Titelbild Osteuropa 3-4/2023

Aus Osteuropa, 3-4/2023

Ein Gespenst geht um …
Russlands Ukrainekrieg als Afghanistan 2.0

Ulrich Schmid

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Abstract in English

Abstract

Zwei Jahre nach der Niederlage im Afghanistankrieg zerfiel die multinationale Sowjetunion. Auch Russland ist ein Vielvölkerstaat. Was mit ihm nach einer möglichen militärischen Niederlage in der Ukraine passiert, vermag niemand zu sagen. Moskau hat zentrale Lektionen des Afghanistan-Fiaskos nicht verstanden und wiederholt in der Ukraine alte Fehler. Es finden sich zahlreiche Parallelen, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen. Sie lassen für Putins Russland nichts Gutes erahnen.

(Osteuropa, 3-4/2023, S. 13–25)

Volltext

Am Montag, den 13. Februar 1989 zog die Sowjetunion ihre letzten Truppen aus Kabul ab. Der Großteil der Soldaten hatte das Land bereits verlassen, doch für die Medien aus aller Welt paradierten auf dem Rollfeld des Flughafens 15 Mann eines Elite-Fallschirmjägerregiments. In tadelloser Haltung marschierten sie heran, reihten sich auf, ließen stoisch ein paar Ansprachen über sich ergehen und erklommen dann im Gleichschritt eine viermotorige Antonov, die alsbald abhob. Ein freundliches Winken des Schützen im Heck, ein kurzes Wippen mit den Flügeln – das war das Ende einer Intervention, die in Afghanistan anderthalb Millionen Menschen das Leben gekostet und sieben Millionen zu Flüchtlingen gemacht hatte. Kaum war die Maschine am Horizont entschwunden, erschien ein Regiment afghanischer Soldaten. Die neuen Herren im Land gingen in Schlangenlinien, ein paar verloren den Anschluss an die Hauptgruppe. Die Uniformen saßen schief, kaum einer trug Gewehr oder Mütze korrekt. „Das geht nicht gut!“, sagte ein finnischer Kollege.[1]

Es ging nicht gut. Mohammed Najibullah, der letzte Statthalter Moskaus in Afghanistan, hielt sich mit Mühe bis 1992, vier Jahre später wurde er von den Taliban kastriert, getötet und durch die Straßen Kabuls geschleift. Das Ende der Sowjetunion kam noch früher. Knapp zweieinhalb Jahre später, nach dem Augustputsch 1991, war sie faktisch schon zerfallen. Sie kollabierte nicht nur wegen der Invasion in Afghanistan. Wirtschaftlich lag sie schon lange am Boden, erschöpft vom Widersinn von Plan, Zentralismus und Kontrolle und paralysiert durch den NATO-Doppelbeschluss, der die Rüstungsausgaben in die Höhe trieb. Michail Gorbačevs Reformen, Glasnost’ und Perestrojka, zersetzten sie weiter. Die Macht des Kreml schmolz, der Mut der Bürger wuchs mit ihrem Unmut. Der Staat verlor die Kontrolle über die Medien, der Ruf nach Demokratie wurde lauter. In den Republiken brodelte es, in Tbilisi und Baku, in Vilnius und Riga ging Moskau mit Gewalt gegen die Unabhängigkeitsbewegungen vor. Im Grunde war die Union erledigt, das Abenteuer am Hindukusch versetzte ihr nur noch den Todesstoß.

Droht Russland heute dasselbe Schicksal? Wird Russland zerfallen wie die Sowjetunion, wenn es den Krieg gegen die Ukraine verliert? Wird Putin nach einer Niederlage stürzen wie einst Gorbačev? Niemand kann es sagen. Doch es ist verlockend, nach Analogien zu suchen, und tatsächlich finden sich schon jetzt, knapp anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn, Parallelen, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, die für Putins Russland nichts Gutes erahnen lassen.

Alte Fehler

Moskau hat zentrale Lektionen des Afghanistan-Fiaskos nicht verstanden und wiederholt in der Ukraine alte Fehler. Russland handelte in Afghanistan imperialistisch, völkerrechtswidrig und verbrecherisch; in der Ukraine genauso. Die Kommunisten rechtfertigten 1979 ihre Aggression mit den Hinweisen, man müsse die afghanische Regierung „stabilisieren“ und eine weitere islamische Revolution wie im Iran verhindern. Das war nicht ungeschickt argumentiert. Auch dem Westen saß der Schock über die eben erfolgte Absetzung des Schahs und die Machtergreifung Ajatollah Chomeinis noch in den Knochen. Viele begrüßten im Stillen „Maßnahmen gegen die Ausbreitung des fundamentalistischen Islams“, egal, von wem sie kamen und auch dann, wenn sie gegen das Völkerrecht verstießen. Den Amerikanern waren Interventionen aus primär ideologischen Gründen auch nicht fremd, man denke an den Boxer-Aufstand in China 1900, an den Coup im Iran 1953, der den Schah an die Macht brachte, an die von der CIA unterstützte Entfernung des Washington nicht genehmen guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz 1954 oder an die Invasion in der Schweinebucht 1961.

Von großem Gewicht war die latente Sympathie des Westens für das sowjetische Vorgehen allerdings nicht. Es dominierte das Blockdenken des Ost-West-Konflikts. Der Islamismus wurde damals von den meisten Akteuren noch als die geringere Gefahr angesehen als der sowjetische Kommunismus. Die Mudschahidin waren zumindest in ihren Anfangsjahren noch eine heterogene Kraft, in der Königstreue ebenso vertreten waren wie Islamisten. Sie wurden lange Jahre massiv unterstützt und genossen selbst in Europa Respekt. Missverständnisse blieben nicht aus. An einem Vortrag in Zürich erkundigte sich ein Herr, wie man diesen „wackeren Demokraten“ am Hindukusch helfen könne.

