Verdrängte Niederlagen
EditorialAbstract in English
(Osteuropa, 3-4/2023, S. 34)
Volltext
Am Staraja ploščad’, dem Alten Platz, einen Steinwurf vom Kreml entfernt, hatte sich ein kleiner Kreis von alten Männern zu einer Sitzung eingefunden: Geheimdienstler, Generäle und graue Technokraten der Macht. Auf der Tagesordnung stand keine große Sache. Der Beschluss war schnell gefasst. Eliteeinheiten des Militärgeheimdienstes GRU und ein Kontingent der Armee mit den Luftlandetruppen an der Spitze wurden in ein Nachbarland entsandt. Was sollte da schon schiefgehen? Auf dem Papier war das Kräfteverhältnis eindeutig. Moskau, das Zentrum des größten Staates der Welt, mit der stärksten konventionellen Armee auf dem Globus und einem Nuklearpotential, mit dem nur die USA mithalten konnten, startete eine militärische Invasion in ein Land, das klein, schwach und rückständig war und im Schatten der Weltöffentlichkeit lag. Die Operation am Hindukusch dürfte – so das Moskauer Kalkül – in ein paar Tagen erledigt sein. Tatsächlich dauerte sie zehn Jahre und wurde zum längsten Krieg in der Geschichte der Sowjetunion.
Die Invasion in Afghanistan scheiterte. Die Aufklärung über die Lage vor Ort war mangelhaft gewesen, das politische Ziel der Invasion diffus. Moskau hatte die eigene Stärke überschätzt und die Kraft des Widerstands unterschätzt. Der Afghanistankrieg isolierte die UdSSR und mobilisierte in der islamischen Welt und im Westen eine breite, vom Kreml nicht einkalkulierte politische und militärische Unterstützung für die Widerstandskämpfer. Lange glaubte das Regime, mit Zensur, Lüge und Propaganda die eigene Bevölkerung über die Kriegswirklichkeit im Unklaren lassen zu können. Der Begriff „Krieg“ war tabu. Doch mit jedem Soldaten, der in einem Zinksarg nach Hause kam und heimlich beerdigt werden musste, kippte die Stimmung. In der Bevölkerung und der Armee regten sich die Fragen: „Wozu ist er gestorben? Und wofür setzen unsere Söhne, Männer und Väter ihr Leben aufs Spiel?“ Da überzeugende Antworten ausblieben, verlor die Lüge ihre Kraft.
Die Ähnlichkeiten zwischen damals und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine heute sind frappierend. Schaut man auf die Entscheidungsprozesse auf dem Weg in den Krieg, das Selbstbild und Weltbild der Verantwortlichen, ihre Perzeptionen und Fehlperzeptionen vom Gegner sowie auf die militärische Lage, so drängen sich Parallelen auch zu anderen Waffengängen auf.
Im Mittelpunkt der Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik Russlands stehen die siegreichen Kriege, insbesondere der ideologisch hoch aufgeladene, geradezu sakralisierte Sieg im Großen Vaterländischen Krieg (1941–1945). Die Kriegsniederlagen fristen in Russlands kollektiver Erinnerung ein Schattendasein. Sie wurden und werden marginalisiert und verdrängt. Das gilt für den Krimkrieg (1853–1856), die schmachvolle Niederlage des Zarenreichs gegen Japan (1904/1905) und für den Ersten Weltkrieg (1914–1917/18). Diese drei Kriege haben gemeinsam, dass die Niederlage im Feld massive Rückwirkungen auf die politische Ordnung in der Heimat hatte: Das militärische Debakel auf der Krim war die Ursache für die Großen Reformen unter Aleksandr II.; Russlands Untergang im Gelben Meer war ein Katalysator für die Revolution von 1905; und der dritte Krieg, den die Briten bis heute Great War und die Franzosen Grande Guerre nennen, führte zum Zusammenbruch des multinationalen Russländischen Imperiums und zur Oktoberrevolution. In der Sowjetunion wurde der Erste Weltkrieg zum vergessenen Krieg. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.
