Titelbild Osteuropa 5-6/2023

Aus Osteuropa 5-6/2023

Menetekel vom Untergang
Putins Autokratie und Prigožins Aufstand

Otto Luchterhandt

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Abstract in English

Abstract

Der britische Historiker Ian Kershaw hat einen Faktorenkatalog entwickelt, um den Einfluss von politischen Führern auf den Gang der Geschichte zu analysieren. Im Kern geht es um das klassische Verhältnis von Persönlichkeit und Macht. Kershaws Raster lässt sich nutzen, um den Aufstieg Vladimir Putins, eines ehemals unbekannten Manns ohne Eigenschaften, zum Präsidenten Russlands, die Konzentration der Macht in seiner Person und den Übergang von der Autokratie zur Diktatur zu erklären. Jede erfolgreiche Autokratie trägt den Keim ihres Untergangs in sich. In Putins Fall wirkt der von ihm willkürlich vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Ukraine als Katalysator. Der „Wagner-Aufstand“ unter Evgenij Prigožin am 24. Juni 2023 ist die Ouvertüre zur „Götterdämmerung“ des Putin-Regimes.

(Osteuropa 5-6/2023, S. 73–95)

Volltext

Welche Rolle spielt der Einzelne in der Geschichte? Diesem klassischen Problem der Geschichtsschreibung widmet der britische Historiker Ian Kershaw seine jüngsten Überlegungen. Sein Buch Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert[1] enthält zwölf biographische Skizzen von Lenin bis Helmut Kohl. Kershaw wirft die relevanten Fragen auf:

„Inwieweit wurde Europas turbulentes 20. Jahrhundert durch das Handeln politischer Führer geprägt? Waren es diese Führer, die das 20. Jahrhundert „gemacht“ haben? Oder wurden sie vielmehr von ihm gemacht? Diese Fragen sind Teil der umfassenderen Frage, wie wichtig Einzelne bei der Gestaltung von Geschichte sind. Ändern sie deren Gang grundlegend? Oder leiten sie die Flut lediglich in neue, temporäre Kanäle? Man nimmt häufig nahezu automatisch und fraglos an, politische Führer seien mehr oder weniger persönlich dafür verantwortlich, welchen Kurs die Geschichte nimmt. Aber wie und warum sind sie in die Position gelangt, überhaupt so handeln zu können, wie sie es tun? Welchen Einschränkungen sind sie unterworfen? Welcher Druck lastet auf ihnen? Welche Unterstützung oder Opposition bedingt ihr Handeln? Unter welchen Umständen sind die Führer in unterschiedlichen politischen Systemen erfolgreich? Und wie wichtig ist dabei die Rolle der Persönlichkeit? Inwieweit färbt oder prägt sie sogar tiefgreifende politische Entscheidungen? In welchem Maß haben politische Führer selbst durch frei getroffene Entscheidungen den Wandel bewirkt, mit dem man sie dann später identifiziert hat? Diese Fragen betreffen sowohl demokratische als auch autoritäre Führer.“[2]

Kershaw formuliert sieben Hypothesen, mit deren Hilfe er zu klären versucht, wie sich bei den von ihm ausgewählten Politikern jeweils das Verhältnis zwischen Individuum und der Erringung und Ausübung ihrer Macht darstellt.[3] Der Ansatz ist geeignet, zu einem vertieften Verständnis auch des Machtmenschen Vladimir Putin zu gelangen.

Das Thema hat durch den „Aufstand“ des Chefs der „Privaten Militärischen Gesellschaft“ Wagner (russ: Častnaja Voennaja Kompanija ČVK „Vagner“), Evgenij Prigožin, am 24. Juni 2023 eine unerwartete Brisanz bekommen. Er begann mit der Besetzung der südlichen Kommandozentrale der russländischen Streitkräfte im Ukraine-Krieg in Rostov am Don und setzte sich mit dem „Marsch der Gerechtigkeit“ der „Wagner“-Armee auf Moskau fort.[4] Mehr als das: Vielleicht erlebt die Welt in diesen Tagen tatsächlich den Anfang vom Ende der „Putin-Ära“, noch bevor die Präsidentenwahlen im Jahr 2024 stattfinden.[5] Um bei diesen wieder kandidieren zu können, hatte Vladimir Putin im Jahr 2020 die Verfassung ändern lassen.

Die Ära „Putin“: Aufstieg und Niedergang

Vladimir Putin wird im Jahr 2024 ein Vierteljahrhundert an der Macht sein und als Präsident die Geschicke Russlands lenken. In dieser Zeit hat er ein Herrschaftssystem geschaffen, das in den Medien mit seinem Namen verbunden wird: das „Putin-Regime“. Man mag die Bezeichnung für treffend und vielleicht sogar auch wissenschaftlich für ausreichend präzise halten. Putins Präsidialregime weist jedoch Besonderheiten auf, die man sowohl in politikwissenschaftlicher als auch in staatswissenschaftlicher und juristischer Hinsicht schärfer erfassen und qualifizieren kann. Bernd Wieser hat das getan, indem er nach Putins einschneidender Revision der Verfassung Russlands im Jahre 2020 in einer eingehenden Analyse das Regierungssystem Russlands als „Superpräsidentialismus“ gekennzeichnet hat,[6] d.h. als ein Regierungssystem, in welchem, auf eine einfache Formel gebracht, die starken Prärogativen des US-Präsidenten und des französischen Staatspräsidenten kumuliert sind.[7]

Unter Beseitigung der von der föderalen Verfassung deklarierten Gewaltenteilung (Art. 10) hat Vladimir Putin die Kompetenzen des Präsidentenamtes und damit seine Macht in dem Vierteljahrhundert seiner Herrschaft systematisch erweitert und verstärkt. Das Regierungssystem des Superpräsidentialismus hat dadurch eine zusätzliche Qualität erhalten: Vladimir Putin hat eine Autokratie errichtet und sich zum „Selbstherrscher“ gemacht.[8]

Zwar ist die rechtliche und die institutionelle Grundlage seiner Herrschaft nach wie vor das Amt des vom ganzen Volk direkt gewählten Präsidenten, aber dadurch, dass die repressiv, manipulativ und verfälschend agierende Präsidialexekutive die Wahlen schon seit 2003 systematisch ihrer demokratischen Substanz beraubt und Putin seine durch neue Gesetze und Verfassungsrevisionen laufend verstärkte Macht über einen sehr langen Zeitraum ausübt, hat sich die Staatsgewalt in ihm so stark konzentriert, verselbständigt und personalisiert, dass in der Verfassungswirklichkeit und politischen Realität Russlands Vladimir Putins Person selbst zur Verkörperung einer monarchischen Staatsgewalt geworden ist und über allen sonstigen Macht vermittelnden Institutionen und Organisationen schwebt.[9]

Seine Macht ist infolgedessen nahezu schrankenlos geworden. Er ist in der Lage, jegliche Entscheidungen zu treffen, die er für zweckmäßig hält, und sie durch Weisungen an die anderen Staatsorgane, aber auch an nichtstaatliche Organisationen durchzusetzen. Putins Superpräsidentialismus ist infolgedessen eine „Diktatur“, eine „Präsidialdiktatur“ geworden.[10]

Vladimir Putins Karriere und die Entwicklung seiner Präsidentschaft zu einer Autokratie und Diktatur werfen die Frage auf, welche Faktoren und Umstände es waren, die ihm zu diesem im 21. Jahrhundert, auch im internationalen Vergleich, beispiellosen Erfolg verholfen haben.

Es sind sowohl subjektive, in der Person Vladimir Putins liegende Eigenschaften und Fähigkeiten als auch objektive Faktoren gewesen, also die nach dem Zerfall der Sowjetunion im Russland der 1990er Jahre bestehenden Verhältnisse der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Neuordnung, die Vladimir Putins Aufstieg auf den Gipfel der Macht im Staate ermöglicht haben.

Was die subjektive Seite anbelangt, wissen wir von Putin selbst, dass er von seiner Kindheit und Jugend an eine Kämpfernatur war, dass er sich als Leningrader Straßenjunge körperlich mit Gleichaltrigen maß, sich nicht unterkriegen lassen wollte und danach strebte, sich hervorzutun.[11] Noch als Schüler meldete er sich beim KGB und erklärte, im Staatssicherheitsdienst arbeiten zu wollen. Eigenbewerbungen, so wurde ihm gesagt, lehne man ab, doch erhielt Putin den Tipp, Jura zu studieren, da das die Chancen verbessere, vom KGB aufgenommen zu werden. Er folgte dem Rat.

Der KGB, nach landläufiger Propagandaphrase in der Sowjetunion „Schild und Schwert“ der Partei, war neben der KPdSU die Machtorganisation des Sowjetstaates par excellence, und so offenbarten sich in dem jugendlichen Wunsch Vladimir Putins schon ungewöhnlich früh Machtorientierung, Machtwillen und Machtstreben und eine Bewunderung von Stärke sowie seine Bereitschaft, beliebige Aufträge des Staates zu erfüllen und dabei auch Gewalt anzuwenden.

Und noch etwas ist sehr bemerkenswert: die Wahl des Jurastudiums, um „Tschekist“ zu werden, d.h. einer Institution zu dienen, welche qua definitione die Macht über das Recht stellte und das Recht für beliebige Zwecke der staatlichen Machtausübung instrumentalisierte.[12]

Putins Spezialausbildung zum Spion im Ausland haben ihn zu einem überzeugten und entschlossenen Kämpfer für das vom Machtprinzip beherrschte Sowjetsystem gemacht und bei ihm solche Fähigkeiten gefördert und entwickelt, die für eine erfolgreiche Spionagetätigkeit – insbesondere für die Anwerbung von Spionen – schlechterdings entscheidend waren: Selbstbeherrschung, Geistesgegenwart, Vorsicht und Geduld, die Fähigkeit, komplexe Situationen rasch zu überblicken und selbständig Entscheidungen zu treffen, Phantasie, Menschenkenntnis, Täuschung, schauspielerische Verstellungskunst, zielstrebiges Umgarnen und Manipulation von Mitmenschen, aber auch uneingeschränkte Loyalität gegenüber dem Sowjetstaat in Gestalt seiner KGB-Vorgesetzten und der politischen Führer der UdSSR.

Kurz: Vladimir Putin absolvierte durch seine Ausbildung und seine Tätigkeit im KGB die „hohe Schule“ einer Organisation, die ganz und gar auf die Theorie, die Praxis und die Psychologie effektiver staatlicher Machtausübung ausgerichtet war. Davon ist Putins Charakter geprägt worden, und das umso nachhaltiger, als Putin schon früh davon geträumt hatte, dem KGB anzugehören.

Die KGB-Schulung hat Vladimir Putin aber offensichtlich auch die Fähigkeit vermittelt, in der Nähe von starken, mächtigen Politikern in untergeordneten Funktionen loyal und effizient zu arbeiten. In solche Situationen kam Vladimir Putin, als er 1990 aus der DDR in die Sowjetunion zurückkehrte.