Rechtlich gesehen ist der Überfall auf die Ukraine genauso unhaltbar und aberwitzig wie die sowjetische Intervention in Afghanistan.[2] Russland ist der Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Das Land hat den Sitz der UdSSR im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernommen. Damit ist Moskau wie jedes andere UNO-Mitglied gehalten, das Völkerrecht und die Menschenrechte zu respektieren. Die Versuche Putins, die Invasion mit Hinweis auf das „Selbstverteidigungsrecht“ der angeblich bedrohten „Volksrepubliken“ im Donbass zu erklären, sind grotesk. Russland hat einen kleineren, schwächeren Nachbarn überfallen, einen Nachbarn notabene, der im Besitz sowjetischer Atomwaffen war und diese aus freien Stücken – wenn auch gedrängt von Washington – an Moskau abgegeben hat. Im Budapester Memorandum von 1994 verpflichteten sich die Signatarstaaten Russland, Großbritannien und die USA zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Souveränität und territorialen Integrität. Russland verhöhnt also mit dem Einmarsch in die Ukraine nicht nur die internationale Rechtsordnung, sondern auch sich selbst.

Glaubt man Putin, wehrt sich Russland in der Ukraine gegen die westlichen Ambitionen zur Errichtung einer „Weltherrschaft“ und gegen die Zumutung des amerikanischen „Exzeptionalismus“, der angeblich für sich Rechte einfordert, die er anderen nicht zugesteht. Das ist eine leere Behauptung. In Wahrheit ging es den Kommunisten in Afghanistan und geht es Putin heute ausschließlich um die Ausweitung und Konsolidierung des Moskauer Einflussbereichs. Manche Sowjetgeneräle wären in den 1980er Jahren gerne über Afghanistan hinaus bis zum Indischen Ozean vorgestoßen. Dass russische Kriegshetzer heute am liebsten nicht nur den Donbass, sondern die ganze Ukraine schlucken möchten, ist evident.

Zum Größenwahn kommt die Angst, und die ist wichtiger als der Traum von der Weltmacht. Die Moskauer Kommunisten hatten Ende der 1970er Jahre sehr wohl die Sorge, dass sich die muslimische Bevölkerung der südlichen Sowjetrepubliken vom Islamismus infizieren lassen könnte. Mit dem Einmarsch wollte man diese Entwicklung stoppen. Die Ukraine wiederum hat sich seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1991 von einem ganz anderen Virus anstecken lassen. Freiheit, Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Risikofreude, Individualismus, Selbstverantwortung, kurz: die „Soft Power“ des Westens findet Anklang, vor allem bei der Jugend. Die „Russische Welt“, die außer Gewalt und Drohung kaum etwas zu bieten hat, ist out, sie wird verabscheut und verlacht. Für den Machthaber im Kreml aber ist eine offene Gesellschaft eine mindestens so große Gefahr wie der Islamismus – die größere, denn die Verlockung der Freiheit gibt es in islamistischen Gesellschaften nicht. In diesem Sinne ist das heutige Russland den islamistischen Diktaturen näher. Putin braucht sich nicht zu verbiegen, um das Denken der Mullahs in Teheran zu verstehen.

Die internationale Gemeinschaft war über das Vorgehen Moskaus in Afghanistan tief beunruhigt, die muslimischen Staaten waren alarmiert. War dies nun eine neue Form des „Great Game“ aus dem 19. Jahrhundert, als sich Großbritannien und das zaristische Russland um Einflusszonen in Persien, Afghanistan, Mittelasien und Tibet stritten? Tatsächlich verschärfte Moskau den Kalten Krieg und bestätigte damit den von westlichen rechten Politikern immer wieder postulierten „aggressiven Charakter“ der Sowjetunion.

Und doch war Moskau damals nicht so isoliert wie heute. In der UNO stimmten im Januar 1980 17 Staaten der kommunistischen Welt gegen eine Verurteilung der UdSSR: der Warschauer Pakt sowie abhängige Satelliten in Afrika und Asien wie Angola, Mosambik, Äthiopien, Kuba und Vietnam. Heute ist das Häufchen der Moskautreuen auf sechs Staaten geschrumpft: Belarus, Eritrea, Mali, Nicaragua, Nordkorea und Syrien.[3]

Die Ukrainer kämpfen wie einst die Mudschahidin für ihre Heimat, für ihre Freiheit und Selbstbestimmung. Die Russen sterben in der Fremde für nebulöse Floskeln. Die Mudschahidin wurden unterschätzt, die Ukrainer nicht weniger. Als der Kreml realisierte, dass man den Afghanen militärisch nicht beikam, entfachte er einen skrupellosen Feldzug gegen die Zivilbevölkerung. In der Ukraine ist es dasselbe. Wieder sind riesige Fluchtbewegungen die Folge. Moskau verlor damals und verliert heute Menschen, Material und Moral in fürchterlicher Kadenz. Junge Menschen werden zwangsrekrutiert und praktisch ohne militärische Ausbildung ins Gefecht geführt. Moskau belügt seine Soldaten und füttert sie mit falschen Informationen, die Verachtung für die eigenen Soldaten kennt keine Grenzen. Arme, Ungebildete und Angehörige ethnischer Minderheiten wie Burjaten oder Nordkaukasier waren damals und sind heute das Kanonenfutter.[4] Und wie in Afghanistan gestattet Moskau seinen Soldaten Akte unfassbarer Brutalität, ja scheint sie dazu zu ermuntern. Mitleid wird als Schwäche betrachtet. Unterschätzt wurde und wird die Solidarität des Westens. Die Hilfe für die Mudschahidin lief schleppend an, aber nach ein paar Jahren hatten die USA zusammen mit Pakistan und den Saudis effiziente Nachschubnetze aufgebaut. Moskau hingegen schickte nie genügend Soldaten ins Land, um die Mudschahidin zu besiegen. Die verbündete afghanische Armee konnte nie genügend Männer aus dem eigenen Land rekrutieren, die bereit waren, gegen die Mudschahidin zu kämpfen. Streng genommen hatte die Sowjetunion nie eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Niemand hätte Derartiges in den 1980er Jahren gesagt. Möglich, dass man dereinst über Russlands Krieg in der Ukraine dasselbe Urteil fällen wird.

