Titelbild Osteuropa 12/2023

Aus Osteuropa 12/2023

Unerwartete Allianzen
Karabach, Gaza und die Folgen

Emil Souleimanov

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Abstract in English

Abstract

Die sicherheitspolitische Lage in Nordwestasien verändert sich dynamisch. Ausdruck und Folge sind der letzte Karabach-Krieg und der Überfall der Hamas auf Israel. Der Südkaukasus und die Levante scheinen weit voneinander entfernt, sind jedoch Teil des gleichen Sicherheitsknotens. Gegen jede kulturalistische Logik arbeiten Aserbaidschan und Israel seit langem eng zusammen, für Armenien ist Iran ein wichtiger Partner. Die Türkei ist der zentrale Verbündete Aserbaidschans, Ankara positioniert sich aber nach einer Phase der Annäherung wieder gegen Israel. Russland hat seine Rolle als Schutzmacht Armeniens aufgegeben, die Beziehungen zu Israel zurückgestuft und arbeitet im Namen des Kampfs gegen die USA immer enger mit dem Iran zusammen. Eskalationsträchtig ist der Konflikt zwischen Aserbaidschan und dem Iran.

(Osteuropa 12/2023, S. 7–16)

Volltext

CC BY-NC-ND

Der militärische Blitzsieg Aserbaidschans in Karabach und der Überfall der Hamas auf Israel haben die sicherheitspolitische Lage in Westasien verändert. Im Südkaukasus ist der Einfluss Russlands zurückgegangen, da die Friedenstruppe, die Moskau nach dem Zweiten Karabach-Krieg im Jahr 2020 auf dem unter karabach-armenischer Kontrolle verbliebenen Gebiet stationiert hatte, nach dem Exodus der armenischen Bevölkerung aus Karabach abziehen muss. Moskau war nicht willens oder unfähig, die Karabach-Armenier zu schützen. Die armenische Gesellschaft ist über das Verhalten der einstigen Schutzmacht zutiefst frustriert und die Regierung in Erevan sucht nach neuen Sicherheitspartnern. Denn Armenien ist mit einem auftrumpfenden Aserbaidschan konfrontiert, das eng mit der Türkei und Israel zusammenarbeitet. Russlands taktischer Rückzug aus dem Südkaukasus hat seine langjährigen Rivalen, die Türkei und den Iran, veranlasst, dort selbstbewusster aufzutreten. In der Türkei haben die Erfolge Aserbaidschans auf dem Schlachtfeld der Idee von der Bruderschaft zweier Turkvölker weiteren Auftrieb verliehen. Genau dies bereitet dem Iran Sorgen, zumal Aserbaidschan auch noch gute Beziehungen zu Israel und den westlichen Staaten pflegt. Die Beziehungen der Türkei zu Israel, die sich unter maßgeblicher vermittelnder Beteiligung Aserbaidschans nach dem Zweiten Karabach-Krieg verbessert hatten,[1] haben inzwischen wieder stark gelitten, da der türkische Präsident Recep Erdoğan Israel wegen des israelischen Militäreinsatzes nach dem Überfall der Hamas auf den Süden des Landes heftig kritisiert. Eine Analyse der grundlegenden Interessen sowie der teils wechselnden, teils stabilen Strategien und Taktiken der Türkei, des Iran und Israels zeigt das Umfeld auf, in dem die beiden südkaukasischen Staaten Armenien und Aserbaidschan sich bewegen.

Die Türkei – engster Verbündeter Aserbaidschans

Die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 eröffnete der aufstrebenden Regionalmacht Türkei ungeahnte Möglichkeiten. Im Südkaukasus und in Zentralasien entstanden fünf unabhängige Turkstaaten, was in Ankara zu einem Aufschwung panturkischer Vorstellungen führte. Die Idee einer Konföderation der Turkstaaten zerschellte jedoch an der politischen Realität. Was blieb, waren vertiefte diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte.[2] Sehr eng entwickelten sich nur die Beziehungen zwischen der Türkei und Aserbaidschan, deren Gesellschaften sich sprachlich und kulturell am nächsten stehen. Die Eliten in Baku sahen die Türkei bereits Anfang der 1990er Jahre als „organischen“ Verbündeten, dessen Unterstützung sie entscheidende Bedeutung für Aserbaidschan beimaßen.[3] Im Ersten Karabach-Krieg (1992–1994) unterstützte die Türkei Aserbaidschan allerdings lediglich diplomatisch und wirtschaftlich. Zu mehr war Ankara nicht bereit, weil es eine direkte militärische Konfrontation mit Russland, der Schutzmacht Armeniens, vermeiden wollte.[4]