Das führt zu den objektiven Faktoren und Umständen, unter denen sich der Aufstieg Vladimir Putins zur höchsten Macht in Russland vollzog. Im Januar 1990 in seine Heimatstadt Leningrad zurückgekehrt, wurde Putin vom KGB im Rektorat der Staatsuniversität untergebracht, von wo aus es ihm auch dank seiner Deutschlanderfahrungen gelang, in Kontakt zu Prof. Anatolij Sobčak, Zivil- und Wirtschaftsrechtler in der juristischen Fakultät, zu treten. Sobčak schickte sich damals als einer der glänzendsten Redner des Volkskongresses der UdSSR an, zu einem Führer der demokratischen Opposition in Russland aufzusteigen.[13] Tatsächlich wurde er kurz darauf Vorsitzender des Leningrader Stadtsowjets.[14] 1991 folgte seine Wahl zum Oberbürgermeister St. Petersburgs. Er machte Vladimir Putin zu einem seiner drei Stellvertreter.

In den folgenden fünf Jahren leitete Putin, weitgehend selbständig und erfolgreich, die Außenwirtschaftsbeziehungen der Stadt. Das schloss Auslandsinvestitionen, Privatisierung, Vergabe von Lizenzen sowie den Rohstoff- und Energieexport aus dem Norden Russlands über St. Petersburg nach Europa und insbesondere nach Deutschland, aber auch mancherlei diplomatische Aktivitäten ein.

Aus dem subalternen, unscheinbaren und unbekannten KGB-Spion aus Dresden wurde Vladimir Putin in jenen Jahren zu einem versierten Administrator mit großer Erfahrung in wirtschaftlichen und finanziellen sowie in regional- und kommunalpolitischen Angelegenheiten. Diese Erfahrungen und die Verbindungen zu den Petersburger Politikern in Moskau erleichterten es Vladimir Putin, nach Moskau in die Administration Präsident El’cins hinüberzuwechseln, als Anatolij Sobčak 1996 nicht wiedergewählt wurde und auch Putin sein Amt verlor.[15]

Nahezu unberührt von den politischen und personellen Intrigen und Krisen in der zweiten Amtszeit Präsident Boris El’cins erlebte Putin in den folgenden drei Jahren einen zügigen Aufstieg in der Präsidialadministration und der föderalen Regierung: Zunächst wurde er stellvertretender Leiter der Wirtschafts- und Liegenschaftsverwaltung des Kreml, dann wurde er zum Chef der Verwaltung über die Kontrolle der Regionen Russlands ernannt und bald darauf zu einem der Stellvertretenden Chefs der Präsidialadministration. Im Juli 1998 schied Putin formell aus der Administration aus und trat an die Spitze des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), dem „Haupterben“ des KGB. Im Frühjahr 1999 machte Präsident El’cin ihn zusätzlich zum Sekretär des Sicherheitsrates, womit Putin faktisch Koordinator aller Sicherheitsressorts Russlands wurde.[16]

Am 9. August 1999 folgte seine Ernennung zum Chef der Regierung Russlands.[17] Das geschah in einer krisenhaften, politisch äußerst unangenehmen Lage, weil vom Gebiet der seit 1996 faktisch unabhängigen Republik Tschetschenien seit einigen Wochen militärische Übergriffe auf die Republik Dagestan ausgingen und die russländische Zentralregierung der Destabilisierung des Nordkaukasus nahezu macht-, rat- und hilflos zuschaute.[18]

Mit der Ernennung Putins zum Regierungschef änderte sich die Lage schlagartig. Keine vier Wochen später kam es binnen weniger Tage in Moskau, Volgodonsk und Rjazan’, also in Zentralrussland, zu Explosionen in Wohnhäusern, denen Dutzende Bewohner zum Opfer fielen. Die Regierung sprach von Terroranschlägen und machte für sie sofort tschetschenische Terroristen verantwortlich, aber schon damals deuteten auffällige Widersprüche und Ungereimtheiten in der offiziellen Behandlung der Vorgänge darauf hin, dass die Terrorakte auf das Konto des FSB gingen.[19] Seither ist die Indizienkette so lang geworden, dass diese Feststellung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getroffen werden kann.[20] Die Befehle zu den Terrorakten gaben Putin und Nikolaj Patrušev, der am 9. August 1999 zum Chef des FSB und damit zum Nachfolger Putins ernannt worden war.

Die Terrorserie brachte den erhofften Erfolg: eine breite Welle von Empörung und Wut auf die Tschetschenen ergriff Russlands Öffentlichkeit und beflügelte Ministerpräsident Putins Kurs, den Separatismus Tschetscheniens militärisch endgültig niederzuschlagen.

Der nun beginnende zweite Tschetschenienkrieg zeigt, dass Vladimir Putin zu einem Machtpolitiker geworden war, der berechnend, bedenkenlos und zynisch alle ihm nun zu Gebote stehenden Machtmittel und sogar terroristische Gewalt gegen die eigenen Bürger einzusetzen bereit war, um sich mit Blick auf die unmittelbar bevorstehenden Duma-Wahlen und die bald danach anstehenden Präsidentenwahlen dem Wahlvolk Russlands als starker Garant von öffentlicher Sicherheit, Ruhe und Ordnung zu empfehlen.

Das Kalkül ging auf: Vladimir Putin wurde innerhalb weniger Monate nicht nur russlandweit bekannt, sondern er erwarb gleichsam über Nacht starke Autorität und breites Vertrauen. Seine demoskopischen Popularitätswerte schossen in die Höhe und übertrafen die Umfrageergebnisse aller anderen, seit langem im Lande bekannten Politiker. Es folgten der Sieg seiner in wenigen Wochen aus dem Boden gestampften Partei bei den Duma-Wahlen im Dezember 1999, Präsident El’cins Rücktritt am 31. Dezember, Putins Ernennung zum geschäftsführenden Präsidenten und schließlich Putins Sieg bei den Präsidentschaftswahlen am 26. März 2000.[21]

Fragt man, inwieweit sich Putin mit Staatsmännern vergleichen lässt, die ebenfalls eine Autokratie und Diktatur errichtet haben, dann fällt der Blick in Europa auf Stalin und Hitler. Auch sie waren durch und durch Machtmenschen, aber bei mancherlei Gemeinsamkeiten überwiegen deutlich die Unterschiede zwischen ihnen als politische Charaktere und hinsichtlich der von ihnen errichteten Regime.[22]

Im Unterschied zu Stalin war Hitler eine charismatische Persönlichkeit. Anders als Stalin organisierte er seinen politischen Aufstieg bis zur Machtergreifung durch eine von ihm geschaffene, ganz auf ihn zugeschnittene Bewegung und Partei. Das von ihm geschaffene Regime war eine extrakonstitutionelle, ideologisch untermauerte und zugleich überhöhte charismatische Herrschaft, die allein auf seine Person als „Führer“ ausgerichtet war.

Stalin Aufstieg zur Macht als Generalsekretär der Kommunistischen Partei hingegen verlief im Schatten zweier charismatischer Revolutionsführer – Lenin und Trockij – und mit Hilfe ihres „Apparates“, und er besaß das Image eines farblosen Apparatschiks ohne besondere Ausstrahlung.

Vergleicht man damit den Aufstieg Vladimir Putins zur Macht und das Profil des von ihm errichteten politischen Regimes, springt die weite Distanz zum Herrschaftssystem Adolf Hitlers ins Auge. Die in der russischen, Putin-kritischen Publizistik gelegentlich anzutreffende Apostrophierung Putins als „Putler“ (d.h. Putin-Hitler) geht über die manifesten Unterschiede beider Regime schweigend hinweg und ist daher nicht überzeugend. Anders als Hitler hat Putin keine totalitäre Staatsideologie eingeführt und verzichtet auf eine Massenmobilisierung als Basis seines Regimes, um nur die auffälligsten Unterschiede zu nennen.

In einer Hinsicht drängt sich ein Vergleich Vladimir Putins mit Adolf Hitler allerdings auf und zwar mit Blick auf den am 24. Februar 2022 entfesselten großen Krieg gegen die Ukraine, mit dem Putin – wie Adolf Hitler 1939 – sämtliche Völkerrechtsprinzipien brutal verletzt hat und bis heute weiter verletzt. Beide vereint ein unverhüllter Völkerrechtsnihilismus. Er tritt im Falle Putins und Russlands formalrechtlich und politisch schärfer als im Falle Hitlers und des Deutschen Reiches hervor, weil Russland unter der Ägide einer Weltorganisation handelt, an die UNO-Charta gebunden ist und als Ständiges Mitglied mit Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat gewissermaßen zum „Direktorium“ der UNO gehört. Demgegenüber waren die Kriegführung und das Besatzungsregime Deutschlands aufgrund eines rassistisch begründeten Vernichtungskrieges, insgesamt gesehen, ungleich brutaler als die Kampfeinsätze Russlands im laufenden Ukrainekrieg, selbst wenn man die namentlich in Buča, Irpin’ und Mariupol’ von den russländischen Streitkräften begangenen grausamen Verbrechen einbezieht.[23]

Gewisse, wenngleich eher entfernte, strukturelle Gemeinsamkeiten bestehen zwischen den Machtmenschen Putin und Stalin. Der Aufstieg beider an die Spitze des Staates vollzog sich im Schatten charismatischer Politiker – hie Lenin und Trockij, dort Sobčak und El’cin. Sowohl Stalin als auch Putin waren in den Jahren ihres Aufstiegs zur Macht zwar effektiv arbeitende, aber für die breite Öffentlichkeit unauffällige Funktionäre ihrer Apparate, wobei allerdings Stalin schon früh, nämlich 1922, mit der Übernahme der Funktion des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei zum mächtigsten Mann des Parteiapparates aufgestiegen war. Gleichwohl brauchte Stalin noch weitere zwölf Jahre – bis zur Ermordung Sergej Kirovs am 1. Dezember 1934 –, um unangefochtener Parteichef und Machthaber der UdSSR zu werden. Bis dahin war sein Weg an die Spitze von harten Kämpfen mit seinen in der Partei teilweise sehr populären Rivalen begleitet. Die bedeutendsten – Rykov, Kamenev, Zinov’ev und Bucharin – ließ er im Zuge des Großen Terrors umbringen, Trockij im Exil ermorden.