Verschwörungstheoretiker sehen weitere Parallelen. Für die USA, sagen sie, sei der Afghanistankrieg eine gute Gelegenheit gewesen, den Erzfeind Sowjetunion zu schwächen, ohne eigene Soldaten opfern zu müssen – genau so sei es doch auch mit dem Krieg in der Ukraine. Zum Kronzeugen für die amerikanische Niedertracht wird die Rüstungsindustrie gemacht, die hocherfreut sei über die Möglichkeit, neue Waffen zu testen. Diese These ist so lange Unsinn, wie sie insinuiert, die Amerikaner hätten diesen Konflikt angezettelt, um Russland in die Knie zu zwingen. Das aber ist Putins Rhetorik. Den Krieg hat allein Moskau begonnen, ohne jede Not. Der Westen hat kein Interesse daran, Russland anzugreifen. Dass dem einen oder anderen Boss im amerikanischen Rüstungssektor die Kriege Moskaus nicht ungelegen kommen, darf man annehmen. Sensationell ist es nicht.

Ein eminenter Vorteil für den Westen war: Panzer nützten den Mudschahidin nichts. Ihre wirksamste Waffe war die von der Schulter verschossene Stinger-Rakete, die damals rund 38 000 Dollar kostete – im Vergleich zu einem Leopard-2 mit etwa 15 Millionen Euro ein Klacks.[5] Bahnbrechende Erkenntnisse über die Kampftauglichkeit ihrer Panzer oder Kampfflugzeuge konnten die USA aus dem Afghanistankrieg nicht ziehen. Bis 1989 ließen sie sich die Hilfe für die Mudschahidin dennoch zwölf Milliarden Dollar kosten. Das war das teuerste Waffenhilfe-Programm der Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg. Heute statten die USA und Europa die Ukraine in einem Ausmaß mit Geld, Waffen und geheimdienstlichen Erkenntnissen aus, mit dem im Kreml mit Sicherheit niemand gerechnet hat. Was der Westen wieder nicht schickt sind Soldaten. Für Washington ist die Ukraine weder Vietnam noch Irak, noch ihr „eigenes“ Afghanistan, aus dem sie im Sommer 2021 schmachvoll abziehen mussten.

Als die sowjetischen Soldaten Ende der 1980er Jahre aus Afghanistan nach Hause zurückkehrten, befand sich das Land, für das sie angeblich gekämpft hatten, im Niedergang. Selbst in den Läden in Moskau gab es kaum noch etwas zu kaufen, die Stimmung war mies. Im April 1991 trat ich meinen Posten als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung in Moskau an. Meine stärksten Eindrücke aus der Zeit vor dem Augustputsch: ein Laden am Arbat kurz vor der Währungsreform, in dem vier Verkäuferinnen über ein Glas eingemachter Gurken und ein Unterhemd wachten und darüber zur Einsicht gelangten, dass der Sozialismus bereits zusammengebrochen sei. Und ein Auftritt von Afghanistan-Veteranen in Rollstühlen irgendwo in der Provinz. In exakter Formation wie einst die Fallschirmjäger in Kabul rollten sie über eine kleine Freiluftbühne und warfen sich Bälle und Keulen zu. Von einem verstörten Publikum, das fast nur aus Müttern zu bestehen schien, bekamen sie zaghaften Applaus, von militant strahlenden Frauen in Uniform Blumen. Als sie sich verneigten, blieben ihre Gesichter leer. Kaum einer lächelte, einer weinte.

Es war eine Zeit der Depression, der Hoffnungslosigkeit und der Angst. Man sah das eigene Versagen, im Krieg ebenso wie im Alltag, aber man fürchtete sich auch vor dem Neuen, das kommen musste. „Afghanistan“ war die große Chiffre für diese Malaise. Dies war mehr als nur die „blutende Wunde“ Gorbačevs – es war eine nationale Katastrophe. Der Krieg war eine Schande, die man vergessen wollte, und den Soldaten erging es ähnlich wie den amerikanischen Vietnam-Veteranen, die zunächst auch kaum auf Verständnis stießen, bevor sich Jahre später eine plötzlich mit schlechtem Gewissen erwachte Gesellschaft ihrer erinnerte und eine wahre Lawine an kultureller Produktion auf sie niedergehen ließ. Die Sowjetunion war heillos überfordert. Wer waren diese Soldaten, die als junge Männer gingen und als physische und seelische Krüppel zurückkehrten? Helden? Versager? Verratene? Der Volksdeputiertenkongress verurteilte den Krieg im Dezember 1989 als „moralischen und politischen“ Fehler.[6] Doch man blieb vage. Wie eine aufrichtige staatliche Erinnerung an die Opfer des Krieges auszusehen hätte, wusste niemand.