Nach der Niederlage Aserbaidschans im ersten Karabach-Krieg intensivierten Ankara und Baku ihre Wirtschaftsbeziehungen. Zentrale Projekte – welche die USA unterstützten und Moskau und Teheran zu verhindern suchten – waren die Baku-Tiflis-Ceyhan-Erdölpipeline sowie die Erdgasleitung Baku–Tbilissi–Erzerum. Beide gingen im Jahr 2006 in Betrieb und ermöglichen es Aserbaidschan, Erdöl und Erdgas aus Vorkommen im Kaspischen Meer unter Umgehung Russlands über Georgien und die Türkei auf westliche Märkte zu bringen. Das zuvor politisch und geographisch isolierte Land verfügt seitdem über eine riesige Einnahmequelle und findet auf der politischen Bühne Gehör.[5]

Militärisch hielt sich die Türkei aber weiter zurück. Zwar sprachen die Präsidenten beider Länder nun immer öfter davon, dass es sich bei Aserbaidschan und der Türkei um „zwei Staaten einer Nation“ handele, doch ein formelles Bündnis verweigerte Ankara Baku.[6] Dies änderte sich erst im Laufe der 2010er Jahre. Noch zu Beginn des Jahrzehnts hatte es Anzeichen gegeben, dass die Türkei und Armenien ihr Verhältnis verbessern,[7] doch bald beherrschten wieder der Streit über die Karabach-Frage und die armenischen Bemühungen um internationale Anerkennung des Völkermords von 1915 die Beziehungen. Die Türkei lieferte gegen Ende des Jahrzehntes immer mehr Waffen an Aserbaidschan und unterstützte das Land mit Militärberatern. Neben Waffen, die Aserbaidschan aus Israel bezogen hatte, war dies von zentraler Bedeutung, als Baku im Herbst 2020 entschied, dass der Zeitpunkt gekommen ist, um den territorialen Status quo von 1994 militärisch zu ändern. Aserbaidschan war den armenischen Truppen im Zweiten Karabach-Krieg deutlich überlegen und stellte nach der Eroberung großer zuvor armenisch gehaltener Gebiete den Vormarsch auf den Hauptort von Bergkarabach erst nach einer politischen Intervention Russlands ein.

Auch danach setzte die Türkei die umfangreiche militärische Unterstützung Aserbaidschans fort. Allein im Jahr 2022 fanden nach Angaben des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums mehr als 20 gemeinsame Militärübungen statt, die „die Interoperabilität im Kampf gewährleisten sollten“.[8]

Der Iran – Interessenkoalition mit Armenien

Ganz anders als die Türkei blickte der Iran auf die Entwicklungen in seiner nördlichen Nachbarschaft. Fast der gesamte Südkaukasus hatte einst zum Persischen Reich gehört, war aber im Verlauf des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in mehreren Kriegen an das Russische Reich gefallen. Der Zerfall der Sowjetunion weckte die Hoffnung, den Einfluss in diesem Raum vergrößern zu können. Größer als diese vagen Hoffnungen waren jedoch die Sorgen: In den im Nordwesten des Iran gelegenen Verwaltungsregionen Westaserbaidschan (Azarbaidschan-e Gharbi) und Ostaserbaidschan (Azarbaidschan-e Sharqi) leben mehr als 20 Millionen turksprachige Menschen, und Teheran fürchtete die Entstehung einer vom Vorbild Aserbaidschans und den panturkischen Ideen inspirierten, von äußeren Mächten unterstützten separatistischen Bewegung. Diese Sorge ist in Teheraner Sicherheitskreisen bis heute verbreitet.[9] Die immer engeren Beziehungen zwischen Baku und Ankara sowie das gute Verhältnis Aserbaidschans zu Irans „Hauptfeinden“ – den USA und Israel – haben die Bedenken sogar noch verstärkt.[10]