Putin musste sich unter völlig anderen verfassungsrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen gegen demokratische Rivalen in Wahlen behaupten und durchsetzen, was er erst nach Ablauf der Präsidentschaft Dmitrij Medvedevs, also 2012, endgültig realisiert hat. Nachdem die massive Verfälschung der Duma-Wahlen vom Dezember 2011 eine breite Protestwelle ausgelöst hatte, die wesentlich von der liberal eingestellten neuen städtischen Mittelschicht getragen wurde, und die Massendemonstrationen in Moskau und St. Petersburg Bildern glichen, die Vladimir Putin und die ihn unterstützenden Siloviki fatal an die „Farbrevolutionen“ und politischen Umstürze in Georgien, der Ukraine und Kyrgyzstan erinnerten, zog Putin nach seiner Rückkehr in das Präsidentenamt Anfang Mai 2012 einen Schlussstrich unter das „liberale Intermezzo“ der Präsidentschaft Dmitrij Medvedevs. Mit aller Härte gingen die Sicherheitskräfte nun gegen die demonstrierenden Gegner seiner Amtsübernahme vor („Bolotnoe delo“), die demokratischen Freiheitsrechte (Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) sowie die Nutzung des Internets wurde wellenartig immer schärfer einschränkenden Gesetzen sowie administrativen und strafrechtlichen Repressionen unterworfen.[24]

Vladimir Putin hat sich in den bald 25 Jahren an der Spitze des Staates in Auftreten, Habitus und Physiognomie stark verändert. Zwar war er immer primär machtorientiert, aber in seinen ersten beiden Amtsjahren ideologisch nicht festgelegt, vielmehr nicht selten pragmatisch und flexibel. Das hat sich seit seiner dritten Amtszeit, also seit 2012, merklich geändert: Putins politisches Auftreten wurde starrer, schärfer, härter und autoritärer, Charakterzüge, die durch die Pandemie und die von ihr erzwungenen Einschränkungen der Kommunikation mit seiner Umgebung und mit der Außenwelt verstärkt wurden. In dieselbe Richtung hat, je länger er an der Macht ist, seine sich allmählich einer Paranoia annähernde Angst gewirkt, das Opfer eines Anschlags zu werden.

Das alles zusammengenommen hat Putin noch weitaus mehr, als es das Protokoll des Präsidentenamtes immer und überall mit sich bringt, von der Mitwelt isoliert und die Distanz zu den wichtigsten Stützen seines Regimes vergrößert. Davon konnte sich sogar die Weltöffentlichkeit ein lebendiges Bild machen, als das Staatsfernsehen die Sitzung des Sicherheitsrates Russlands vom 21. Februar 2022 übertrug.[25]

Und schließlich hat noch ein Faktor zur Schwächung des Vladimir Putin anfänglich kennzeichnenden Pragmatismus geführt: Seine zunehmende ideologische Fixierung auf eine geschichtliche Mission, nämlich noch unter seiner Präsidentschaft das Russländische Imperium zumindest in Gestalt der drei ostslawischen Staaten Russland, Ukraine, Belarus wiederherzustellen.

Mit der „militärischen Spezialoperation“, d.h. mit dem im KGB-Stil geplanten Blitzkrieg zur politisch-militärischen Enthauptung und Unterwerfung der Ukraine, beabsichtigte Vladimir Putin ganz offensichtlich, seine Autokratie, seine Präsidentschaft und seinen Platz in der Geschichte Russlands zu krönen. Das ist, wie die ganze Welt schon nach wenigen Wochen sehen konnte, gründlich schiefgegangen, weil Putin und Russlands Sicherheitsdienste sich in mehrfacher Hinsicht schwer verrechnet haben:

Putins Herrschaftsweise und Praxis der Machtausübung reichten bis zum Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 vollkommen für die innere Kontrolle Russlands. Und durch das Nebeneinander von rivalisierenden und sich gegenseitig kontrollierenden Machtressorts (Siloviki) sowie personelle Umbesetzungen konnte er verhindern, dass sich irgendein autonomes Machtzentrum in den kremlnahen Eliten und den von ihnen geführten und repräsentierten Apparaten bilden konnte.

Musterbeispiele dafür sind die Entmachtung des Interimspräsidenten Dmitrij Medvedev und des Ex-Verteidigungsministers Sergej Ivanov, die Putin 2007 der Öffentlichkeit als mögliche Kandidaten für seine 2008 anstehende Nachfolge präsentiert hatte. Im Zuge der Verfassungsrevision von 2020 verlor Dmitrij Medvedev das Amt des Regierungschefs und wurde stattdessen von Putin zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates Russlands ernannt. Das kam seiner Entmachtung gleich, weil die operative Leitung des Sicherheitsrates nach wie vor in den Händen seines Sekretärs lag, des ehemaligen FSB-Chefs Nikolaj Patrušev. Medvedev hatte damit nicht nur das mächtigste Amt des „zivilen Regierungsapparates“ verloren, sondern auch die verfassungsrechtliche Anwartschaft auf das Amt des Präsidenten im Falle von dessen Vakanz. Er musste das Amt des Regierungschefs an den farblosen Chef der Steuerbehörde Michail Mišustin abgeben. In den Sicherheitsinstitutionen des Landes ist Medvedev seither eine fremde, machtlose Figur geblieben.

Sergej Ivanov war von 2001 bis 2007 Verteidigungsminister Russlands gewesen und wurde dann – gleichauf mit Dmitrij Medvedev – Stellvertretender Chef der föderalen Regierung und wie Medvedev ein möglicher „Kronprinz“ Präsident Putins. Ende 2011 wurde Ivanov, schon im Vorgriff auf Putins Rückkehr ins Präsidentenamt, Chef der Präsidialadministration. 2016 verlor er das mächtige Amt und Putin machte ihn zu seinem Sonderbeauftragten für Naturschutz, Ökologie und Verkehrswesen. Das bedeutete: Einst auf den Höhen staatlicher Macht und eine mögliche Alternative zu Präsident Putin ist Sergej Ivanov auf einem machtpolitisch offensichtlich bedeutungslosen Posten gelandet. Zwar hat er einen Sitz im Sicherheitsrat Russlands, aber das erweckt den Eindruck eines freundschaftlichen „Trostpflasters“ und einer Entschädigung für frühere Verdienste.

Wie sicher sich Präsident Putin in seiner Machtstellung fühlte und wie souverän er mit den personellen und institutionellen Sicherheitsstrukturen Russlands umging, zeigt nichts deutlicher als der Aufstieg von privaten Söldnerunternehmen seit seiner dritten Amtszeit, also seit 2012, und ganz besonders der Aufstieg des berüchtigten „Privaten Militärunternehmens“ Wagner, des mit Abstand bedeutendsten von ihnen.[27] Dessen Gründung, Organisation und Einsatz waren eine typische geheimdienstliche Maßnahme nach Putins Geschmack! Das zeigt gerade ihre juristische Seite:

Zwecks Umgehung des ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verbots, nichtstaatliche bewaffnete Formationen zu schaffen (Art. 13 Abs. 5), des strafrechtlichen Verbots der „Organisation eines gesetzwidrigen bewaffneten Verbandes oder der Teilnahme in einem solchen“ (Art. 208 StGB RF) sowie des strafrechtlichen Verbots von „Söldnertum“ (naemničestvo, Art. 359 StGB RF)[28] wurde geheim gehalten, dass die Söldnertruppe „Wagner“ der Hauptverwaltung für Aufklärung beim Generalstab der Streitkräfte (GRU), also dem Verteidigungsministerium Russlands, unterstellt ist.[29] „Wagner“ wurde zur verdeckten Unterstützung von Zielen der russländischen Außenpolitik nur im Ausland eingesetzt, nämlich in Afrika und im Nahen Osten (Syrien, Libyen).

Ab 2014 kam „Wagner“ sowohl bei der Okkupation der Krim als auch im verdeckten Krieg im Donbass zum Einsatz.[30] Es dauerte aber noch bis September 2022, dass deren Chef Evgenij Prigožin die Maske fallen ließ und öffentlich zugab, dass er „Wagner“ zur Stärkung der russländischen Streitkräfte gegründet habe.[31] Doch erst nach Prigožins gescheitertem Aufstand am 24. Juni 2023 beendete Präsident Putin das Versteckspiel und verkündete öffentlich – nicht ohne Entrüstung und Wehleidigkeit –, dass „Wagner“ aus dem Staatshaushalt jahrelang mit dreistelligen (Rubel-) Milliardenbeträgen finanziert worden sei.[32]

Damit bestätigte er, was sorgfältige Beobachter seit langem ermittelt hatten: Die Söldner-Armee „Wagner“ ist ein legitimes Kind des Tschekisten Vladimir Putin, das unter seiner Fürsorge aufwuchs und groß geworden ist. Wider Erwarten hat es sich jedoch gegen seinen Erzeuger gewandt und ihm die schlimmste Krise seiner autokratischen Herrschaft beschert.

Spätestens der „Wagner-Aufstand“ vom 24. Juni 2023 zeigt, dass der im Ansatz gescheiterte Blitzkrieg gegen die Ukraine und seine Folgen die Lage des Putinregimes fundamental verändert haben. Der sich in die Länge ziehende Krieg erweist sich als eine Zäsur, welche das Regime nach Jahren der Stagnation und eines schleichenden Niederganges erfährt: In der langen Zeit von Putins Herrschaft hat das Verwaltungs- und Wirtschaftssystem Russlands einen langsamen Qualitäts- und Effektivitätsverlust erfahren, wozu nicht zuletzt die westlichen Sanktionen seit der Krim-Annexion beigetragen haben.[33] Nahezu sämtliche Reformprojekte der Regierung sind seit Beginn der Präsidentschaft Putins gescheitert. Trägheit, Immobilismus, Alltagsroutine, Intrigen, Ressortegoismus, Korruption und Kriminalität sind seit langem chronische Krankheitssymptome des Regimes geworden.

Davon konnten seine Nutznießer nicht unberührt bleiben: Die in der langen Putin-Ära im internen Intrigenspiel alt, reich, schwerfällig und risikoscheu gewordene und subaltern erstarrte Hof-Bürokratie des Präsident ist den neuen und völlig anderen Anforderungen – politischen, administrativen, wirtschaftlichen, militärischen und psychologischen in dem von Putin mutwillig ausgelösten, mörderischen Krieg nicht mehr gewachsen, – an vorderster Stelle der militärisch unerfahrene Verteidigungsminister Sergej Šojgu und der vorwiegend als Militärtheoretiker hervorgetretene Generalstabschef Valerij Gerasimov.

An den Schwächen jener beiden nach Putin als Oberbefehlshaber höchsten Führer der Streitkräfte hatte die sich seit Spätsommer 2022 verschärfende Kritik Evgenij Prigožins entzündet, die schließlich in seiner Forderung an Präsident Putin kulminierte, Šojgu und Gerasimov zu entlassen und durch fähigere Militärführer zu ersetzen. Präsident Putin hat das nicht nur abgelehnt, sondern im Gegenteil verfügt, dass sich die Wagner-Truppe zum 1. Juli 2023 in die regulären Streitkräfte einzufügen habe, sich also Šojgu und Gerasimov unterstellen sollte.[34]

Prigožin war nicht bereit, den Befehl hinzunehmen und auszuführen, weil das das Ende seines privaten militärischen Imperiums bedeutet hätte, und entschied sich dafür, mit der Besetzung der Kommando-Zentrale der Streitkräfte in Rostov am Don und dem Marsch seiner Truppen gen Moskau, also durch Druck auf Putin, die Entlassung Šojgus und Gerasimovs doch noch zu erreichen.

