„Unser Ziel war nicht ein Sturz des Regimes“
Audiobotschaft von Evgenij Prigožin, 26.6.2023, 16:42 Uhr
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Abstract
Am Freitag, den 23. Juni 2023 setzt sich östlich von Bachmut in der besetzten Ukraine eine große Kolonne von Militärfahrzeugen in Bewegung. Es sind schwerbewaffnete Truppen der Gruppe „Wagner“. Sie überschreiten die Grenze zu Russland, ein Teil der Männer, darunter der Chef der Privatarmee, Evgenij Prigožin, fährt nach Rostov. Eine zweite Kolonne fährt nach Norden Richtung Moskau. Am Nachmittag des 24.6. kehrt die Kolonne um. Das Ziel, der Ablauf und die Gründe für den Abbruch der von Prigožin als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichneten Aktion sind ebenso unklar wie die Rolle anderer Akteure wie des Militärgeheimdienstes GRU oder führender Militärs. Wir dokumentieren eine Audiobotschaft von Evgenij Prigožin, die dieser zwei Tage nach den Ereignissen veröffentlichte. Die Aussagen sind im Zusammenhang mit den Bemühungen um Deeskalation bei anhaltenden Rivalitäten zu sehen.
(Osteuropa 5-6/2023, S. 99101)
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Audiobotschaft von Evgenij Prigožin, 26.6.2023, 16:42 Uhr
Heute habe ich in unseren Presse-Kanal geschaut und Tausende Fragen zu den jüngsten Ereignissen gesehen. Damit es keine Fehldeutungen gibt, will ich die wichtigsten dieser Fragen beantworten. Erstens: Was waren die Voraussetzungen für den „Marsch der Gerechtigkeit“, Stand 23.6.2023? Das PMU „Wagner“ ist die wohl erfahrenste und kampffähigste Einheit Russlands und vielleicht der Welt. Motivierte, hochgradig einsatzbereite Kämpfer, die im Interesse der Russländischen Föderation, und zwar ausschließlich im Interesse der Russländischen Föderation, eine riesige Zahl von Aufgaben erfüllen: in Afrika, in den arabischen Ländern und in der gesamten Welt. In jüngster Zeit hat diese Einheit gute Ergebnisse in der Ukraine erzielt, wo sie äußerst schwere Aufgaben zu erfüllen hatte. Intrigen und undurchdachte Entscheidungen haben aber dazu geführt, dass diese Einheit zum 1. Juli 2023 aufgelöst werden sollte. Der Rat der Kommandeure kam zusammen, gab die Information an die Kämpfer weiter. Keiner von ihnen war bereit, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen, denn auf der Basis der aktuellen Lage und der Erfahrungen, die sie im Lauf der militärischen Spezialoperation gemacht hatten, war allen klar, dass das zu einem vollständigen Verlust der Kampffähigkeit führen würde. Erfahrene Kämpfer und erfahrene Kommandeure wären einfach plattgemacht und de facto durch den Fleischwolf gedreht worden, ohne ihr Kampfpotential und ihre Kampferfahrung zu nutzen. Diejenigen Kämpfer, die trotzdem zum Verteidigungsministerium wechseln wollten, haben das getan. Aber das war eine sehr kleine Zahl, weniger als zwei Prozent.
Alle Gründe, warum die PMU „Wagner“ als Verband erhalten bleiben muss, wurden vorgebracht. Nichts davon wurde berücksichtigt, als es darum ging, die Einheit in die eine oder andere Struktur einzugliedern, in der wir einen realen Nutzen bringen können.
Wir waren kategorisch gegen das, was da geplant wird. Zudem fiel die Entscheidung zur Überführung in das Verteidigungsministerium, die angesichts unserer Struktur gleichbedeutend mit der Abschaffung der PMU „Wagner“ war, zum denkbar unpassendsten Zeitpunkt.
Dennoch haben wir unsere Geschütze auf Lastwagen geladen, alles Notwendige gepackt, Inventarlisten erstellt und uns bereit gemacht, für den Fall, dass diese Entscheidung nicht getroffen wird, am 30. Juni in einer Kolonne nach Rostov zu fahren, um die Geschütze dem Einsatzstab der Spezialoperation öffentlich zu übergeben.[1]
Ungeachtet dessen, dass wir keine einzige aggressive Handlung begangen hatten, wurden wir mit einer Rakete angegriffen. Unmittelbar gefolgt von einem Hubschraubereinsatz. Ungefähr 30 Männer der PMU „Wagner“ kamen ums Leben, einige wurden verletzt. Daraufhin beschloss der Rat der Kommandeure sofort, dass wir auf der Stelle aufbrechen müssen.
Ich habe eine Erklärung abgegeben, in der ich klargestellt habe, dass wir keinerlei aggressives Vorgehen planen, dass wir aber jeden Angriff auf uns als Versuch betrachten, uns zu vernichten und darauf reagieren werden. Während des 24-stündigen Marsches fuhr eine der Kolonnen nach Rostov, die andere Richtung Moskau. In diesen 24 Stunden haben wir 780 Kilometer zurückgelegt. Kein einziger Soldat wurde am Boden getötet. Wir bedauern, dass wir gezwungen waren, Schläge gegen Fluggerät zu verüben, aber diese Maschinen haben uns mit Bomben und Raketen beschossen.
