoj Respubliki № 904-od „Ob utverždenii tipovogo položenija ob organizacii kadetskich (kazač’ich) klassov v obrazovatel’nych organizacijach (učreždenijach) luganskoj narodnoj respubliki“ ot 9.10.2018.
[17] Okkupacija RF podrastajuščego pokolenija v ORDLO [Fn. 12].
[18] <www.facebook.com/denisovaombudsman/posts/449974953150449>.
[19] Okkupacija RF podrastajuščego pokolenija v ORDLO [Fn. 12].
[20] Aseev, V izoljacii [Fn. 9], S. 186‑187.
[21] „Tipovoe položenie ob organizacii kadetskich (kazač’ich) klassov v obrazovatel’nych organizacijach (učreždenijach) luganskoj narodnoj respubliki“ (Prikaz № 904 ot 9.10.2018). – „Tipovye pravila nošenija formennoj odeždy, znakov otličija dlja vospitannikov organizacij so special’nym naimenovaniem – kadetskij korpus, kotorye nachodjatsja v podčinenii ministerstva obrazovanija i nauki luganskoj narodnoj respubliki“ (Prikaz № 1867-od ot 11.11.2019). – Die Internetseite, auf der die Erlasse einsehbar waren, ist nicht mehr zugänglich.
[22] S. Movčan, M. Suljalina, A. Halaj (2020), Osvitnje pole [Fn. 2], S. 43.
[23] <www.facebook.com/denisovaombudsman/posts/449974953150449>.
[24] Podderžka i razvitie kadetskogo komponenta v sisteme obrazovanija luganskoj narodnoj respubliki. Die Internetseite des sogenannten Bildungsministeriums, auf dem diese Information veröffentlicht wurde, ist nicht mehr einzusehen.
[25] Okkupacija RF podrastajuščego pokolenija v ORDLO [Fn. 12].
[26] „Nas ničemu ne učili, srazu brosili na peredok!“ Poobščalsja s studentami iz Donbassa, <www.youtube.com/watch?v=nGOsKuHspkA>.
[27] Strana-agressor osuščestvljaet militarizaciju detej na vremenno okkupirovannych territorijach Doneckoj i Luganskoj oblastej. Mitteilung der ukrainischen Ombudsperson auf Facebook. Die Seite ist nicht mehr einzusehen.
[28] Predstaviteli LNR i RF obsudili v Luganske voprosy podderžki kadetskich korpusov, lug-info.com, 29.3.2022.
[29] Okkupacija RF podrastajuščego pokolenija v ORDLO [Fn. 12].
[30] Prikaz ministerstva molodeži, sporta i turizma doneckoj narodnoj respubliki № 94 ot 22.6.2015, Prikaz ministerstva obrazovanija i nauki doneckoj narodnoj respubliki № 322 ot 17.7.2015 „koncepcija obučajuščejsja patriotičeskogo vospitanija detej i molodeži doneckoj narodnoj respubliki“.
[31] Junye lugančane rasskazali o patriotizme i ljubvi k Rodine, <https://armystandard.ru/news/ 2022218913-FzApU.html>. – Siehe auch: Involvement of children in armed formations during the military conflict in Donbas // Eastern-Russian centre for civic initiatives. Warszawa 2016, S. 13.
[32] Postanovlenie Doneckoj Narodnoj Respubliki № 22-3 „Ob utverždenii respublikanskoj programmy patriotičeskogo vospitanija graždan Doneckoj Narodnoj Respubliki na 2020–2022 gody“ ot 30.4.2020.
[33] Podderžka i razvitie [Fn. 24].
[34] Movčan, Suljalina, Osvitnje pole [Fn. 2], S. 43.
[35] Prikaz ministerstva obrazovanija i nauki Doneckoj Narodnoj Respubliki № 80 -NP „O vnesenii izmenenij v gosudarstvennyj obrazovatel’nyj standart srednego obščego obrazovanija“ ot 23.6.2021.
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