Putin, der sich in die präsidiale Kommandozentrale in den Valdaj-Höhen im Gebiet von Novgorod abgesetzt hatte, lehnte die Forderung jedoch ab, und damit befand sich Prigožin in einem Dilemma, denn das Ziel seines Marsches auf Moskau konnte er nicht erreichen.[35] In einem Dilemma steckte aber auch Präsident Putin, denn weder der FSB noch die Armee noch die Nationalgarde hielten die Wagner-Söldner auf ihrem Marsch nach Moskau auf. Vielmehr verhielten sie sich – ebenso wie die Bevölkerung – passiv und warten ab.

Das zweiseitige Dilemma löste der belarussische Staatspräsident Lukašenka auf: Die von ihm zwischen Präsident Putin und Prigožin vermittelte Vereinbarung verschaffte Prigožin und Präsident Putin einen Ausweg: Putin ließ das Strafverfahren gegen Prigožin und seine Söldner einstellen und gab seine Zustimmung zu ihrem Abzug nach Belarus, sofern sie nicht bereit waren, sich in die russländischen Streitkräfte einzugliedern.[36] Die Vereinbarung wurde tatsächlich ausgeführt. Ob sie dauerhaft Bestand haben wird und welches Schicksal die Wagner-Truppen in Belarus haben werden, ist ungewiss.

Prigožins Aufstand war das Menetekel für einen möglichen Zusammenbruch des Putin-Regimes. Das Zeichen war genau genommen nicht der Aufstand selbst, sondern die Tatsache, dass die Pfeiler der Macht des Putin-Regimes wankten, und weder der FSB, noch die Armee und noch nicht einmal die Nationalgarde, die 2016 speziell zur Niederschlagung von Unruhen und derartigen Gefährdungen gegründet worden war, eine Hand zum Schutz des Präsidenten rührten.[37] Der Durchmarsch bis Moskau wäre möglich gewesen. Wie in Rostov und in Voronež hätte sich auch die Bevölkerung Moskaus der Wagner-Truppe nicht entgegengestellt, sondern die Zuschauerrolle vorgezogen.[38]

„Der Kaiser ist nackt!“, der zum Sprichwort gewordene Ausruf des Kindes in Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ wurde während des Prigožin-Aufstandes von Beobachtern wiederholt zitiert.[39] Kein Zweifel: Das war der schwerste Schlag für das Putin-Regime: Denn für jedermann – für die Vertreter der Eliten ebenso wie für das Volk – wurde plötzlich und erstmals in einer politisch höchst dramatischen Situation sichtbar, dass der allmächtig erscheinende Präsident Russlands schutzlos und aus Moskau geflohen, dass der Machtmensch Vladimir Putin plötzlich machtlos war.

Mag sich das Putin-Regime noch eine Weile, gewissermaßen nach dem Trägheitsgesetz, halten, – der Aufstand der privaten Wagner-Armee vom 23./24. Juni 2023 dürfte der Anfang vom Ende der von Vladimir Putin errichteten Autokratie und seiner Präsidialdiktatur sein.

Vladimir Putin im Spiegel von Ian Kershaws sieben Hypothesen zum Verhältnis von Persönlichkeit und Staatsmacht

Kershaws Hypothesen-Katalog formuliert ausschließlich objektive Faktoren und Rahmenbedingungen, unter denen eine Person handelt und mit denen sie sich auseinanderzusetzen hat, wenn sie nach staatlicher Macht und Herrschaft strebt. Welches Gewicht der jeweilige Faktor im Einzelfall hat und wie stark er auf die betreffende Person einwirkt, hängt von den konkreten, wechselnden Umständen ab und lässt sich daher nicht abstrakt und im Einzelnen vorweg bestimmen.[40] Feststellen lässt sich jedoch, dass die Dimensionen und dementsprechend auch die Wirkungsmacht der von dem Katalog erfassten objektiven Faktoren als solche sehr verschieden sind:

  1. Die Wirkung des Einzelnen ist in oder unmittelbar nach großen politischen Unruhen, wenn vorhandene Strukturen zusammenbrechen oder zerstört werden, am größten.
  2. Die entschlossene Verfolgung leicht zu definierender Ziele und ideologische Unnachgiebigkeit, kombiniert mit taktischem Geschick, versetzen bestimmte Einzelne in die Lage, sich hervorzutun und Anhänger zu gewinnen.
  3. Die Ausübung und das Ausmaß persönlicher Macht sind durch die Umstände der Machtübernahme und die erste Phase der Konsolidierung bedingt.
  4. Machtkonzentration vergrößert das Wirkpotential des Einzelnen, häufig mit negativen, manchmal sogar katastrophalen Folgen.
  5. In Kriegen unterliegen sogar mächtige politische Führer den überwältigenden Zwängen der Militärmacht.
  6. Die Macht und der Handlungsspielraum von Führern hängen in erheblichem Maß von der institutionellen Basis und der relativen Stärke ihrer Unterstützer ab, vor allem im zweiten Rang der Macht, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit.
  7. Eine demokratische Regierungsform legt dem Einzelnen hinsichtlich seiner Handlungsfreiheit und des Ausmaßes, in dem er den historischen Wandel bestimmen kann, die engsten Zügel an.

zu 1: Die Wirkung des Einzelnen ist in oder unmittelbar nach großen politischen Unruhen, wenn vorhandene Strukturen zusammenbrechen oder zerstört werden, am größten.

Die These wird durch Vladimir Putins Aufstieg zum Präsidenten Russlands vollkommen bestätigt, denn er fand in der Phase der Um- und Neugestaltung unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion statt.

Nachdem sich schon während der Perestrojka Michail Gorbačevs die wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände der Menschen in Russland laufend verschlechtert hatten, wurden die Verhältnisse nach dem Untergang der UdSSR nicht besser. Russlands Weg in die postsowjetische Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit war mit laufenden mehr oder weniger schweren Krisen gepflastert, die wegen der revolutionären politischen und sozioökonomischen Neuerungen zwar unausweichlich waren, von den an die Stabilität der Brežnev-Ära gewöhnten Bürgern aber als Verlust erlebt wurden.[41] Am Anfang standen in der Wirtschaft die Freigabe der Preise („Schocktherapie“) und die desaströse (Voucher-) Privatisierung der großen Staatsunternehmen, gefolgt von dem Konflikt mit dem Obersten Sowjet wegen des Streits über die Verfassung, den Präsident El’cin 1993 mit einem Staatstreich für sich entschied (1993). Der anschließende Krieg gegen die separatistische Republik Tschetschenien (1994–1996) endete mit einer Niederlage des Kreml und ermunterte die wirtschaftlich starken Regionen wie etwa Tatarstan, sich von der Föderation – mit Erfolg – vertraglich Sonderrechte übertragen zu lassen. Verheerende Folgen hatte die Finanzschwäche der Föderation, die nicht zuletzt auf den Schwächen ihrer Steuerverwaltung beruhte. Erstens bewirkte sie, dass durch Finanzmanipulationen, Insidergeschäfte und politische Korruption einige Dutzend privater Geschäftsleute und Bankiers in kurzer Zeit steinreich wurden („Oligarchen“), was starke Verwerfungen in der Wirtschaft nach sich zog. Zweitens führte die staatliche Schwäche zur Steuerschöpfung zu immer neuen Emissionen von hochverzinslichen Staatsobligationen (GKO), welche die Staatsverschuldung in die Höhe trieben. Im August 1998 kam es zum Staatsbankrott. Und noch ein Faktor kommt hinzu, der die soziale Instabilität dieser Jahre verschärfte: eine auf die Ausweitung der Geldmenge zurückzuführende, dramatisch angestiegene Inflation, die zu Sowjetzeiten keine Rolle gespielt hatte, also ein neues Phänomen war, das als bedrohlich empfunden wurde.[42]

Zwar hatten sich die Verhältnisse im Vergleich mit der Sowjetzeit in mancher Hinsicht, etwa bei den politischen Grundrechten, grundlegend verbessert, aber die erdrückende Mehrheit der Bürger erlebte die 1990er Jahre als dramatische Verschlechterung ihrer materiellen Lebensverhältnisse.

„Die Verschlechterung der Lage eines relevanten Teils der Bevölkerung kam darin zum Ausdruck, dass der Anteil der Armen auf ein Drittel wuchs, das Realeinkommen beim überwiegenden Teil der Bevölkerung massiv zurückging, die Arbeitslosigkeit stieg, das Vertrauen in den nächsten Tag verloren ging, die Qualität der Ernährung und die Möglichkeiten zur Erholung sowie des Zugangs zum Bildungs- und Gesundheitswesen schlechter wurden, der Besuch von Kulturveranstaltungen unmöglich und die Wohnverhältnisse und kommunalen Dienste schlechter wurden.“[43]

Eine Ursache sozialer Unzufriedenheit und öffentlicher Proteste waren verspätete oder ausfallende Lohn- und Rentenzahlungen.

Die unvermeidliche Folge dieser Enttäuschungen war, dass die Reformpolitik von Präsident El’cin und seiner Regierungen auf Ablehnung stieß. Nach dem Staatsbankrott von 1998 und der Entlassung seiner Regierung zeigten demoskopische Umfragen, dass bei einer breiten Mehrheit der Bürger eine deutliche Veränderung der politischen Vorstellungen und Prioritäten eingetreten war:[44] Der Reformkurs und „das Kopieren des westlichen Modells“ wurden abgelehnt; eine positive Entwicklung Russlands sei nur von einer Politik der „harten Hand“ zu erwarten, und der Staat müsse sich auf „soziale Garantien“ für bestimmte Schichten der Bevölkerung konzentrieren.

Fragt man, wie es möglich war, dass Vladimir Putin in der Administration Präsident El’cins und unter den von ihm ernannten Ministerpräsidenten eine so gradlinige und reibungslose Karriere machen konnte, ohne mit der in Misskredit gekommenen Wirtschafts- und Finanzpolitik des Kreml identifiziert und für sie haftbar gemacht zu werden, dann wohl deswegen, weil Putin unter Präsident El’cin keine genuin politischen Führungspositionen innehatte und sie auch nicht angestrebt hatte. Er war lediglich mit der Erfüllung von Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung des Kreml und der Kontrolle darüber betraut, dass die Regionen Russlands („Subjekte der Föderation“) die föderalen Gesetze und Regierungsverordnungen einhielten. Auch als FSB-Chef und Sekretär des Sicherheitsrates konnte er kaum mit einer bestimmten Reformpolitik identifiziert werden, sondern er war für die Wahrung der nationalen Sicherheit Russlands, Korruptionsbekämpfung und die Unterbindung von Staatsverbrechen zuständig. Putin erfüllte seine Aufgaben wie schon in St. Petersburg, möglichst geräuschlos, im schützenden Schatten von Organ und Funktion, ohne Anzeichen eines persönlichen politischen Ehrgeizes. Das entsprach seiner Neigung zur Zurückhaltung und zur abwartenden Beobachtung, die ihm durch die Ausbildung beim KGB zur zweiten Natur geworden war.