Die eben untergegangene Sowjetunion und das neue Russland waren Staaten in der Krise, aber dennoch freier als das Russland Putins. Anders als heute durfte man damals, in den frühen 1990er Jahren, ein offenes Wort noch wagen. Niemand scheute sich, El’cin zu kritisieren, im Gegenteil: Über den Präsidenten zog jeder her, genauso, wie zuvor das ganze Land über Gorbačev gehetzt hatte. Viele Veteranen nannten den Krieg „sinnlos“ und gaben offen der Armeeführung die Schuld. Diese wiederum klagte, sie sei von der Partei im Stich gelassen worden. Eine intensive öffentliche Debatte blieb dennoch aus – zum einen, weil niemand eingestehen wollte, dass es wohl unmöglich war, die Mudschahidin zu besiegen, zum anderen, weil die Sowjetunion keine freie Debattenkultur kannte und die Menschen apathisch geworden waren. Im postsowjetischen Chaos hatten die Bürger zudem andere Sorgen.

Doch private Initiativen waren erlaubt, und so wurden Gedenkstätten errichtet.[7] Darunter befindet sich die „Schwarze Tulpe“ (černyj tjul’pan), das bekannte Afghanistan-Denkmal von Konstantin V. Grjunberg in Ekaterinburg, das eine Gruppe von Veteranen 1995 initiierte. „Schwarze Tulpe“ war die inoffizielle Bezeichnung für jene Transportflugzeuge, mit denen gefallene Soldaten aus Afghanistan in die Sowjetunion gebracht wurden. Das Denkmal zeigt einen sitzenden jungen Sowjetsoldaten in der Uniform der Luftlandetruppen mit gesenktem Haupt, erschöpft und ergeben, aber nicht geschlagen: Noch hält er sein Gewehr.

Es ist ein Monument der Schande und des Verrats, eine Anklage von Im-Stich-Gelassenen: Nicht die Soldaten haben den Krieg verloren, heißt die Botschaft. Zu verantworten haben die Niederlage andere: die Armeeführung, vielleicht sogar die Politiker in Moskau? Klar ist eins: Hier triumphiert kein Staat. Die „Schwarze Tulpe“ setzt einen unerhörten Kontrast zu den Heldenposen, die heute unter Putin wieder gefragt sind und deren Formensprache peinlich an den Sozialistischen Realismus erinnert. In Ekaterinburg wird an eine Tragödie erinnert und ein „Schicksal“ beklagt, das die junge Nation noch Jahre beschäftigen sollte. Von 1989 bis 1999 kämpften die Afghanistan-Soldaten darum, als vollwertige Veteranen anerkannt zu werden und die sozialen Vergünstigungen zu bekommen, die den Überlebenden „ehrenvollerer“ Kriege – wie dem Großen Vaterländischen Krieg – zustanden.

Das Denkmal, das 2004 unter Putins Herrschaft für die Afghanistan-Veteranen errichtet wurde, hat mit der „Schwarzen Tulpe“ in Ekaterinburg kaum etwas gemein. Vier Meter hoch ist diese Bronzefigur. Sie zeigt ebenfalls einen jungen Sowjetsoldaten, in der Linken einen Helm, in der Rechten eine Maschinenpistole. Stolz und aufrecht schreitet er voran: Dies ist kein Verlierer. Das Monument kontrastiert auffällig mit seiner verschämten Bezeichnung: Nicht etwa des „Tapferen Afghanistan-Veteranen“ wird hier gedacht, sondern des „Internationalistischen Soldaten“ (Vojn-internationalist).

Der Name des Landes, das die Sowjetunion überfiel und aus dem sie schmachvoll wieder abziehen musste, bleibt ungenannt. Bei der Einweihung im Dezember 2004 zum 25. Jahrestag der Invasion waren zahlreiche Organisationen von Afghanistan-Veteranen zugegen. Der heroische Pomp der Putin-Ära sagte ihnen offensichtlich mehr zu als das Nachdenkliche der „Schwarzen Tulpe“.

Wie ratlos das neugeborene Russland die Erblast Afghanistan behandelte, zeigte sich bereits 1991 in einer Ausstellung in der Moskauer Manege beim Roten Platz. Dass sie überhaupt stattfand, war angesichts der heiklen Thematik schon eine Sensation. Gezeigt wurden Fotos und Gegenstände des soldatischen Alltags, Gamellen, Fahnen und berührende Briefe an die Lieben zuhause – aber kaum ein Bild von den Afghanen, die man doch zu Hunderttausenden umgebracht hatte. Besungen wurde, genau wie in Ekaterinburg, das eigene Leid, das immer größer ist als jedes andere.[8]

Putin, 1999 an die Macht gekommen, hat Russland beruhigt, reicher gemacht und die Geschichte resolut umgeschrieben. Von militärischem Versagen oder gar Verrat war schon kurz nach seinem Amtsantritt kaum noch die Rede. Der Krieg, einst fast arglos als Beistand für die moskautreuen Kommunisten in Kabul deklariert, mutierte in Putins neuer Erzählung zunächst zum ersten großen Kampf gegen den islamistischen Extremismus.

Im Februar 2019, zum 30. Jahrestag des Abzugs, verurteilte die Duma in Moskau die Erklärung des Volksdeputiertenkongresses von 1989 als „historisch ungerecht“.[9] Das passte perfekt zum Revisionismus, mit dem Putin die sowjetische Vergangenheit von der Rehabilitation Stalins über die Rechtfertigung des Hitler-Stalin-Pakts bis zur Normalisierung des Afghanistankriegs neu bewerten ließ oder selbst schrieb.[10] Ein zentrales Motiv ist die Selbstviktimisierung. Das ist der Punkt, den Putin von den Veteranen übernommen und auf ganz Russland übertragen hat, das nach seiner Auffassung vom Westen geschwächt und ausgeblutet wird und sich nun erheben müsse.