Dies führte dazu, dass sich die schiitische Theokratie im Iran im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Karabach auf die Seite des christlichen Armenien stellte. Gemeinsam mit Russland legte der Iran der Erschließung der fossilen Rohstoffe im Kaspischen Meer durch Aserbaidschan und deren Export nach Westen Steine in den Weg, um ein starke westliche Präsenz an seiner Nordwestflanke zu verhindern.[11]

Einfluss auf Aserbaidschan selbst konnte der Iran kaum nehmen. Die Bevölkerung dort ist zwar formal wie die des Iran mehrheitlich schiitisch. Aber in kaum einem muslimischen Land spielt die Religion eine so geringe Rolle wie in Aserbaidschan. Die staatstragende Ideologie des Landes ist ein säkularer ethnischer Nationalismus.[12] Es gibt lediglich einige wenig einflussreiche schiitische Geistliche, die die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Teheraner Regimes teilen. Sie haben eine Hochburg in Nardardan auf der Halbinsel Abşeron, wo es im Jahr 2015 zu Unruhen kam, die von vielen in Zusammenhang mit dem Einfluss des Iran gesehen werden.[13] Noch erfolgloser blieb der nur schwer nachweisbare Versuch des Iran, bei der iranischsprachigen, auf kulturelle Autonomie bedachten, sich aber von politischen Forderungen fernhaltenden Minderheit der Talyschen im Süden Aserbaidschans separatistische Bestrebungen zu wecken.[14]

Da Teheran politisch wenig erreichte und nicht gewillt war, militärisch vorzugehen, verließ es sich weitgehend darauf, dass Moskau den Status quo im Südkaukasus aufrechterhielt.[15] Dies ist heute allerdings nicht mehr der Fall. Bereits während des Zweiten Karabach-Kriegs im Jahr 2020 hat Moskau nur noch den vollständigen Sieg Aserbaidschans verhindert. Teheran widersprach zwar nicht dem Anspruch Aserbaidschans auf Wiederherstellung seiner territorialen Integrität, fürchtete nun aber eine dramatische Verschiebung des regionalen Kräfteverhältnisses zugunsten Bakus.[16] Je mehr der Einfluss Russlands schwindet und je selbstbewusster Aserbaidschan und die Türkei auftreten, desto stärker sieht die Islamische Republik sich genötigt, dem mit mehr Einsatz als bislang entgegenzuwirken.

Daher stiegen die Spannungen zwischen Baku und Teheran im Jahr 2022 massiv an. Beide Seiten gaben die langjährige Zurückhaltung auf; mehr oder minder deutlich formulierte Ansprüche auf Gebiete des Nachbarlands werden neuerdings auch öffentlich erhoben – offensichtlich mit Duldung höchster politischer Kreise. So durfte der seit vielen Jahren in den USA lebende und von Baku mit Einreiseverbot belegte Anführer einer angeblichen „Südaserbaidschanischen Bewegung des nationalen Erwachens“ plötzlich in den aserbaidschanischen Medien sprechen. Präsident Alijew drückte sich erwartbar vorsichtiger aus, erklärte aber in einer Rede vom 21. Oktober 2022: „Die Sicherheit, die Rechte und das Wohlbefinden der Aserbaidschaner außerhalb Aserbaidschans sind von größtem Interesse für uns.“[17]

Besonders brisant ist die Forderung Bakus, dass im Süden Armeniens entlang der Grenze zum Iran ein exterritorialer Korridor errichtet werden müsse, der das Kernland von Aserbaidschan mit der an der türkischen Grenze gelegenen Exklave Nachitschewan verbindet.[18] Diese hat den Iran im Jahr 2022 zu einer Machtdemonstration veranlasst. Teheran hielt am Grenzfluss Aras mehrere Militärübungen unter Beteiligung auch der Islamischen Revolutionsgarden ab, bei denen nicht zuletzt die Überquerung des Flusses geübt wurde. Im Dezember 2022 antworteten Aserbaidschan und die Türkei mit einem ähnlichen Manöver am nördlichen Ufer des Aras.[19]