Putins Ernennung zum Ministerpräsidenten („Vorsitzender der Regierung“) am 9. August 1999 war infolgedessen eine große Überraschung, denn er war für die breite Öffentlichkeit auch Russlands ein „unbeschriebenes Blatt“. Aber noch erstaunlicher, ja rätselhaft musste es erscheinen, dass Boris El’cin ihn schon bei seiner Ernennung als Wunschkandidaten für seine Nachfolge bei den im März 2000 anstehenden Präsidentenwahlen bezeichnete, und zwar umso mehr, als Vladimir Putin schon der sechste Ministerpräsident war, den der Präsident seit April 1998 ernannte. Dementsprechend fielen die Kommentare zu der Entscheidung ungläubig, sarkastisch und ironisch aus.[45]

El’cin hatte jedoch triftige Gründe für seine Entscheidung. Ausschlaggebend war für ihn Putins unbedingte Loyalität gegenüber der Kremlführung und seine Entschlossenheit, Präsident El’cin und seine Familie gegen Strafverfolgungen von Seiten ihrer Gegner und insbesondere des Generalstaatsanwalts Russlands, Jurij Skuratov, zu verteidigen. Letzteres hatte Vladimir Putin überzeugend dadurch unter Beweis gestellt, dass er im Fernsehen ein vom FSB produziertes Video präsentieren ließ, das eine Skuratov ähnelnde Person mit zwei dazu angeblich genötigten Prostituierten in einem Hotelzimmer in flagranti zeigte, was zum Sturz des Generalstaatsanwalts führte.[46]

Kaum weniger wichtig für El’cins Entscheidung war die den Kreml in Panik versetzende Tatsache, dass am 4. August 1999 sich die von den Exekutivchefs der mächtigsten Regionen Russlands gebildeten Parteien Otečestvo (Vaterland) unter der Führung des Moskauer Oberbürgermeisters Jurij Lužkov und Vsja Rossija (Ganz Russland) unter dem Vorsitz des Gouverneurs von St. Petersburg, mit Blick auf die Duma‑Wahlen im Dezember zu einer Partei zusammengeschlossen hatten, womit Lužkov aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge Präsident El’cins wurde.[47] Das wollte der Kreml unter allen Umständen verhindern.

El’cins Kalkül ging auf, denn Putin schaffte es, mit dem Image des harten und erfolgreichen Kämpfers gegen den tschetschenischen Terrorismus die Duma-Wahlen zugunsten des Kremls zu entscheiden und nach seinem Aufstieg zum geschäftsführenden Präsidenten Russlands die bei den Duma-Wahlen unterlegene Partei Vaterland – Ganz Russland zu zwingen, mit der Kreml-Partei Einheit. Der Bär zur Partei Edinaja Rossija („Einheitliches Russland“) zu fusionieren. Als von Putin gesteuerte „Partei der Macht“ beherrschte sie von nun an die Föderalversammlung und die Regionalparlamente Russlands.

zu 2: Die entschlossene Verfolgung leicht zu definierender Ziele und ideologische Unnachgiebigkeit, kombiniert mit taktischem Geschick, versetzen bestimmte Einzelne in die Lage, sich hervorzutun und Anhänger zu gewinnen.

Vladimir Putin trat im Duma-Wahlkampf im Dezember 1999 und im anschließenden Präsidentenwahlkampf mit programmatischen Äußerungen unterschiedlich stark und insgesamt sehr dürftig hervor. Im Duma-Wahlkampf verzichtete er überhaupt auf ein Wahlprogramm. Er verließ sich ganz auf sein Image als unbeugsamer Kämpfer gegen Separatismus, als kompromissloser Verteidiger der territorialen Integrität Russlands und als Anhänger einer starken Präsidialmacht.

Texte, in denen er seine politischen Grundsätze und Ziele darlegte, veröffentlichte er erst Ende Dezember 1999, also kurz vor El’cins Rücktritt und unmittelbar vor seinem Wechsel in das Amt des geschäftsführenden Präsidenten.[48] Die darin ausgeführten Grundlinien seiner Politik als Präsident und Staatsoberhaupt lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen:[49] 1. Wiederherstellung einer voll funktionsfähigen Staatsgewalt vom Präsidenten bis zu den örtlichen Organen; 2. „Diktatur des Gesetzes“, d.h. unbedingte Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften durch alle Staatsorgane und Bürger; 3. Kampf gegen Kriminalität und Korruption; 4. Förderung von Wirtschaftswachstum durch Stärkung des Marktes und effektive Investitions- und Industriepolitik; 5. aktive Sozialpolitik; effektive Bekämpfung der Armut im Lande; 6. Integration der Nation auf der Grundlage der traditionellen russischen Werte: Patriotismus, Großmachtstatus (deržavnost’), Staatsbewusstsein (gosudarstvennost’); 7. Außenpolitik im nationalen Interesse mit Pragmatismus und zum Nutzen der Wirtschaft.

Der Katalog zeigt, dass sich die gegen Ende der El’cin-Ära demoskopisch ermittelten Wünsche der großen Mehrheit der Bürger mit den politischen Vorstellungen und Zielsetzungen Vladimir Putins nahezu vollständig deckten. Die sich während Präsident El’cins zweiter Amtszeit häufenden Anzeichen der Agonie und des Zerfalls der föderalen Staatsgewalt gaben der Sehnsucht nach einer im Staate mit „harter Hand“ durchgreifenden Präsidialmacht mächtigen Auftrieb. Dieser Sehnsucht kam Putin mit seinem ungeschminkt vertretenen Zentralismus und Autoritarismus maximal entgegen. Noch wichtiger war, dass es nicht bei solchen Deklarationen blieb, sondern dass Vladimir Putin sogleich, von dem Tage seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten an, seinen politischen Kurs entschlossen in die Tat umsetzte: Ab Mai 2000 im vollen Besitz des Präsidentenamtes, unterwarf Vladimir Putin parallel zum anhaltenden und mit äußerster Brutalität geführten Tschetschenienkrieg in nur wenigen Monaten, Schlag auf Schlag, nicht nur die anderen föderalen Verfassungsorgane, sondern auch die 89 Regionen Russlands der Kontrolle seiner reorganisierten Präsidialexekutive. Bis zur Verhaftung des erfolgreichen Unternehmers Michail Chodorkovskij und der Zerschlagung seines Jukos-Konzerns im Herbst 2003,[50] d.h. bis zum Ende seiner ersten Amtszeit, kontrollierte die Präsidialexekutive auch das unter El’cin steinreich gewordene Big Business („Oligarchen“) und die elektronischen Medien des Landes. In Präsident Putins zweiter Amtszeit (2004–2008) ging die Unterwerfung und Kontrolle der erst in der Entstehung begriffenen Zivilgesellschaft weiter.[51]

Dass Vladimir Putin seinen autoritären politischen Kurs nicht stur und doktrinär verfolgte, sondern zumindest in seinen ersten beiden Amtszeiten auch zu pragmatischem politischen Handeln und taktischen Wendungen fähig war, zeigte sich nicht nur in seiner Außen- und Sicherheitspolitik und in seiner Wirtschaftspolitik, sondern auch in seiner Innenpolitik.

Ein herausragendes, gleichwohl leicht zu übersehendes Beispiel innenpolitischer und verfassungspolitischer Taktik ist Putins „Ämtertausch“ mit Dmitrij Medvedev, der am 24. September 2007 verkündet wurde und mit Putins Wechsel in das Amt des Ministerpräsidenten (2008–2012) und Medvedevs Wechsel in das Amt des Präsidenten realisiert wurde.[52] Auch in jenen Jahren behielt Putin starke politische und juristische Hebel in der Hand, die ihm die strategische Kontrolle über die Präsidialexekutive sicherten, und zwar vor allem dadurch, dass er Vorsitzender der Kreml-Partei Einheitliches Russland mit diktatorischen Vollmachten wurde, dadurch sowohl die Staatsduma als auch den Föderationsrat, also den Gesetzgeber beherrschte, sodass er Präsident Medvedev im Konfliktfall per Impeachment absetzen konnte.

Medvedevs Intermezzo im Präsidentenamt verschaffte Putin einen von ihm offensichtlich angestrebten bedeutsamen Vorteil: Es eröffnete ihm ohne Änderung der für den Präsidenten geltenden Amtszeitenbegrenzung der Verfassung die Option, zwei weitere Amtszeiten als Präsident die Geschicke Russlands zu lenken.[53] Die Scheu, die Vladimir Putin 2007 noch beherrscht hatte, nämlich die Verfassung zur Befriedigung seines persönlichen Machtstrebens zu ändern, hat er 2020 abgelegt, indem er eine Verfassungsrevision durchpeitschte, deren normativer Kern eine „Lex Putin“ (Art. 81 Abs. 31), d.h. die Annullierung seiner beiden vorausgegangenen Amtszeiten, ist.[54]

zu 3: Die Ausübung und das Ausmaß persönlicher Macht sind durch die Umstände der Machtübernahme und die erste Phase der Konsolidierung bedingt.

Auch diese These trifft auf Vladimir Putins Weg in das Präsidentenamt vollauf zu. Das ergibt sich in der Sache schon aus den Ausführungen zu den beiden vorausgegangenen Thesen. Folgende Faktoren sind hervorzuheben: 1. Präsident El’cin ernannte Vladimir Putin am 9. August 1999 nicht nur zum Ministerpräsidenten, sondern „nominierte“ ihn intern auch als seinen Kandidaten für die Nachfolge im Präsidentenamt. El’cin unterstrich dies dadurch, dass er ihm nach seiner Bestätigung im Amt Mitte August durch die Staatsduma de facto die Ausübung der präsidialen Richtliniengewalt über die Sicherheitsressorts, namentlich das Verteidigungsministerium und das Innenministerium, überließ. Das gab Putin die Chance, sich sofort präsidentengleich in Szene zu setzen. Der kometenhafte Anstieg seiner Bekanntheit und politischen Autorität zeigen, welchen realen Machtgewinn Putin dadurch erlangte.

Boris El’cins Rücktritt vom Amt des Präsidenten am 31. Dezember 1999 und Putins Aufstieg zum geschäftsführenden Präsidenten verbesserten ganz wesentlich seine schon bisher überaus günstigen Aussichten, sich im nun anstehenden Wahlkampf gegen seine Mitbewerber um das Präsidentenamt durchzusetzen, und zwar umso mehr, als es ihm aufgrund des Ergebnisses der Duma-Wahlen bereits gelungen war, seinen gefährlichsten Rivalen aus der Partei „Vaterland – Ganz Russland“, Moskaus Oberbürgermeister Lužkov, auszuschalten.