Heute ist die Bewegung der Afghanistan-Veteranen komplett in Putins „Machtvertikale“ integriert und bar jeder Renitenz. Stattdessen wirbt sie für den Ukraine-Krieg. Ihr wichtigster Protagonist ist Anton Demidov, Chef einer „Kampfbruderschaft“ für Afghanistan-Veteranen und Mitglied des Präsidiums des Generalrats der Partei der Macht Einiges Russland. Demidov selber ist kein Veteran. Aber er leitet Propagandaveranstaltungen mit Veteranen unter dem Z-Symbol und produziert Videos, in denen Putin und die „Entnazifizierung“ der Ukraine besungen werden.

Demidov beherrscht nicht alle. Wer mit Afghanistan-Veteranen in Russland spricht, hört auch von einigen, dass sie den Krieg in der Ukraine als „ehrlos“ empfinden und kritisieren. Einige ukrainische Veteranen haben versucht, ihre Kollegen aus Russland, mit denen sie am Hindukusch Seite an Seite gekämpft hatten, umzustimmen. Doch das ist alles anekdotisch. Die russländischen Veteranen haben Gefallen gefunden an Putins verlogener Offerte, als stolze Helden zu leben, und der überwiegende Teil der ukrainischen Afghanistan-Veteranen wird für immer Kiew unterstützen.

Dass in Russland aus einer einst zornigen, unabhängigen Gruppe von Afghanistan-Veteranen eine aufgeblähte, staatshörige Bewegung werden konnte, zeigt, wie sehr sich das Land unter Putin gewandelt hat. Was wiederum all denen zu denken geben sollte, die glauben, aus dem Kaffeesatz der Vergangenheit herauslesen zu können, welchem Schicksal Russland entgegengeht.

Denn Putins Russland unterscheidet sich grundlegend von der Sowjetunion im Endstadium und von Russland unter Präsident El’cin. Damals herrschten Orientierungslosigkeit und Chaos, aber daneben blühte eben auch eine Freiheit, die Russland so noch nie erlebt hatte. 1992 produzierten Journalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Berichte über die Korruption in der Stadtverwaltung von Stavropol’ – das wäre heute in Putins Russland undenkbar.

El’cin wankte, immer, und hatte große Teile der Armee, des Apparats und des Volkes gegen sich. Putin hingegen sitzt fest im Sattel und befehligt einen Propagandaapparat, der es mit dem sowjetischen aufnehmen kann. Dissens ist kriminalisiert. Die Angst vor dem Staat, unter Stalin allgegenwärtig, unter Brežnev abgeflaut und unter Gorbačev und El’cin weitgehend verschwunden, ist wieder allgegenwärtig. Putin regiert faktisch allein. Er mag hie und da seine alten Kumpane aus dem KGB konsultieren oder die Ansichten aus dem Sicherheitsrat zur Kenntnis nehmen. Doch auf ein Politbüro oder ein Zentralkomitee muss er keine Rücksicht nehmen. In der KPdSU gab es Debatten und divergierende Meinungen. Die Invasion in Afghanistan war umstritten. Der Generalsekretär Brežnev war wie meist in solchen Situationen unschlüssig, er ließ sich schließlich von den Hardlinern – Außenminister Andrej Gromyko, KGB-Chef Jurij Andropov und Verteidigungsminister Dmitrij Ustinov – überreden. Andere Entscheidungsträger wie Generalstabschef Nikolaj Ogarkov ahnten, dass die Intervention in einen langen Krieg münden würde. Sie wurden gehört und überstimmt und dennoch nicht abserviert. Ogarkov hatte nicht die geringsten Bedenken, sich wegen Afghanistan mit Ustinov anzulegen. Letztlich war die Invasion die Entscheidung der kollektiven Führung. Eine beherrschende Figur wie Putin gab es nicht.

In den vor allem ethnisch definierten Sowjetrepubliken – den baltischen Staaten, Georgien, Moldova – schossen die Unabhängigkeitsbewegungen in den späten 1980er Jahren aus dem Boden. Sie waren mutig, die Menschen in den Unionsrepubliken und auch in den Autonomen Republiken begannen, ihre eigene Sprache zu sprechen und die eigene Geschichte zu entdecken. Der Zerfall des Imperiums war gewissermaßen vorgestanzt. Putin dagegen hat unmittelbar nach seinem Amtsantritt in Tschetschenien blutig gezeigt, wohin zu viel Freiheitsliebe führen kann. Der Schock sitzt tief. So bald wird in ethnoterritorialen Subjekten der Russländischen Föderation, in Inguschetien, und Kalmückien, in Burjatien und Sacha oder Kabardino-Balkarien der Ruf nach Souveränität nicht zu hören sein. In vielen „ethnischen“ Republiken stellen zudem die Russen die Mehrheit.