In der südarmenischen Provinz Syunik, auf die der aserbaidschanische Präsident in jüngster Zeit immer wieder in historischen Andeutungen Anspruch erhebt, hat der Iran ein Konsulat eröffnet. Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian wiederum betonte bei einem Besuch vor Ort die Bedeutung der territorialen Integrität Armeniens.[20]

Ausdruck dieser Spannungen ist auch ein bewaffneter Angriff auf die aserbaidschanische Botschaft in Teheran im Januar 2023, bei dem der Sicherheitsbeauftragte der Botschaft ums Leben kam. Hochrangige Beamte aus Baku beschuldigten Teheran implizit, diesen Angriff zwecks Einschüchterung des Nachbarlands zugelassen zu haben. Kurz darauf wies Aserbaidschan ohne Nennung von Gründen vier iranische Diplomaten aus, Teheran reagierte symmetrisch.[21] 32 Abgeordnete der 120 Mitglieder umfassenden israelischen Knesset gossen Anfang Mai 2023 zusätzlich Öl ins Feuer, als sie am Vortag einer Reise des israelischen Außenministers Eli Cohen nach Baku einen Brief unterzeichneten, in dem sie nationale Bestrebungen der aserbaidschanischen Minderheit im Iran unterstützen.[22]

Israel – Interessenkoalition mit Aserbaidschan

Israel erkannte Ende Dezember 1991 als zweiter Staat weltweit die acht Wochen zuvor deklarierte Unabhängigkeit Aserbaidschans an. Nur die Türkei hatte diesen Schritt bereits im November getan. Im April 1992 nahmen Baku und Jerusalem diplomatische Beziehungen auf.

Ein wichtiges Element der Beziehungen ist die Darstellung Aserbaidschans als muslimisches Land ohne antisemitische Geschichte. Dafür verweisen Baku und Jerusalem nicht zuletzt auf die Bergjuden, deren Heimat an der Westküste des Kaspischen Meers im Norden Aserbaidschans und im Süden der zu Russland gehörenden Republik Dagestan liegt und die Judäo-Tatisch, eine südwestiranische Sprache mit hebräischen und aramäischen Anteilen, sprechen. Trotz einer überwiegend wirtschaftlich motivierten großen Auswanderung nach Israel, Russland und in die USA leben heute in Aserbaidschan neben georgischen und aschkenasischen Juden noch rund 30 000 Bergjuden. In keinem anderen muslimischen Land gibt es eine so große jüdische Gemeinschaft.

Zweifellos wichtiger als dieser Faktor sind für die engen Beziehungen zwischen Israel und Aserbaidschan jedoch kompatible strategische Ziele. Israel sieht angesichts seiner schwierigen Beziehungen zu den arabischen Ölstaaten Aserbaidschan als bevorzugten Lieferanten. Derzeit entfallen über 40 Prozent des israelischen Ölverbrauchs auf Importe aus Aserbaidschan. Sie werden nach dem Transport über die BTC-Pipeline vom türkischen Ceyhan aus verschifft.[23]

Noch wichtiger ist das gemeinsame Interesse beider Staaten an einer Eindämmung des Iran. Es gibt Hinweise auf eine enge nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zwischen Baku und Jerusalem, bei der die Nähe zur iranischen Grenze eine wichtige Rolle für Israel spielen könnte.[24] Insbesondere in Teheran ist man davon überzeugt, dass es diese gegen den Iran gerichtete Zusammenarbeit gibt und beschuldigt Baku der Kollaboration mit den „Zionisten“.

