Titelbild Osteuropa 7-9/2023

Aus Osteuropa 7-9/2023

Allianz der Autokraten

Editorial

(Osteuropa 7-9/2023, S. 5–6)

Volltext

Der Krieg verlangt einen klaren Standpunkt. Russlands Überfall auf die Ukraine ist völkerrechtlich eine Aggression. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen scheiterte am Tag nach Beginn des Angriffs eine Resolution, mit der Russlands Vorgehen „auf das Schärfste“ verurteilt sowie die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt werden sollten. Russland legte Veto ein. China enthielt sich. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sich seitdem mehr als ein halbes Dutzend Mal mit Russlands Angriffskrieg beschäftigt. Bei der ersten Abstimmung verurteilten 141 Staaten Russland wegen des Krieges. An der Seite Russlands standen vier Staaten, China enthielt sich. Kurz vor dem ersten Jahrestag der Aggression wiederholte sich das: Am 23. Februar 2023 verlangten 141 von 180 Staaten, dass Russland sofort und bedingungslos seine Truppen aus der Ukraine abziehen solle. Russland und eine Handvoll Partner stimmten dagegen. China enthielt sich.

Drückt diese Enthaltung tatsächlich Neutralität aus oder ist sie eine verkappte Duldung der Aggression? Oder bedeutet sie sogar Rückendeckung für den Aggressor? Peking verpasst sonst keine Gelegenheit, die Bedeutung der Souveränität und territorialen Inte­grität zu betonen und sich gegen jede Einmischung „in die inneren Angelegenheiten eines Staates“ zu verwahren. Es scheint China nicht zu stören, dass Russland all diese Prinzipien durch die Annexion der Krim und den Krieg schon seit 2014 verletzt und im September 2022 vier weitere ukrainische Gebiete annektiert hat. Und als sich die Generalversammlung nach dem Massaker von Buča mit dem Vorschlag befasste, Russland wegen Kriegsverbrechen aus dem Menschenrechtsrat der UN auszuschließen, zeigte die Volksrepublik China, wo sie tatsächlich steht: Fest an Russlands Seite stimmte sie gegen den Ausschluss.

Russlands Krieg ist ein mächtiger Katalysator. Er hat die Westorientierung der Ukraine beschleunigt, die Entfremdung zwischen Russland und dem Westen vertieft und die Annäherung Russlands und Chinas befördert. Dies kommt nicht von ungefähr. Die beiden Regime haben sich im letzten Jahrzehnt politisch angeglichen. Es handelt sich um Autokratien, an deren Spitze ein Führer steht. Xi Jinping und Vladimir Putin haben sich jeder Einhegung ihrer Macht entledigt. Sie ließen ihre Amtszeitbegrenzung aufheben und interne Kontrollmechanismen außer Kraft setzen. Heute verfügt Xi Jinping über die größte Machtfülle seit Mao, Putin über die größte seit Stalin. Beide Regime kontrollieren die Gesellschaft mit Propaganda, Überwachung und Repression. Sie bekämpfen jeden Ansatz von Opposition. Sie teilen die Frontstellung gegen die USA und propagieren gemeinsam eine „multipolare“ Weltordnung. Gemeint ist, dass Peking und Moskau als Großmächte über Einflusszonen verfügen, in denen sie sich jede Einmischung von außen verbitten, sich selbst aber das Recht herausnehmen, in die Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen. Damit unterminieren Russland und China die universelle Geltung des Völkerrechts. Und sie tun dies mittlerweile nicht mehr nur mit Worten, sondern mit einer aggressiven, revisionistischen Außenpolitik.

In Gipfelkommuniqués und Verträgen versichern sich Peking und Moskau unterdessen ihrer „Freundschaft ohne Grenzen“, versprechen sich „Kooperation ohne Tabus“ und bekunden, dass sie ihre „umfassende strategische Partnerschaft zur Koordination für eine neue Ära“ nutzen wollen. Doch was steckt materiell hinter dieser Rhetorik?

Die wirtschaftlichen Beziehungen haben sich seit Kriegsbeginn erheblich verbessert. Infolge der westlichen Sanktionen und des Wegfalls des europäischen Marktes hat der China-Russland-Handel zugelegt: 2022 erreichte das Handelsvolumen die Rekordmarke von 190 Milliarden Dollar. Russland liefert Rohstoffe nach China und hat beim Rüstungsexport die Vorbehalte gegen Know-how-Transfer nach China fallen gelassen. Von dort kommt all das, was Russland nicht mehr im Westen beziehen kann: Autos, Technik, Dual-Use-Güter.

Doch die Beziehungen sind äußerst asymmetrisch. Einst stand die Sowjetunion beim Aufbau von Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung in China Pate, ehe es zum großen Schisma zwischen den beiden kommunistischen Parteien kam. Noch vor drei Jahrzehnten war Russland China technologisch und militärisch weit überlegen. Heute ist es umgekehrt. Doch die Führungsclique im Kreml hat sich derart auf ihren Kampf gegen den Westen versteift, dass sie das eigene Unbehagen ob der chinesischen Dominanz mit den Propagandaphrasen von „strategischer Partnerschaft“ und „ewiger Freundschaft“ übertünchen muss. Die Wahrheit ist: China sitzt am langen Hebel.

Dies fügt sich in das globale Bild: Die Weltpolitik ist im Umbruch, die internationale Ordnung des Völkerrechts und der Institutionen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, steht unter Druck. Wir sind seit drei Jahrzehnten Zeugen eines epochalen ökonomischen und machtpolitischen Aufstiegs Chinas. Pekings Ziel ist es, zur globalen Führungsmacht zu werden. Damit stellt das Land die Hegemonie der USA in Frage. Derartige Phasen hegemonialer Konkurrenz waren in der Geschichte stets höchst konfliktträchtig. Wie lange diese Phase dauert und wie sie ausgehen wird, ist offen. Möglich ist, dass sich die USA mit der EU und den Staaten des globalen Westens als Führungsmacht behaupten können. Aber denkbar ist auch, dass China mit Unterstützung autoritärer Staaten wie Russland oder Iran die künftige Führungsmacht wird. Und hierzu hat Peking die Rückendeckung Moskaus gewonnen. Darin liegt die eigentliche Bedeutung der Allianz der Autokraten.

Was sich abzeichnet, ist ein neuer globaler Konflikt, welcher der dreidimensionalen Struktur des Ost-West-Konflikts als innergesellschaftlicher, ordnungspolitischer und internationaler ähnelt: Wer in Russland oder China an die Universalität der Menschenrechte erinnert oder bürgerliche Freiheiten fordert, bekommt es mit dem autoritären Staat zu tun. Und in liberalen Gesellschaften formieren sich jene Kräfte, die sich nach Abschirmung von der Dynamik des Wandels sehnen, als autoritäre Parteien. Geopolitische Rivalitäten prägen das Bild, im Kern aber geht es um den Konflikt zwischen Autoritarismus und Liberalismus. Dies zeigt auch Russlands Krieg gegen die Ukraine. Dort geht es um die Verteidigung der gesellschaftlichen Freiheit, um Selbstbestimmung über die politische Ordnung und die außenpolitische Orientierung. Und damit auch um die Verteidigung der Prinzipien der internationalen Ordnung: die Souveränität jedes Staates sowie die Abwehr revisionistischer Gewalt – gegen die Ukraine heute und gegen Taiwan morgen. Denn der Krieg verlangt einen klaren Standpunkt.

 

Berlin, im Oktober 2023                                     Manfred Sapper, Volker Weichsel