Andere Differenzen mögen trivialer erscheinen, man sollte sie dennoch nicht vergessen. Das Terrain in Afghanistan eignet sich hervorragend für einen Guerillakrieg. Nichts als Berge, aus denen heraus man angreifen und in die man sich wieder zurückziehen kann: Die Afghanen haben auf diese Weise noch jeden Angreifer erledigt. Die Ost- und Südostukraine ist flach und ohne zusammenhängende Waldgebiete: kein Habitat für erfolgreiche Freischärler. Hier wird offen gekämpft, Armee gegen Armee. Das sollte an sich Russland begünstigen – sollte, denn mittlerweile ist klar, dass auch Moskaus Ressourcen endlich sind. Die konventionelle Natur des Konflikts zeigt sich an den Opferzahlen. Im Guerillakrieg in Afghanistan kamen während eines knappen Dezenniums laut offiziellen Zahlen rund 14 000 sowjetische Soldaten ums Leben, rund 40 000 wurden verwundet. In der Ukraine sind nach westlichen Schätzungen in einem einzigen Jahr Zehntausende russländischer Soldaten getötet worden, möglicherweise weit über 100 000. Die Zahl der Verwundeten und Traumatisierten ist mindestens ebenso hoch. Dass sich Russland im September 2022 gezwungen sah, weitere 300 000 Mann zu mobilisieren, ist ein Indiz für die enormen Verluste der eigenen Truppen.

In der Ukraine bekriegen sich Slawen, mehrheitlich orthodoxe Christen. In den annektierten Gebieten im Osten und Südosten der Ukraine töten Russen sogar überwiegend ethnische Russen, Frauen, Kinder, die sie vorgeblich beschützen wollen. Die muslimischen Afghanen waren den Sowjets fremd, unheimlich in ihrer Opferbereitschaft und wurden als besonders „grausam“ empfunden. Die Ukrainer hingegen sind „Brüder“, Putin selber hat die „Einheit von Russen und Ukrainern“ proklamiert.[11] Brüder allerdings, die je nach Bedarf auch flugs zu „Nazis“ und „Faschisten“ werden können, die man mit derselben Selbstverständlichkeit tötet wie einst die Mudschahidin. Nicht, dass die kulturelle Nähe den Russen viel hülfe. Vielleicht verzweifeln sie heute noch mehr als damals in Afghanistan: Warum wollen diese verstockten Ukrainer nicht kapieren, dass Putin doch nur ihr Bestes will?

Eine weitere Differenz: In Afghanistan hatten die Sowjets zum Auftakt einen Erfolg. Damals wie heute plante Moskau eine „begrenzte Intervention“ mit einem überfallartigen Enthauptungsschlag gegen die gegnerische Führung in der Hauptstadt. Ziel der Sowjets war es damals, Präsident Hafizullah Amin zu beseitigen, dem der KGB fälschlicherweise unterstellte, er habe sich mit der CIA ins Bett gelegt. Sowjetische Paramilitärs erschossen ihn in seinem Palast in Kabul. Moskau hatte rasch die Kontrolle über die Hauptstadt erlangt, der erste Teil der Mission war erfüllt. In der Ukraine erhoffte sich Putin einen ähnlich rasanten Coup, doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die versuchte Einnahme des Flughafens Hostomel vor den Toren Kiews durch russländische Luftlandetruppen wurde zu einem Debakel, die Truppenkonvois blieben stecken und mussten massive Verluste hinnehmen, Kiew fiel nicht und Zelens’kyj lebt: Russlands Invasion begann mit einer bösen Schlappe.

Der Afghanistan-Feldzug spielt heute in Russlands Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle. Der Krieg, auf den Putin bei jeder Gelegenheit rekurriert, ist der Zweite Weltkrieg, der Große, der Vaterländische, der Krieg gegen die Nazis, an dessen Ende die Sowjetunion so mächtig war wie nie. An ihn sollen sich die Russen erinnern und aus der Erinnerung Kraft schöpfen, er soll dem Volk klarmachen, dass es einzigartig sei und unbesiegbar. Die Intervention am Hindukusch ist dagegen eine Randnotiz geblieben. Dass sie dem Ukrainekrieg in jeder Hinsicht ähnlicher ist als der Große Vaterländische Krieg, wird verdrängt. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Russland nicht gegen den Westen, sondern Seite an Seite mit Amerikanern und Briten. Die Sowjetunion überfiel Deutschland nicht, sondern wurde überfallen, und zwar von Nazis, die so ganz anders als die Ukrainer tatsächlich expansiv und bösartig waren. Die „Nazis“, die heute aus der Sicht der Moskauer Propaganda die Ukrainer unterjochen und einen Genozid an den ethnischen Russen verüben, waren nie eine Bedrohung, weder für Russland noch für ihr eigenes Volk.

Und schließlich: Es gibt im Falle der Ukraine kein „Pakistan“. Das muslimische Reich Zia-ul-Haqs war für die Amerikaner und die Saudis ideales Aufmarschgebiet und für die Mudschahidin unentbehrlicher Rückzugsraum. Der Geheimdienst Islamabads, ISI, kontrollierte die Hilfe aus dem Ausland, leitete amerikanische Waffen weiter, bildete die Mudschahidin aus und führte sie nicht selten auch in die Schlacht. Ohne Pakistan wäre der Erfolg der Rebellen nicht möglich gewesen. Eine solche Basis fehlt dem Westen heute. Polen käme von der Geisteshaltung dem Vorbild Pakistan noch am nächsten. Welches Land hätte im Laufe der Geschichte mehr unter Russland gelitten, und welches hülfe heute den Ukrainern enthusiastischer? Nirgendwo sympathisiert man mehr mit den Ukrainern, nirgendwo leistet man wertvollere Hilfe. Und doch spielt Warschau heute nicht im Entferntesten die Rolle, die Islamabad damals spielte. Polen liefert Waffen und Kampfjets. Doch wie alle EU-Länder achtet es sorgsam darauf, sich nicht direkt in den Konflikt einzumischen.