Keine zehn Tage nach seiner Inauguration als Präsident begann Vladimir Putin mit der Unterwerfung und Gleichschaltung der Regionen und zwar mit dem Dekret vom 13. Mai 2000 über die Einteilung Russlands in sieben Föderale Bezirke, an deren Spitze er „Bevollmächtigte“ setzte, die mit einer einzigen Ausnahme aus dem Kreis der bewaffneten Sicherheitsorgane („Siloviki“) stammten.[55] Es folgten die Unterwerfung der „Oligarchen“, die Übernahme der Kontrolle über die nationalen Fernsehsender und eine laufende Stärkung und Aufwertung der Geheimdienste, voran des bis 1999 von Putin geleiteten FSB.

zu 4: Machtkonzentration vergrößert das Wirkpotential des Einzelnen, häufig mit negativen, manchmal sogar katastrophalen Folgen.

Die Richtigkeit der These ist so offenkundig, dass sie keiner Begründung mehr bedarf. Um sie für den Fall Putin zu illustrieren, genügt eine Auflistung der Kompetenzen, die Macht vermitteln.

Die Verfassungsrevision von 2020 hat den Prozess der Konzentration der Staatsgewalt Russlands in der Person Vladimir Putins abgeschlossen. Es ist eine Konzentration der Macht, wie sie das Land seit der Stalin-Ära nicht mehr erlebt hat, nicht einmal unter Partei- und Staatschef Leonid Brežnev: Vladimir Putin ist das Staatsoberhaupt Russlands und als Präsident der Inhaber der politischen Richtliniengewalt (Art. 80 Abs. 3 Verfassung RF). Er ist seit 2020 auch formalrechtlich der Chef der Exekutive und des Ministerkabinetts, der sogenannten „Regierung“ Russlands (Art. 110 Abs. 1 Verfassung), ferner der Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Art. 87 Abs. 1), der Vorgesetzte aller sonstigen bewaffneten Organe und der Geheimdienste des Landes (Art. 83 Buchstabe e1 Verfassung), außerdem ist er de facto Vorgesetzter des Generalstaatsanwalts (Art. 129 Abs. 2 Verfassung) und des Chefs des Föderalen Ermittlungskomitees, d.h. der beiden mächtigsten Akteure in der Justiz Russlands. Die volle Kontrolle der Präsidialexekutive über die Kremlpartei Edinaja Rossija sichert dem Präsidenten die politische und institutionelle Herrschaft über die Staatsduma und über nahezu sämtliche Regionalparlamente der „Subjekte der Föderation“.

Die Verfassungsrevision von 2020 hat die teils formellen, teils informellen Einwirkungsmöglichkeiten des Präsidenten auf die Gerichte stark ausgeweitet.[56] Das gilt auch für das föderale Verfassungsgericht, das unter ihrem seit zwanzig Jahren amtierenden Präsidenten Valerij Zor’kin zu einem ergebenen Erfüllungsgehilfen der Administration des Präsidenten herabgesunken ist.[57]

zu 5: In Kriegen unterliegen sogar mächtige politische Führer den überwältigenden Zwängen der Militärmacht.

Zwar hat Vladimir Putin seit seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten Russlands Kriege geführt, zunächst gegen die Republik Tschetschenien (1999–2009) und ab 2014 gegen die Ukraine, ab 2015 in Syrien und ab 2022 in massiver, großflächiger Form in der Ukraine, aber die These ist von Kershaw offensichtlich mit Blick auf das Verhalten Hitlers, Churchills und Stalins im Zweiten Weltkrieg formuliert. Ob sie auch auf die von Vladimir Putin geführten Kriege und insbesondere den laufenden Ukrainekrieg passt, ist schwer einzuschätzen. Zwar ist es nach dem Scheitern des geplanten Blitzkrieges mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Situationen gekommen, in denen Präsident Putin als Oberbefehlshaber der Streitkräfte wegen der gravierenden Fehleinschätzungen der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte gezwungen war, Entscheidungen über einen Rückzug von bestimmten Frontabschnitten zu treffen, aber ob oder inwieweit davon gesprochen werden kann, dass Putin unter einem „überwältigenden Zwang der Militärmacht“, also unter dem Druck des Verteidigungsministers und der Generalität, handelt, lässt sich vorläufig wegen der äußerst dürftigen Informationslage über die Entscheidungsprozesse im Kreml nicht mit hinreichender Sicherheit sagen.

zu 6: Die Macht und der Handlungsspielraum von Führern hängen in erheblichem Maß von der institutionellen Basis und der relativen Stärke ihrer Unterstützer ab, vor allem im zweiten Rang der Macht, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass auch ein monarchisches Herrschaftssystem wie die Autokratie oder die Präsidialdiktatur ohne einen Unterbau von Organen nicht auskommt, welche die Befehle ausführen, die ihnen von dem herrschenden Machthaber, sei es direkt oder über „Zwischenglieder“ des Exekutivapparates erteilt werden. Das ist im Falle Präsident Putins nicht anders. Als er 1999 den Vorsitz des föderalen Ministerkabinetts übernahm, stand ihm der gesamte zentrale Regierungsapparat als „institutionelle Basis“ zur Verfügung. Auf ihn hat er sich bei seiner Arbeit im Wesentlichen gestützt. Das gilt ebenso für seine Amtszeiten als Präsident Russlands, nur mit dem Unterschied, dass ihm in dieser Stellung unmittelbar auch noch die „Administration des Präsidenten“ untersteht, welche die Funktion einer „Oberregierung“ über dem Ministerkabinett innehat und dem Präsidenten als die eigentliche Regierungszentrale zur Verfügung steht.

Neben dem formalen, institutionellen Unterbau der Föderation haben in Putins Präsidialregime von Anfang an informelle, auf persönlicher Loyalität von Kommilitonen, Datschenfreunden, KGB-Kollegen und Geschäftspartnern gegründete Netzwerke eine wichtige Rolle gespielt. Es sind zwei Kreise, die in den informellen Netzwerken die Hauptrolle spielen, KGBler aus seiner Alterskohorte und Personen aus St. Petersburg. Beide Kreise überschneiden sich nicht unerheblich.[58] Ihre „Schnittmenge“, d.h. mit dem KGB und dem FSB verbundene Petersburger wie etwa Igor’ Sečin oder Nikolaj Patrušev ragen heraus, weil ihnen Putin Schlüsselstellungen in Wirtschaft und Staat übertragen hat.

Eine Sonderstellung unter den informellen Netzwerken nimmt die Petersburger Datschen-Kooperative „Ozero“ ein, die Putin Ende 1996 nach seinem Wechsel in die Präsidialadministration nach Moskau gründete.. Einige ihrer Mitglieder, freundschaftlich verbundene Geschäftsleute und Wissenschaftler, stiegen dank Putins Protektion in föderale Spitzenpositionen auf, so Vladimir Jakunin, von 2005–2015 Chef der Russländischen Eisenbahnen. Der mit Putin eng befreundete Jurij Kovalčuk und weitere Mitglieder von „Ozero“ beherrschen die Petersburger Bank Rossija, eines der bedeutendsten Geldinstitute Russlands.

Abschließend ist daran zu erinnern, dass Präsident Putin sich von Beginn seiner Herrschaft am stärksten auf Personen aus den bewaffneten Organen, vor allem aus den Geheimdiensten und besonders aus dem FSB stützt. Eine von ihm in den ersten beiden Amtszeiten ansatzweise noch beachtete Ausgewogenheit zwischen dem Einfluss der Siloviki einerseits und des marktwirtschaftlich orientierten zivilen Flügels andererseits ist seit Beginn der dritten Amtszeit (Mai 2012) und noch deutlicher seit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass im März 2014 einem überwiegenden Einfluss der Siloviki gewichen. Der großflächige Angriffskrieg gegen die Ukraine, der sich wider Erwarten zu einem Abnutzungskrieg entwickelt hat und den Kreml zwingt, immer mehr Unternehmen auf Kriegswirtschaft umzustellen, dürfte das Gewicht der Siloviki in Putins Umgebung weiter erhöhen.

zu 7: Eine demokratische Regierungsform legt dem Einzelnen hinsichtlich seiner Handlungsfreiheit und des Ausmaßes, in dem er den historischen Wandel bestimmen kann, die engsten Zügel an.

Die These ist auch für Vladimir Putin relevant, weil er seinen Aufstieg an die Spitze des Staates unter dem von der Verfassung Russlands von 1993 errichteten demokratischen präsidentiellen Regierungssystem genommen hat. Putin hat es jedoch verstanden, schon in seiner ersten Amtszeit (2000–2004) die rechtlichen Fesseln der föderalen Verfassung und „störender“ Gesetze abzustreifen und seine Präsidialexekutive zum absolut dominanten Akteur im Staate zu machen und insbesondere die Gewaltenteilung sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Dimension außer Kraft zu setzen. Vladimir Putin hat es sogar vermocht, ab 2008, als Dmitrij Medvedev das Präsidentenamt innehatte, seine Machtstellung als Ministerpräsident so stark abzusichern, dass Präsident Medvedev keine Chance hatte, sich gegen ihn durchzusetzen, selbst wenn er das beabsichtigt hätte. So konnte Medvedev nicht mehr als ein „Platzhalter auf dem Präsidentenstuhl“ bis zur Rückkehr Vladimir Putins ins Präsidentenamt (2012) sein.[59]

Die unmittelbar nach Beginn der dritten Amtszeit Vladimir Putins einsetzende scharfe Unterdrückung der Zivilgesellschaft durch eine weitgehende Beseitigung der von den Grundrechten im Prinzip eingeräumten Freiheitsspielräume hat Russland vollends zu einem Polizeistaat und Putins Regime zu einer Präsidialdiktatur gemacht.[60]

Es war für Präsident Putin allerdings sehr leicht, sich der demokratischen und rechtsstaatlichen Fesseln der Verfassung zu entledigen. Drei Faktoren begünstigten das: erstens war schon in der Verfassung von 1993 das Gleichgewicht der Gewalten durch die kompetenzielle Übermacht der Präsidialexekutive allzu stark geschwächt; zweitens waren in Russland nach den Jahrzehnten des totalitären Sowjetregimes eine autonome Zivilgesellschaft und ein demokratisches, funktionsfähiges Mehrparteiensystem erst im Entstehen begriffen und sie besaßen wenig Rückhalt in der Bevölkerung, und drittens waren in den Parlamenten nur wenige Abgeordnete und in den Justizinstitutionen (Gerichte; Staatsanwaltschaften) zu wenig Juristen vertreten, die überzeugte Anhänger der in den Kapiteln 1 und 2 der föderalen Verfassung proklamierten Ideen, Prinzipien und Normen waren – von Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaat, Föderalismus und kommunaler Selbstverwaltung.

Vom „Wagner-Aufstand“ zur „Götterdämmerung“ des Putin-Regimes?