Zum Ausdruck kommen die zunehmenden Spannungen zwischen Baku und Teheran bei gleichzeitiger weiterer Vertiefung der Beziehungen zwischen Baku und Jerusalem in dem im November 2022 nach dreißigjährigem Zögern gefassten Beschluss Aserbaidschans, als erstes muslimisches Land in Israel eine Botschaft zu eröffnen.[25] Ende April 2023 trat der zuvor als stellvertretender Bildungsminister fungierende Mukhtar Mammadov in Tel Aviv sein Amt an. Die Reaktion aus Teheran folgte prompt: Das Parlament verabschiedete eine Erklärung, in der es heißt: „Die muslimische Welt wird sie [die Aserbaidschaner] als Komplizen des zionistischen Regimes bei der Ermordung und anderen Verbrechen gegen die unterdrückten Palästinenser betrachten.“[26] Der Sprecher des iranischen Außenministeriums Nasser Kanaani erklärte, der Iran werde sich „nicht gleichgültig verhalten“ angesichts der von Israel und Aserbaidschan gegen den Iran errichteten „gemeinsamen Front“.[27] Auch Hamas-Führer Ismail Radwan forderte Aserbaidschan auf, seine „auf Kosten der Rechte der Palästinenser gehende Unterstützung für das zionistische Gebilde“ rückgängig zu machen.[28]

Im Gegenzug kann Aserbaidschan seit vielen Jahren in großem Stil moderne Waffen und militärische Ausrüstung aus Israel beziehen. Dem Stockholm International Peace Research Institute zufolge kamen 27 Prozent der aserbaidschanischen Rüstungsimporte zwischen 2011 und 2020 aus Israel. Auf die Periode 2016–2020 gerechnet waren es sogar 70 Prozent; umgekehrt entsprach dies einem Anteil von 17 Prozent an allen israelischen Rüstungsexporten in diesem Zeitraum.[29] Insbesondere Angriffsdrohnen vom Typ IAI Harop, die über dem Zielgebiet kreisen und nach Aufspüren eines Ziels eigenständig einen Angriff einleiten (loitering munition), Hermes-900-Aufklärungsdrohnen sowie Boden-Boden-Raketen vom Typ LORA hat Baku aus Israel bezogen. Diese Waffen trugen entscheidend zur Überlegenheit der aserbaidschanischen Armee in dem von ihr begonnenen 44-Tage-Krieg vom Herbst 2020 bei.[30]

Am Vorabend der aserbaidschanischen Militäroperation vom September 2023, die das Ende von Bergkarabach besiegelte, nahmen Rüstungsimporte aus Israel deutlich zu.[31] Entsprechend groß war die Empörung in Armenien und in der armenischen Diaspora.[32] Umgekehrt wird in Aserbaidschan die Freude über den Sieg und der Dank für die Rolle Israels offen zur Schau getragen. In mehreren aserbaidschanischen Städten wurden aus Anlass des militärischen Siegs, der zum Exodus der 120 000 Armenier aus Bergkarabach führte, vier Flaggen gehisst: die aserbaidschanische, die türkische, die pakistanische und die israelische.

Das Potential der Verbindung zwischen Aserbaidschan und Israel war jedoch noch viel größer. Als Partner sowohl Jerusalems als auch Ankaras unternahm Baku große Anstrengungen, die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel zu verbessern.[33] Eine Einigung zwischen dem türkischen Präsidenten Erdoğan und Israels Ministerpräsident Netanjahu hätte die Lage in der gesamten Region von Syrien über den Irak bis zum Südkaukasus ändern können. Insbesondere hätte sie – begleitet von der Annäherung zwischen Israel und einigen arabischen Staaten im Rahmen der von Israel mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain im September 2020 unterzeichneten Abraham Accords – den Einfluss des Iran und seiner Satelliten wie der Hamas geschwächt.[34] Israel wie Aserbaidschan hätten enorme sicherheitspolitische und wirtschaftliche Vorteile aus einem solchen Dreierbündnis mit der Türkei gezogen. Die Reaktion des türkischen Präsidenten auf das Massaker der Hamas im Süden Israels am 7. Oktober 2023 hat diese Hoffnung zunichte gemacht. Erdoğan profiliert sich als scharfer Kritiker der von Israel als Reaktion auf den Überfall eingeleiteten Militäraktion im Gaza-Streifen, während Baku laviert.[35] Bei den beiden Abstimmungen in der UN-Vollversammlung über Resolutionen, die einen humanitären Waffenstillstand im Gaza-Streifen forderten, aber einer symbolischen Verurteilung Israels dienten, stimmte Aserbaidschan Ende Oktober und Mitte Dezember 2023 mit Ja.