Auch gibt es militärische Siege, die von Niederlagen kaum zu unterscheiden sind. Der verlustreiche Winterkrieg 1939/40 gegen Finnland und die beiden Tschetschenienkriege (1994–1996 und 1999–2009) sind solche Fälle. Jeweils sollte es ein „kleiner, erfolgreicher Krieg“ werden. Jeweils wurde es ein Debakel. Und die Erinnerung an diese Kriege wirft bis heute ihre Schatten.
Die Hybris der imperialen Eliten – ganz gleich, ob sie zarischer, bolschewistischer oder putinistischer Couleur sind – zieht sich als roter Faden durch die Geschichte dieser Kriege. Aus der pathologischen Arroganz der Großmacht, die glaubt, das Völkerrecht nicht beachten zu müssen, sowie aus der imperialen Verachtung für andere Nationen speist sich die militärische Unterschätzung des Gegners; aus Fehlkalkulation und militärischem Versagen erwächst die Zerstörungs- und Vernichtungswut, die in Angriffen auf zivile Infrastruktur zum Ausdruck kommt. Eine enthemmte Soldateska ist bereit zu Vergewaltigung und Mord, Folter und Massakern.
Während diese Zeilen entstehen, ist der Krieg in der 72. Woche. Gemessen an Russlands Zielen, die Ukraine in einem Blitzkrieg niederzuwerfen und die Regierung unter Präsident Zelens’kij zu stürzen, hatte Russland den Krieg schon nach wenigen Wochen verloren. Im März 2022 scheiterte Russlands Versuch, den Militärflugplatz Hostomel’ nach der Blaupause aus dem Afghanistankrieg mit Luftlandetruppen zu erobern. Für die Weltöffentlichkeit wurde das Scheitern offensichtlich, als sich die Invasoren vom nördlichen Kriegsschauplatz um Kiew zurückziehen mussten. Im September 2022 erzwang die Ukraine den Rückzug des Aggressors aus den Gebieten Sumy und Charkiv im Nordosten des Landes, zwei Monate später den aus Teilen des Gebiets Cherson im Südosten. Seitdem ist Russlands Feldzug in einen Stellungs- und Abnutzungskrieg übergegangen. Russland hat den Kampf um die Sympathien der Weltöffentlichkeit längst verloren: Buča, Irpin’, Mariupol’, Izjum, Bachmut, Kachovka, Kramators’k …
Zur Wahrheit gehört auch: Militärisch hat Russland diesen Krieg noch nicht verloren. Er kann über Jahre weitergehen. Er ist so zerstörerisch wie selbstzerstörerisch. Russland tötet in der Ukraine Soldaten, ermordet Zivilisten und vernichtet Städte. Zugleich führt die Kriegspropaganda, die Bellifizierung von Politik, Wirtschaft und Kultur sowie die Rückkehr von Hunderttausenden deformierten Soldaten und Söldnern zwangsläufig zu einer Brutalisierung und Degradation auch der russländischen Gesellschaft. Verschärft wird das dadurch, dass seit dem 24.2.2022 über zwei Millionen hochqualifizierte Menschen das Land verlassen haben. Präsident Putin (70) hat Russland in eine Isolation nicht gekannten Ausmaßes geführt: 1980 hatte Moskau noch 17 Verbündete in der UN-Generalversammlung, als die UdSSR wegen der Invasion in Afghanistan verurteilt wurde. Heute kann sich Moskau nur noch auf Belarus, Eritrea, Mali, Nicaragua, Nordkorea und Syrien verlassen. Da hilft es kaum, dass die Ideologen des Krieges wie der Chef des Sicherheitsrats Nikolaj Patrušev (72) oder Außenminister Sergej Lavrov (73) mit rhetorischen Tricks die „globale Mehrheit“ hinter Russland zu vereinen glauben und der habilitierte Zyniker Sergej Karaganov (70) den Einsatz einer Atombombe gegen eine Stadt wie „beispielsweise das polnische Poznań“ fordert, um die EU und die USA von ihrer Unterstützung für die Verteidigung der Freiheit und Selbstbestimmung der Ukraine abzubringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass alte Männer in Moskau den Kontakt zur Realität verloren hätten.
Berlin, im Juli 2023 Manfred Sapper, Volker Weichsel