Die Dominanz Putins wird den Krieg in der Ukraine verlängern. Die politische Repression in Russland gemahnt wieder an Stalin, Oppositionelle, welche die breite Bevölkerung überzeugen könnten, dass Putin Russland in eine Katastrophe führt, sind keine zu sehen. Mutige Kritiker wie Boris Nemcov sind tot oder sitzen wie Aleksej Naval’nyj und Vladimir Kara-Murza im Lager und im Gefängnis. Einspruch gibt es. Doch die Rügen und Wutschreie der militanten Blogger, die noch mehr „Patriotismus“, noch mehr Brutalität und Grausamkeit verlangen, sind keine Opposition. Sie schaffen eine Chimäre von Pluralität, und man kann natürlich das allein schon als wichtig erachten. Doch von Putins Generallinie heben sie sich kein Jota ab. Indizien für eine demokratische Selbstbestimmung sind in Russland keine zu sehen.

In der Sowjetunion Gorbačevs war dies anders. Das Land war bereit für einen Wechsel. Opposition im westlichen Sinne gab es im spätsowjetischen System zwar ebenso wenig wie im Reich Putins. Gorbačev musste Kommunist sein, um zu reüssieren. Doch die Neuerungen, die er brachte, machten ihn zum Totengräber der Sowjetunion. Totalitäre Gebilde lassen sich nicht „reformieren“. Versucht man es dennoch, zerfallen sie. Gorbačev war kein „Reformer“ und schon gar kein „Revolutionär“, wie viele vor allem in Deutschland dachten. Gorbačev trat an, um die Sowjetunion zu erhalten, ihre Leistungsfähigkeit zu stärken und die Macht der KPdSU wiederherzustellen. Das missriet gründlich. Seine historische und zu Recht gelobte Leistung bestand darin, dass er fast keine militärischen Mittel einsetzte, um den Zerfall seines Landes zu stoppen.

Unter seinem machtpolitischen Konkurrenten und Nachfolger Boris El’cin wuchs die Staatsverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger weiter an. El’cins wirtschaftspolitische „Schocktherapie“ verschlang die Ersparnisse der Bürger, eine galoppierende Inflation fraß die Renten auf. Die Wirtschaft lag am Boden, staatlicher Betrug und Mafia-Kriminalität explodierten. Verzweiflung breitete sich aus. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer sank auf 57 Jahre. Alles zerfiel, auf nichts war mehr Verlass.

Putin hat Russland entschlossen aus dieser Misere geführt. Dafür sind ihm viele Menschen bis heute dankbar. Ihr Land ist nicht mehr „Obervolta mit Atomraketen“, wie Helmut Schmidt die Sowjetunion einst titulierte. Der Herr im Kreml brachte „Ordnung“ ins Wirtschaftsleben – mit schwerer Hand und großzügiger Unterstützung des Westens, der gerne bereit war, für die so sehnlich erhoffte „Friedensdividende“ etwas springen zu lassen. Die korporatistische, in großen Teilen gelenkte Wirtschaft, in der auch Markt­elemente nicht fehlen, hat viele Russen reicher gemacht und eine Mittelschicht hervorgebracht, die der Sowjetunion fehlte. Die Bürger konsumieren und reisen, von einer katastrophalen sozioökonomischen Lage wie in den 1990er Jahren kann keine Rede sein. Großstädte wie Moskau und Sankt Petersburg haben sich einen modernen, westlich anmutenden Look zugelegt, die angelsächsisch geprägte Internationalität des Internets hat eine gewisse Weltläufigkeit gebracht. Die Russen verzweifeln nicht mehr. Sie haben etwas zu verteidigen.

Das erleichtert Putin die Aufgabe. Seine Anhänger geraten in Zorn, wenn man das Ende seiner Herrschaft auch nur in Erwägung zieht. Ein tief wurzelnder Hass auf den Westen hat sich breitgemacht, zum einen, weil die permanente Propaganda Wirkung zeigt, zum andern, weil der ewige russische Verdacht, die Menschen im Westen könnten es besser haben, nicht auszurotten ist. Selbst die Berichte über den bescheidenen Wohlstand der Ukrainer haben bei vielen Bürgern vor allem im Osten des Landes Wutausbrüche ausgelöst. Mit jedem russländischen Kriegstoten nimmt dieser Hass zu. Es klingt für westliche Ohren irritierend, aber in Russland ist man stolz auf die über 20 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs. Man ist stolz auf die angeblich unendliche Leidensfähigkeit des eigenen Volkes. Und wenn diese nun wieder strapaziert werden muss, um zu überleben – nun, dann sei es eben wieder so. Putin weiß das.

Unter den westlichen Sanktionen leidet Russland heute vermutlich mehr als die Sowjetunion vor 40 Jahren. Zwar hat Moskau große Meisterschaft bei der Umgehung von Sanktionen entwickelt. Dank hoher Ölpreise konnte das Putin-Regime im Jahr 2022 den Schaden in Grenzen halten. Doch mittlerweile sind die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft zurückgegangen, das Defizit wächst. Der Westen kann Russlands Lage weiter verschärfen, wenn es ihm gelingt, die verbliebenen Schlupflöcher zu stopfen. Werden die internationalen Finanztransaktionen besser kontrolliert, kann es eng werden für Russland.