Wir haben in diesen 24 Stunden rund 780 Kilometer zurückgelegt, bis Moskau waren es nur noch gut 200.[2] Alle militärischen Objekte, die sich auf dem Weg befanden, wurden blockiert oder unschädlich gemacht. Noch einmal: Am Boden gab es keinen einzigen Toten. So wie es unser Ziel war. Unter den Kämpfern der PMU „Wagner“ gab es mehrere Verletzte und zwei Tote, Soldaten des Verteidigungsministeriums, die sich uns auf eigenen Wunsch angeschlossen hatten. Niemand aus der PMU „Wagner“ wurde zu diesem Marsch gezwungen, und alle kannten dessen Ziel. Das Ziel bestand darin, die Vernichtung der PMU „Wagner“ zu verhindern und jene Personen zur Verantwortung zu ziehen, die mit ihrem unprofessionellen Vorgehen eine riesige Zahl von Fehlern im Laufe der Spezialoperation verursacht haben. Dies war eine Forderung aus der Gesellschaft. Alle Armeeangehörigen, die uns während des Marschs sahen, haben uns unterstützt. Uns blieben noch rund 200 Kilometer bis Moskau, nachdem wir 780 Kilometer zurückgelegt hatten. Wir haben in dem Moment abgebrochen, als die erste Sturmabteilung 200 Kilometer vor Moskau angelangt war, ihre Artillerie in Stellung gebracht und die Gegend erkundet hatte. In diesem Moment wurde klar, dass ab jetzt viel Blut vergossen werden würde. Daher haben wir entschieden, es mit der Demonstration unseres Vorhabens bewenden zu lassen.
Zwei Faktoren waren für unseren Entschluss zur Umkehr entscheidend. Erstens: Wir wollten kein russisches Blut vergießen. Zweitens: Wir wollten unseren Protest zum Ausdruck bringen, nicht die Führung des Landes stürzen. Zu diesem Zeitpunkt kam Aleksandr Grigorevič Lukašenko auf uns zu und schlug vor, nach Lösungswegen zu suchen, damit die PMU „Wagner“ weiterarbeiten kann, im Rahmen der vorhandenen Gesetzgebung.
Die Kolonnen wendeten und kehrten zurück in ihre Feldlager.
Ich will unterstreichen, dass unser Marsch der Gerechtigkeit viele Dinge offensichtlich gemacht hat, auf die wir zuvor schon hingewiesen hatten. Schwerste Sicherheitsprobleme auf dem gesamten Staatsgebiet. Wir haben alle Garnisonen und Flugplätze blockiert, die auf unserem Weg lagen. In 24 Stunden haben wir dieselbe Entfernung zurückgelegt, die bei der Spezialoperation zwischen dem Ausgangspunkt der russländischen Truppen am 24. Februar 2022 und Kiew lag – oder zwischen Kiew und Užgorod. Daher: Hätte die Durchführung der Spezialoperation am 24. Februar 2022 in den Händen einer Einheit gelegen, deren Ausbildungsstand, Kampfmoral und Einsatzbereitschaft dem Niveau der PMU „Wagner“ entsprochen hätte, dann hätte die Spezialoperation vielleicht nur 24 Stunden gedauert. Natürlich gab es auch andere Probleme. Aber wir haben einen Organisationsgrad an den Tag gelegt, wie er auch in der russländischen Armee herrschen sollte. Und als wir am 23., 24. Juni an vielen Städten Russlands vorbeizogen, begrüßte uns die Zivilbevölkerung mit Russlandflaggen und mit Abzeichen und Fahnen der PMU „Wagner“. Sie waren alle glücklich, als wir kamen und vorbeizogen. Viele von ihnen schicken uns weiter Worte der Unterstützung, und manche sind enttäuscht, dass wir den Marsch gestoppt haben. Denn für sie war der Marsch der Gerechtigkeit neben unserem Kampf ums Überleben auch eine Unterstützung im Kampf gegen die Bürokratie und andere Übel, die heute in unserem Land vorliegen. Soweit die zentralen Fragen, die ich beantworten kann, um Fehldeutungen in den russländischen sozialen Netzwerken und Medien und ausländischen Netzwerken zu verhindern. Also: Begonnen haben wir unseren Marsch aufgrund der Ungerechtigkeit; unterwegs haben wir am Boden keinen einzigen Soldaten getötet; binnen 24 Stunden sind wir bis auf 200 Kilometer vor Moskau vorgerückt, sind in die Stadt Rostov einmarschiert und haben sie vollständig unter unsere Kontrolle gebracht. Die Zivilbevölkerung hat uns freudig empfangen. Wir haben vorgeführt, wie es am 24. Februar 2022 hätte laufen sollen. Unser Ziel war nicht, das bestehende Regime, die legal gewählte Führung zu stürzen, wie es immer wieder hieß. Wir sind umgekehrt, um kein Blut russischer Soldaten zu vergießen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Quelle: https://t.me/concordgroup_official/1304
[1] Die Argumentation ist widersprüchlich. Prigožin versucht hier darzulegen, warum die Kolonne unmittelbar nach dem tatsächlichen oder angeblichen Beschuss der Lager starten konnte – eine Tatsache, die vermuten lässt, dass der „Marsch“ keine spontane Reaktion auf den behaupteten Angriff war, sondern geplant wurde – Red.
[2] Damit bestätigt oder behauptet Prigožin, dass die Kolonne, die auf der Autobahn M4 nach Norden fuhr, knapp 70 Kilometer südlich des Flusses Oka umkehrte, wo die russländische Armee eine Verteidigungslinie errichtet hatte.
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