Ausblick

Die Militäroperation Aserbaidschans in Karabach Ende September 2023 und der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben die Sicherheitslage in der Region massiv verändert. Der Sieg Aserbaidschans, der Abzug der russländischen Truppen aus Bergkarabach, die Ansprüche Bakus auf einen extraterritorialen Verbindungskorridor nach Westen haben im Iran erhebliche Sorgen ausgelöst.

Hinzu kommt, dass der aserbaidschanische Präsident begonnen hat, Armenien gelegentlich als „West-Aserbaidschan“ zu bezeichnen.[36] Seit längerem halten aserbaidschanische Truppen kleinere Gebiete auf armenischem Territorium entlang der gemeinsamen Grenze besetzt. Moskaus mangelnde Unterstützung wird in Armenien immer offener kritisiert, in der Folge schwindet Russlands Einfluss im Südkaukasus immer weiter. Die Regierung in Erevan überlegt laut, anstelle Russlands auf die USA, Frankreich oder auch Indien als strategische Partner zu setzen.[37] Gleichzeitig ist aber auch das Verhältnis zwischen Armenien und dem Iran enger geworden.

Wie fragil die Lage ist, zeigen Stimmen aus dem Iran, die fordern, Teheran müsse offensiver auftreten, um Aserbaidschan von einem Überfall auf Armenien abzuhalten.[38] Sollte die Konfrontation zwischen dem Iran und Israel eskalieren, könnte sich das theokratische Regime in Teheran dazu veranlasst sehen, einen militärischen Schlag gegen Aserbaidschan zu führen, um Entschlossenheit zu demonstrieren. Aserbaidschan wäre als Land mit nur knapp zehn Millionen Einwohnern, das in keinem Militärbündnis Mitglied ist und nur über eine mäßig moderne Armee verfügt, ein „weiches Ziel“.

Dies bedeutet auch, dass die Wahrscheinlichkeit eines aserbaidschanischen Angriffs auf Armenien gesunken ist. Gleichzeitig wird Baku sich wohl von Israel distanzieren. Je länger die bewaffnete Auseinandersetzung im Gaza-Streifen andauert und je mehr sie sich ausweitet, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Israel weiter in großem Maße Waffen an Aserbaidschan liefert. Im Gegenzug könnte Israel seinen privilegierten Zugang zu aserbaidschanischem Territorium zur Überwachung von Aktivitäten des Iran verlieren. Erste Anzeichen, dass Baku sich auf eine neue Lage einstellt, gibt es bereits. Nach der starken Zunahme der Spannungen zwischen Teheran und Aserbaidschan bis ins Frühjahr 2023 hat Baku nun zwecks Entspannung vorgeschlagen, die Exklave Nachitschewan nicht über einen Korridor durch Südarmenien, sondern über eine Straße durch den Nordiran an Aserbaidschan anzubinden.[39] Auch die jüngsten Anzeichen einer Entspannung zwischen Baku und Erevan sind in diesem Zusammenhang zu sehen.[40] Gleichzeitig ist Aserbaidschan weiter daran interessiert, dass sich die Beziehungen zwischen Ankara und Jerusalem wieder verbessern. Sollte dies nicht gelingen, wird Baku versuchen, unabhängig vom türkisch-israelischen Verhältnis und den Auswirkungen auf das eigene Verhältnis zu Israel, das informelle Militärbündnis mit der Türkei zu formalisieren.

Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin

 


[1]   Oğul Tuna, Gökhan Çınkara: The Potential for Azerbaijani Mediation of Turkish-Israeli Relations. The Washington Institute, 20.7.2021.