Der Sowjetunion machten die westlichen Sanktionen weniger Mühe. Der Teilboykott der Olympischen Spiele 1980 mag die Eitelkeit des Kreml verletzt haben, doch er zwang die UdSSR nicht in die Knie. Präsident Carter verfügte im Januar 1980 ein umfassendes Getreideembargo: ein Fehlschlag. Für die Führung in Moskau wurde der Lieferstopp gar zum Segen. Sie kaufte billigeres Getreide aus Südamerika, hauptsächlich aus Brasilien und Venezuela, und intensivierte den Getreideanbau in der Ukraine. Ronald Reagan hob Carters Embargo nach seinem Wahlsieg 1981 wieder auf, um die amerikanischen Farmer zu erfreuen und weil er fand, es sende Moskau falsche Signale. Sonst blieb er allerdings hart. Im Januar 1983 erließ er die Nationale Sicherheitsdirektive 75, ein Bündel von Maßnahmen mit dem Ziel, „die Expansion der Sowjetunion“ aufzuhalten und den Kalten Krieg zu gewinnen. Die darin enthaltenen Handelssanktionen waren scharf und fügten der Sowjetunion einigen Schaden zu. Die Europäer und die Japaner, die mit Moskau mehr Handel trieben als die Amerikaner, nahmen Anstoß und drängten Washington, die Maßnahmen abzuschwächen oder aufzuheben, was nach und nach auch geschah.

Die USA zeigten damals und zeigen auch heute weit mehr Bestrafungswillen als die Europäer – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es Russland seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht einmal in die Top 25 der amerikanischen Exportdestinationen geschafft hat. Für die EU hingegen war Russland bis Februar 2022 die fünftgrößte Exportnation, hinter China, den USA, Großbritannien und der Schweiz.[12] Mit Russland weniger Handel zu treiben, setzt Europa also mehr zu als den USA. Dennoch sind sich Europäer und Amerikaner heute näher als während des Afghanistankriegs. Brüssel ist bereit, gewisse Härten auf sich zu nehmen und den Erfolg der bisherigen Maßnahmen permanent kritisch zu hinterfragen. Wo man Missstände sieht, wird nachgebessert. Proteste gegen das Sanktionsregime wie in den 1980er Jahren gibt es nur vereinzelt, man zieht an demselben Strang wie die Amerikaner. Damit hatte Putin nicht gerechnet. Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto mehr wird er dem Afghanistan-Feldzug gleichen. Die Soldaten im Donbass werden dieselben Erfahrungen machen wie einst ihre Kollegen am Hindukusch. „Zuhause“ in Russland wird die Stimmung auf fast schon unheimliche Weise immer mehr an die der untergehenden Sowjetunion erinnern. Die Ukrainer werden nicht aufgeben. Der Westen wird Kiew weiter unterstützen. Das große Sterben wird weitergehen. Jahrelang werden die Toten in Zinksärgen zurückgebracht werden nach Russland, und die Familien in der Heimat werden trauern und sich fragen, ob dieses Opfer wirklich nötig war. Dieser Krieg ist nicht existenziell für Russland, er ist existenziell für den Kreml. Die Russen hängen nicht sklavisch an ihren Führern. Der Westen wird sich noch wundern, wie schnell das Volk von Putin und seiner kriegslüsternen Kamarilla abrücken wird, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht. Jahrelang werden auch die an Leib und Seele Verwundeten zurückkehren. Sie werden in ein Land kommen, das wirtschaftlich ermattet ist und kaum noch in der Lage sein wird, sie zu unterstützen. Und sie werden auf Menschen stoßen, die ihnen fremd sind und so lange fremd bleiben werden, wie sie nicht verstehen, dass ihre Führung über andere mehr Leid gebracht hat als über sie selbst.

 


[1]   Abzug der letzten Sowjettruppen aus Kabul. Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 15.2.1989, S. 3.

[2]   Siehe dazu die fünf völkerrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Studien von Christian Tomuschat, Angelika Nußberger, Otto Luchterhandt, Stefanie Bock und Simon Gauseweg, in: Osteuropa, 1–3/2022, S. 33–118.

[3]   Am 2. März 2022 verurteilte die UN-Generalversammlung mit 141 Stimmen Russlands Krieg gegen die Ukraine. Gegen die Resolution stimmten fünf Staaten: Belarus, Eritrea, Russland, Nordkorea und Syrien. 35 Staaten, darunter China und Indien enthielten sich. Kurz vor dem ersten Jahrestag des Krieges am. 23. Februar 2021 forderten 141 von 193 UN-Mitgliedstaaten den sofortigen Rückzug Russlands aus der Ukraine. 32 Staaten enthielten sich.

[4]   Warum in der Ukraine krepieren? Junge Sibirer fliehen in Scharen aus dem Reich Putins, NZZ, 22.11.2022.

[5]   Steve Coll: Ghost Wars, The Secret History of the CIA, Afghanistan and Bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2001. New York 2004.

[6]   S”ezd narodnych deputatov SSSR: Postanovlenie ot 24 dekabrja 1989 g. N 982-1: О političeskoj ocenke rešenija o vvode sovetskich vojsk v Afganistan v dekabrje 1979 goda. Pravda, 25.12.1989.

[7]   Natalija Danilova, Kontinuität und Wandel: Die Denkmäler des Afghanistankrieges, in: Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg. Berlin 2005, [= Osteuropa, 4–6/2005], S. 376–386.

[8]   Dürftige sowjetische Vergangenheitsbewältigung. NZZ, 14.8.1991, S. 4.

[9]   Emily Hoge: The Legacy of the Soviet Afghan War and Its Role in the Ukrainian Invasion, in: Lawfare, 25.4.2022.

[10] Andrej Kolesnikov: Erinnerung als Waffe. Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes, in: Osteuropa, 6/2020, S. 3–28.

[11]  Vladimir Putin: Ob istoričeskom edinstve Russkich i Ukraincev, 12.7.2021, <http://kremlin.ru/events/president/news/66181>. – Deutsch: Vladimir Putin: Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, in: Osteuropa, 7/2021, S. 51–66.

[12] Russia’s Jan-April budget deficit hits $44 billion as energy revenues plunge. Reuters,10.5.2023.

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