Ian Kershaws Katalog von Faktoren, die das Verhältnis von Persönlichkeit und Macht bestimmen, erweist sich für die Analyse des Aufstiegs Vladimir Putins zum Staatspräsidenten, Diktator und Autokraten Russlands im 21. Jahrhundert als fruchtbar. Das gilt insbesondere für die Ausgangslage, in welcher die Weichen für Putins Aufstieg gestellt wurden. Den allgemeinen soziopolitischen Hintergrund bildete die Verbitterung der Bürger des postsowjetischen Russlands vom Niedergang nach dem Ende der UdSSR, von der allgemeinen Unsicherheit und der Armut im Lande und von der Agonie der Präsidentschaft Boris El’cins in seiner zweiten Amtszeit.

Das waren die objektiven Rahmenbedingungen im Sommer 1999. Vladimir Putin trug, was nicht von außen, wohl aber für El’cin erkennbar war, dazu bei, dass sich El’cin bei der Abwehr zweier Gefahren für sein Wohlergehen und das seiner „Familie“ auf seine Loyalität und Aktivität verlassen konnte: Den Schluss konnte er erstens daraus ziehen, dass sich Putin in der Skuratov-Affäre absolut loyal und schützend vor ihn gestellt hatte. Zweitens war El’cin sich sicher, dass Putin mit Hilfe des FSB den Kreml darin unterstützen werde, den Aufstieg des Moskauer Oberbürgermeisters Jurij Lužkov in das Amt des Präsidenten zu verhindern.

Es zeugt von dem feinen psychologischen und politischen Gespür El’cins, dass er mit der allseits gänzlich unerwarteten Ernennung Vladimir Putins zum Ministerpräsidenten am 9. August 1999 die richtige Entscheidung traf.

Das Erklärungspotential des von Kershaw aufgestellten Thesen-Katalogs schließt auch noch die negative Seite der politischen Machtkonzentration und Autokratie ein, den Absturz und das persönliche Scheitern des Autokraten und Diktators, das sich im Zuge des von Vladimir Putin geplanten und ausgelösten großen Ukraine-Krieges seit dem 24. Februar 2022 vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzieht – langsam, aber unaufhaltsam.

Wie tief der Niedergang Russlands infolge des Krieges und der von ihm bewirkten scharfen Konfrontation mit dem „kollektiven Westen“ (Vladimir Putin) sein wird, hängt entscheidend davon ab, wie lange der Krieg anhält und wie schnell Putin als Präsident abtritt. Der Prigožin-Aufstand bestätigt Kershaws Beobachtung und These, dass eine erfolgreich aufgebaute Autokratie und Diktatur den Keim ihres Unterganges in sich trägt.

Das von Präsident Putin geschaffene Nebeneinander bewaffneter Streitkräfte von regulärer Armee, Nationalgarde, FSB und der nichtstaatlichen Söldnerarmee Evgenij Prigožins führte nicht nur zur Rivalität im Kampf um materielle und finanzielle Ressourcen, Prestige und politischen Einfluss, was durchaus im Sinne des Machterhaltungsinteresses Vladimir Putins lag, sondern wurde zum gefährlichen Spaltpilz im Machtgefüge der Präsidialdiktatur. Putin hat die offene Machtprobe Prigožins mit dem Verteidigungs­minister und dem Generalstabschef nicht verhindert oder sofort unterbunden, vermutlich deswegen nicht, weil er nach der Niederlage seiner Armee im Nord- und Nordostabschnitt der Ukraine selbst tiefe Zweifel hinsichtlich der Professionalität an der Spitze des Verteidigungsministeriums hegte, weil er die Wagner-Truppen Prigožins für qualifizierter hielt und auf ihre Dienste für sein Regime nicht verzichten wollte.

Letzteres war wohl entscheidend: Präsident Putin hatte Russland von der Wagner-Armee nicht nur militärisch, sondern auch politisch abhängig gemacht, nämlich in der Afrikapolitik.[61] Denn Prigožin hatte in vielen Staaten Afrikas, vor allem in der Sahel-Zone, nicht nur ein effektives militärisches Dienstleistungsunternehmen aufgebaut, sondern auch eine Art von Wirtschaftsimperium geschaffen. Beide „Geschäftszweige“ waren inzwischen zu den wichtigsten Elementen der von Außenminister Lavrov konzipierten und geopolitisch hoch ambitionierten Afrikapolitik Russlands geworden, in Rivalität mit den USA und der EU, aber auch mit der Volksrepublik China. Präsident Putin hätte den Streit Prigožins mit dem Verteidigungsministerium nur um den Preis der Auflösung der Wagner-Armee aus der Welt schaffen können. Das wäre das Ende der neokolonialen Afrikapolitik Russlands und damit eines wesentlichen Elements seiner geopolitischen Ambitionen im „globalen Süden“ gewesen.

Um das zu retten, so darf man vermuten, hat sich Präsident Putin am 29. Juni 2023 mit Prigožin und allen 35 Kommandeuren der Wagner-Armee in Moskau getroffen.[62] Ob es dabei zu einer förmlichen Vereinbarung über die weitere Verwendung der Söldnertruppe im Dienste Russlands gekommen ist, ist unbekannt. Präsident Putin hat – nach eigenem Bekunden – Prigožin und den Kommandeuren vorgeschlagen, in der „militärischen Spezialoperation“ weiter als selbständige Truppe und unter ihrem bisherigen Führer Andrej Trošev gegen die Ukraine zu kämpfen, also weiterzumachen, als habe es den Aufstand vom 24. Juni nicht gegeben. Putin behauptete, dass viele Kommandeure seinem Vorschlag „nickend zugestimmt“ hätten.[63] Dass das tatsächlich zutrifft, ist nicht glaubhaft, da Prigožin, der Putin direkt gegenübersaß, den Vorschlag umgehend und vernehmlich abgelehnt hat. Wenig wahrscheinlich ist, dass sich seine Kommandeure ohne vorherige interne Beratung über Putins Vorschlag, also spontan gegen ihren Führer und Finanzier Prigožin, positioniert haben. Putins Darstellung des Treffens dürfte der durchsichtige Versuch des erfahrenen Tschekisten gewesen sein, einen Keil zwischen Prigožin und sein Führungscorps zu treiben, Prigožin gegen Trošev auszuspielen und ihn zu isolieren.

Die Frage ist, ob Präsident Putin mit dem sensationellen Treffen seine am 24. Juni offenkundig gewordene Machtlosigkeit und die im Kreml aufgekommene Panik vergessen machen kann. Das ist äußerst unwahrscheinlich, erstens weil der Konflikt Prigožins mit dem Verteidigungsministerium nicht gelöst, sondern nur beiseitegeschoben worden ist, zweitens weil Präsident Putin seine Erklärung, den Verräter Prigožin zu bestrafen, nicht nur fallen gelassen hat, sondern ihn mit dem Treffen quasi rehabilitiert und sich damit selbst als schwächer gezeigt hat und weil drittens die politische Schwäche Präsident Putins durch das Faktum des Treffens selbst sowie durch seinen Vorschlag weiterzumachen, als sei nichts geschehen, für jedermann sichtbar wurde.

Unter diesen Umständen bezieht Präsident Putin seine Stärke und Autorität paradoxerweise nur noch aus der Schwäche seiner ihn belauernden Umgebung, voran des FSB, der Nationalgarde und der Führung der Streitkräfte. Durchweg von Präsident Putin ernannt, in dem Vierteljahrhundert seines Regimes mit ihm alt, steinreich und in der Routine ihres Alltages bequem geworden, dürfte keiner von ihnen noch den Mut haben, eine Fronde zu bilden und eine Verschwörung anzuzetteln, um Putin zu stürzen.

 

 


[1]   Ian Kershaw: Personality and Power. Builders and Destroyers of Modern Europe. London, New York 2022. – Dt.: Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert. München 2022.

[2]   Kershaw, S. 15.

[3]   Kershaw, S. 32f, 507ff.

[4]   Der Eintagesaufstand von Jewgenij Prigoschin. FAZ, 26.6.2023. – Der Wagner-Chef führt Putins Schwächen vor. NZZ, 26.6.2023.

[5]   Wie schwach ist Putin? Verräter, Rivalen, Rebellen. Chaos in Russlands Machtsystem. Der Spiegel. 27/2023, S. 8–15. – Zur Vorsicht mahnt Andreas Rüesch: Putin ist noch nicht am Ende. NZZ, 1.7.2023.

[6]   Bernd Wieser: Auch nach der Verfassungsänderung superpräsidentielles Regierungssystem in Russland? In: Rainer Wedde (Hg.): Die Reform der russischen Verfassung. Berlin 2020, S. 43–74.

[7]   2001 hatte der Verfasser geschrieben, der in der El’cin-Verfassung von 1993 angelegte Superpräsidentialismus sei unter Präsident Putin „aus der Potentialität zur Realität geworden“. Präsidentialismus in den GUS-Staaten, in: Otto Luchterhandt (Hg.): Neue Regierungssysteme in Osteuropa und der GUS. Berlin 22002, S. 317. – Margareta Mommsen: Russlands politisches System des „Superpräsidentialismus“, in: Hans-Hermann Höhmann, Hans-Henning Schröder (Hg.): Russland unter neuer Führung. Münster 2001, S. 44–54.

[8]   Otto Luchterhandt: Präsident Putins Wandlung zum Autokraten und die Folgen für Russland, in: Jahrbuch für Ostrecht (JOR), 63/2022, S. 13–64, hier 21–25.

[9]   In einem Essay über Putin beschränkt Karl Schlögel den Begriff der „Autokratie“ zu Unrecht auf die russische Herrschaftsform der samoderžavie der Zaren. Er beraubt sich so ohne Not der Möglichkeit, die Machtstellung Vladimir Putins zwar abstrakt, aber vergleichend und wissenschaftlich präzise auf den Begriff zu bringen. Karl Schlögel: Scenarios of Power. Putinismus als Stil, in: Stèfane Courtois, Galia Ackerman (Hg.): Schwarzbuch Putin. München 2023, S. 326–339, S. 326. In der Allgemeinen Staatslehre und in der Politikwissenschaft ist der Begriff der „Autokratie“ etabliert. Grundlegend und stellvertretend: Hermann Heller: Staatslehre. Leiden 1934, S. 248.

[10] „Autokratie“ und „Diktatur“ sind keine konkurrierenden und erst recht keine einander ausschließenden Regimebeschreibungen. Vielmehr erfassen sie verschiedene Aspekte eines Herrschaftssystems. Die Autokratie hebt auf die Legitimationsgrundlage persönlicher Macht ab, Diktatur dagegen lenkt den Blick auf die Fähigkeit des Machthabers, die relevanten Entscheidungen allein zu treffen und sie mit Hilfe von nachgeordneten Staatsorganen autoritativ durchzusetzen.