[2]   Joshua W. Walker: Turkey and the Post-Soviet States: A New Way Forward. Insight Turkey, 4/2005, S. 13–19. – Rainer Freitag-Wirminghaus: Vom Panturkismus zum Pragmatismus. Die Türkei und Zentralasien, in: Osteuropa, 8–9/2007, S. 339–356.

[3]   Emil Souleimanov: Understanding ethnopolitical conflict: Karabakh, South Ossetia, and Abkhazia wars reconsidered. Basingstoke 2013, S. 136–137.

[4]   Svante E. Cornell: Turkey and the Conflict in Nagorno Karabakh: A Delicate Balance, in: Middle Eastern Studies, 1/1998, S. 51–72.

[5]   Gawdat Bahgat: Pipeline-Diplomacy: The Geopolitics of the Caspian Sea Region, in: International Studies Perspectives, 3/2002, S. 310–327. – Roland Götz: Erdöl und Erdgas im Südkaukasus. Binnenversorgung, Export, Transit, in: Osteuropa, 7–10/2015, S. 365–382.

[6]   Murad Ismayilov, Norman A. Graham (Hg.): Turkish-Azerbaijani Relations: One Nation –Two States? London 2016.

[7]   Aschot L. Manutscharjan: Annäherung ohne Versöhnung. Bewegung im armenisch-türkischen Verhältnis, in: Osteuropa, 6/2010, S. 99–116.

[8]   Javid Valiyev: Azerbaijan-Türkiye military cooperation: one nation, one army. Air Center, 23. 12.2022, <https://aircenter.az/ en/single/azerbaijan-turkiye-military-cooperation-one-nation-one-army-1093>. – Ministry of Defense of the Republic of Azerbaijan: Activities of Azerbaijani and Turkish servicemen were highly evaluated at Mustafa Kemal Ataturk-2023 joint tactical exercises – VIDEO, 24.10.2023, <https://mod.gov.az/en/news/activities-of-azerbaijani-and-turkish-servicemen-were-highly-evaluated-at-mustafa-kemal-ataturk-2023-joint-tac-49885.html>.

[9]   Kaweh Sadegh-Zadeh: Iran’s Strategy in the South Caucasus, in: Caucasian Review of International Affairs, 1/2008, S. 35–41. – Josef Kraus, Emil Souleimanov: A Failed Comeback? Understanding Iranian Policies in the South Caucasus, in: Journal of Balkan and Near Eastern Studies, 5/2016, S. 448–464.

[10]  Vali Golmohammadi, Hamidreza Azizi: The South Caucasus in the Regionalism of Iran’s Foreign Policy, in: Central Eurasia Studies, 2/2022, S. 281–305.

[11] Kamyar Mehdiyoun: Ownership of Oil and Gas Resources in the Caspian Sea, in: American Journal of International Law, 1/2000, S. 179–189. – Maya Ehrmann, Josef Kraus, Emil Souleimanov: The Iran-Israel-Azerbaijan Triangle: Implications on Regional Security, in: Revista Estudios Políticos, 7/2013, S. 215–228.

[12]  Raoul Motika: Islam in Post-Soviet Aserbaidschan, in: Archives de sciences sociales des religions 115/2001, S. 111–124. – Sofie Bedford, Emil Souliemanov: Islam im postsowjetischen Kaukasus. Von Sunniten, Schiiten, Sufis und Salafisten, in: Osteuropa, 7–10/2015, S. 71–92.

[13]  Eldar Mamedov: Azerbaijan: Examining the Source of Discontent in Nardaran, Eurasianet, 8.12.2015. – Emil Aslan Souleimanov: Azerbaijan, islamism, and unrest in Nardaran. The Central Asia-Caucasus Analyst, 27.12.2015.

[14]  Idrak Abbasov: Ethnic minority builds ties with Iran while declaring loyalty to government in Baku. Institute for War & Peace Reporting, 12.7.2007.

[15]  Alexander Yeo, Emil A. Souleimanov: Iran-Azerbaijan Tensions and the Tehran Embassy Attack. The Central Asia-Caucasus Analyst, 8.5.2023.

[16]  Elis Gjevori: Iran: What are the implications of Azerbaijan’s victory over Armenia? Middle East Eye, 11.10.2023.