[11] N. Gevorkjan, A. Kolesnikov, N. Timkova: Ot pervogo lica. Razgovory s Vladimirom Putinym Moskva 2000, S. 16ff. – Dt.: Aus erster Hand. Gespräche mit Vladimir Putin. München 2000.

[12] ČK (dt. TSCHEKA) war die offizielle Abkürzung des im Dezember 1917 gegründeten Staatssicherheitsdienstes der Sowjetmacht, der Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem, d.h. der Allrussländischen außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage. Der Begriff „außerordentlich“ bedeutet, dass die Kommission bei ihrer Arbeit über dem Recht stand, also an Recht und Gesetz nicht gebunden war. Andreas Hilger: Von der Tscheka zum FSB. Eine kurze Geschichte der Moskauer Geheimdienste, in: Osteuropa, 11/2022, S. 45–70.

[13] Sobčak gehörte dem Vorstand der „Interregionalen Abgeordnetengruppe“ (MDG) im ersten Volkskongress der UdSSR an, die in Opposition zur KPdSU-Führung stand. Anatolij Sobčak: Choždenie vo vlast’. Rasskaz o roždenii parlamenta. Moskva 1991, S. 39ff.

[14] Alexander Rahr: Wladimir Putin. Der „Deutsche“ im Kreml. München 2000, S. 67ff., 73ff.

[15] Ebd., S. 107ff.

[16] Putins offizielle Biographie auf der Seite des Kreml: <http://putin.kremlin.ru/bio/page-0>.

[17] Sobranie zakonodatel’stva Rossijskoj Federacii 1999, Nr. 34, Pos. 4222.

[18] Otto Luchterhandt: Tschetscheniens Versuch nationaler Unabhängigkeit: innere Ursachen seines Scheiterns, in: OSZE-Jahrbuch 2000. Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Baden-Baden 2000, S. 189–212, hier 205f.

[19] Florian Hassel: Der zweite Tschetschenienkrieg. Eine Unterwerfungskampagne in imperialer Tradition, in: Ders. (Hg.): Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien. Frankfurt/Main 2003, S. 31–98, hier S. 54ff.

[20] Aleksandr Litvinenko, Jurij Fel’štinskij: FSB vzryvaet Rossiju. New York 2002, S. 69ff., 72ff. – Vladimir Milov: Čto skryvaet eks–glava FSB? Nikolaj Patrušev – Biografija i psichologičeskij portret, 14.6.2023, <www.youtube.com/watch?v=rAiJS2E1Srg> ab 25:00. – John B. Dunlop: The Moscow Bombings of September 1999. Examinations of Russian Terrorist Attacks at the Onset of Vladimir Putin’s Rule. Stuttgart 2015.

[21] G.I. Gerasimov: Istorija sovremennoj Rossii: poisk i obretenie svobody. 1985–2008 gody. Učebnoe posobie dlja vuzov. Moskva 2008, S. 181ff. – Margareta Mommsen: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der Macht. München 2003, S. 90ff., 99ff.

[22] Kershaw, Der Mensch und die Macht [Fn. 1], S. 117ff. (Hitler), S. 157ff. (Stalin).

[23] Otto Luchterhandt: Völkermord in Mariupol’. Russlands Kriegsführung in der Ukraine, in: Osteuropa, 1–3/2022, S. 65–86.

[24] Otto Luchterhandt: Missachtung der Verfassung. Eine Zwischenbilanz der Ära Putin, in: Osteuropa, 6/2020, S. 29–52.

[25] Luchterhandt, Präsident Putins Wandlung [Fn. 8], S. 60f.

[26] Roland Götz: Operation „Z“. Russlands verlorener Krieg, in: Osteuropa, 9–10/2022, S. 133–162, hier 134f.

[27] Andreas Heinemann-Grüder: Russlands irreguläre Armeen. Das Beispiel „Wagner“, in: Osteuropa, 11/2022, S. 127–155. – Kimberly Marten: Russia’s Use of Semi-state Security Forces: The Case of the Wagner Group, in: Post-Soviet Affairs, 3/2019, S. 181–204. – Siehe auch den informativen Eintrag ČVK „Vagner“ in der russischen Fassung von Wikipedia: <https://ru.wikipediaorg/wiki/ЧВК_«Вагнер»>.

[28] „Anwerbung, Ausbildung, Finanzierung und eine andere materielle Sicherung eines Söldners sowie seine Nutzung in einem bewaffneten Konflikt oder in militärischen Handlungen wird mit Freiheitsentzug von vier bis acht Jahren bestraft.“ (Abs. 1) Eine Anmerkung zu dem Artikel definiert den Begriff des „Söldners“.

[29] Heinemann-Grüder, Russlands irreguläre Armeen [Fn. 27], S. 139 mit Fn. 46.

[30] Ebd., S. 144ff.

[31] Prigožins Behauptung, er sei der Gründer, dürfte nicht korrekt sein. Heinemann-Grüder nennt den Ex-Oberstleutnant des GRU, Dmitrij Utkin, als eigentlichen Gründer der Truppe. Heinemann-Grüder, Russlands irreguläre Armeen [Fn. 27], S. 141.

[32] Putin versichert sich seiner Leute. FAZ, 28.6.2023, S. 2.

[33] Zu den wirtschaftlichen Folgen Luchterhandt, Präsident Putins Wandlung [Fn. 8], S. 25–48.

[34] Putin versichert sich seiner Leute. FAZ, 28.6.2023, S. 2.

[35] Igor’ Sevrugin, Irina Romalijskaja: Puti nazad u Prigožina net. Nastojaščee vremja, 24.6.2023, <www.currenttime.tv/a/puti-nazad-u-prigozhina-net-esli-proigraet-ego-ubyut-ili-posadyat-voennyy-ekspert-otsenivaet-shansy-vladeltsa-chvk-vagnera-doyti-do-moskvy/32473733.html>.

[36] Der Wagner-Chef führt Putins Schwächen vor. NZZ, 26.6.2023, S. 1.

[37] Margarete Klein: Russlands neue Nationalgarde. Stärkung der Machtvertikale des Putin-Regimes, in: Osteuropa, 5/2016, S. 19–32.

[38] Nicht nur der König ist nackt. FAZ, 26.6.2023, S. 3.

[39] Der nackte Putin. FAZ, 26.6.2023, S. 1.

[40] Kershaw, Der Mensch und die Macht [Fn. 1], S. 33.

[41] Klaus Heller: Russlands wilde Jahre. Der neue Kapitalismus in der Ära Jelzin. Paderborn 2016, S. 175ff.

[42] A.B. Bezborodov (Red.): Otečestvennaja istorija novejšego vremeni 1985–2005 gg. Učebnik. Moskva 2007, S. 374f.

[43] Gerasimov, Istorija sovremennoj Rossii [Fn. 21], S. 187.

[44] Bezborodov, Otečestvennaja istorija [Fn. 41], S. 435.

[45] Michael Thumann: Schon wieder ein neuer Premier in Moskau. Die Zeit, 33/1999. – Ein „grauer Kardinal“ mit Neigung zu Kampfsportarten. FAZ, 17.8.1999.

[46] Siegfried Lammich: Korruptionsverdächtigungen und politischer Machtkampf: Der Fall Skuratov, in: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht, 41/1999, S. 88–91. – Otto Luchterhandt: Generalstaatsanwalt Skuratov. Neue Folge und Schluß, in: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht, 41/1999, S. 325–328.

[47] Luschkow schließt Wahlbündnis mit regionalen Führern. FAZ, 5.8.1999. – Russlands Parteien im Fusionsfieber. NZZ, 5.8.1999. – Primakow kandidiert für die russische Duma. Allianz mit Luschkow. NZZ, 18.8.1999.

[48] Otto Luchterhandt: „Starker Staat“ Rußland. Putins ehrgeiziges Programm, in: Internationale Politik, 5/2000, S. 7–14.

[49] Bezborodov, Otečestvennaja istorija [Fn. 41], S. 447f.

[50] Otto Luchterhandt: Der YUKOS-Prozess gegen Michail Chodorkovskij (2003–2005; 2009–2010), in: Lexikon der Politischen Strafprozesse 2018, S. 1–24, <www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/wp-content/uploads/2018/06/YUKOS_Prozess.pdf>.

[51] Luchterhandt, Präsident Putins Wandlung [Fn. 8], S. 14–17.

[52] Otto Luchterhandt: Russlands „Tandemokratie“ unter Putin und Medvedev: Co-Habitation oder Provisorium? In: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (BWG), Band LXIII. Braunschweig 2011, S. 167–208.

[53] Unter Medvedev war schon im Dezember 2008 durch Verfassungsänderung die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre heraufgesetzt worden.

[54] Sergej A. Denisov: Das Wesen und die Bedeutung der Änderungen der russischen Verfassung von 2020, in: Rainer Wedde (Hg.): Die Reform der russischen Verfassung. Berlin 2020, S. 25–42 (31f.), sowie S. 207.

[55] Otto Luchterhandt: Der Ausbau der föderalen Vertikale unter Putin: Das Ende der Dezentralisierung? In: Georg Brunner (Hg.): Der russische Föderalismus. Bilanz eines Jahrzehnts. Münster 2004, S. 241–279, hier 253ff.

[56] Wieser, Auch nach der Verfassungsänderung [Fn. 6], S. 68.

[57] Velikaja chartija nevol’nika. Istorija predsedatelja Konstitucionnogo suda Valerija Zor’kina. Novaja gazeta, 14.7.2023, <https://novayagazeta.eu/articles/2023/07/14/>.

[58] Das ergibt sich aus den einschlägigen Biographien. A.A. Muchin: Piterskoe okruženie prezidenta. Moskva 2003, S. 82ff., 100ff., 209ff.

[59] Luchterhandt, Russlands „Tandemokratie“ [Fn. 35], S. 176ff.

[60] Otto Luchterhandt: Russlands Rückkehr zur Autokratie. Verfassung, Recht und Rechtskultur in der Ära „Putin“, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (BWG) 2020. Göttingen 2021, S. 231–294 (243ff.).

[61] David Ehl: Wagner-Gruppe in Afrika. Viel mehr als nur Söldner. Deutsche Welle, 25.6.2023. <www.dw.com/de/wagner-gruppe-in-afrika-viel-mehr-als-nur-s%C3%B6ldner/a-64810830>. – Die Gruppe Wagner bringt Chaos nach Afrika. NZZ, 11.7.2023. – Julia Stanyard, Thierry Vircoulon, Julian Rademeyer: The Grey Zone. Russia’s Military, Mercenary and Criminal Engagement in Africa. February 2023, <https://globalinitiative.net/analysis/russia-in-africa/>.

[62] Putin sprach mit Prigoschin im Kreml. FAZ, 11.7.2023. – Putin trifft sich mit dem „Verräter“ Prigoschin. NZZ, 12.7.2023.

[63] Wagner gibt es gar nicht. Wladimir Putin äußert sich zur Zukunft der Söldnertruppe Prigoschins. FAZ, 15.7.2023.

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