[17]  Via official media, Iran and Azerbaijan issue escalating threats. Eurasianet.org, 9.11.2022.

[18]  Siehe dazu die in Osteuropa, 1–2/2023 dokumentierte und annotierte Rede des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew, S. 47–52.

[19] Azerbaijan and Turkey in joint military exercises on Iranian border. Eurasianet, 7.12.2022.

[20]  Analysis: Will Azerbaijan-Iran tensions lead to war? Al Jazeera, 8.4.2023.

[21]  Iran expelled four Azerbaijan diplomats in tit-for-tat move. Reuters, 5.5.2023.

[22]  Israeli MKs, Azeris in Iran and the complexities of the Middle East – analysis. The Jerusalem Post, 2.5.2023.

[23]  Azerbaijan’s Offensive on Nagorno-Karabakh Will Impact Israel’s Diplomacy with Iran. Haaretz, 1.10.2023.

[24]  Israel’s defense chief travels to Azerbaijan, reaffirming shared opposition to Iran. AP News, 13.7.2023.

[25]  Azerbaijan announces appointment of first-ever ambassador to Israel. The Times if Israel, 30.12.2022.

[26]  Analysis: Will Azerbaijan-Iran tensions lead to war? Al Jazeera, 8.4.2023.

[27]  Iran says „won’t be indifferent“ to Israel’s „united front“ with Azerbaijan. Anadolu Agency, 31.3.2023.

[28]  Hamas official urges Azerbaijan to stop normalisation with Israel. Middle East Monitor, 31.3.2023.

[29]  Pieter D. Wezeman, Alexandra Kuimova, Jordan Smith: Arms transfers to conflict zones: The case of Nagorno-Karabakh. <www.sipri.org/commentary/topical-backgrounder/2021/arms-transfers-conflict-zones-case-nagorno-karabakh>.

[30]  Brenda Shaffer: Israel’s Role in the Second Armenia-Azerbaijan War and Its Implications for the Future. The Central Asia-Caucasus Analyst, 9. 9.2022, <www.cacianalyst.org/resources/pdf/220912Shaffer.pdf>.

[31]  92 Flights From Israeli Base Reveal Arms Exports to Azerbaijan. Haaretz, 6.3.2023. – Israel’s Fingerprints Are All Over the Ethnic Cleansing in Nagorno-Karabakh. Haaretz, 27.9.2023. – Empörte Zurückweisung des aserbaidschanischen Botschafters Muhtar Mammadov: A Few Things Haaretz’s Editorial Forgot to Mention Regarding Nagorno-Karabakh. Haaretz, 1.10.2023.

[32]  Siehe exemplarisch Andrew Demirdijan: Israel Complicit in Artsakh War, <https://keghart.org/ demirdjian-israel-complicit-artsakh>.

[33]  Mutual Friends: Azerbaijan Seeks to Promote Reconciliation Between Israel and Turkey. Caspian Policy Center, 24.12.2020.

[34]  How Turkey-Israel reconciliation will reshape the Middle East. The Hill, 9.9.2023.

[35]  Azerbaijan walks fine line as Turkey-Israel relations deteriorate. Eurasianet, 9.11.2023. – Gaza War Resonates in the South Caucasus. Institute for War and Peace Reporting, 31.10.2023. – Azerbaijan Learns Important Lessons From Israel-Hamas War. Eurasia Daily Monitor, 15.11.2023.

[36]  Aliyev says Yeveran historically Azerbaijani. OC Media, 25.12.2022.

[37]  Armenian PM sees no advantage in Russian troop presence as relations with Moscow deteriorate further. Eurasianet, 31.10.2023.

[38]  Conflict in the Caucasus may not be over. Responsible Statecraft, 11.10.2023.

[39]  Azerbaijan And Iran Relations Warm As Tensions Ease. Oilprice.com, 11.10.2023.

[40]  Armenian Prime Minister Says Baku, Yerevan „Still Speaking Different Diplomatic Languages“ In Peace Talks. RFE/RL Armenian Service, 18.11.2023.

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