Titelbild Osteuropa 7-9/2023

Aus Osteuropa 7-9/2023

Wes Brot ich ess, des Lied ich nicht sing
China, Russland und die Ukraine

Mattia Nelles

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Abstract in English

Abstract

China ist der größte Handelspartner der Ukraine. Fast zehn Prozent der ukrainischen Agrarfläche sind an chinesische Unternehmen verpachtet. Die Ukraine ist Chinas wichtigster Lieferant von Mais und Gerste. Auch China leidet deshalb darunter, dass Russland den ukrainischen Getreideexport über das Schwarze Meer blockiert. Dennoch wirkt Peking weder auf Moskau ein, das Getreideexportabkommen wieder aufzunehmen, noch engagiert es sich dafür, Russland zur Beendigung des Kriegs und zum Rückzug aus der Ukraine zu bewegen. China verfolgt eine „prorussländische Neutralität“. Es ist bereit, dafür auch eigene Interessen in der Ukraine zu opfern.

(Osteuropa 7-9/2023, S. 333–342)

Volltext

Ukrainische Regierungen und Präsidenten höchst unterschiedlicher politischer Couleur haben in den Beziehungen zur Volksrepublik China lange Zeit vor allem das wirtschaftliche Potential für die Ukraine gesehen.[1] Unter Präsident Viktor Janukovyč kam es zu zahlreichen bilateralen politischen Treffen und zwei Staatsbesuchen. Den Anfang machte Hu Jintau, der nach einer zehnjährigen Pause als erster chinesischer Staatspräsident 2011 die Ukraine besuchte und ein Abkommen unterzeichnete, mit dem die beiden Länder ihre Beziehungen als „strategische Partnerschaft“ definierten.[2] Bei einem Staatsbesuch in China im Dezember 2013 unterzeichneten Viktor Janukovyč und Staatspräsident Xi Jinping einen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen China und der Ukraine sowie die gemeinsame Erklärung Chinas und der Ukraine zur Vertiefung der strategischen Partnerschaft. Das Abkommen sah vor, die Zusammenarbeit in den Bereichen Handel, Investitionen, Kultur und militärische Kooperation zu vertiefen.[3]

Wegen ihrer geographischen Lage hatte China ein Interesse an der Ukraine, die die Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union anstrebte. Auch war China am Import von Agrargütern und Bodenschätzen interessiert. Nach den Majdan-Protesten von 2013/14 nahm der ukrainische Export von Rohstoffen wie Erze und Metalle sowie Agrargütern zu, während China vor allem Produkte mit hoher Wertschöpfung wie Maschinen und elektronisches Equipment lieferte.[4]  

Das Handelsvolumen zwischen China und der Ukraine belief sich im Jahr 2013 auf 10,6 Milliarden Dollar. 2019 überholte China Russland als größten Handelspartner der Ukraine. Der Gesamthandel belief sich im Jahr 2021 auf 18,98 Mrd. US-Dollar, was einem Anstieg von fast 80 Prozent gegenüber 2013 entspricht. Davon betrugen die Exporte nach China acht Mrd. Dollar und Importe aus China 10,97 Mrd. Dollar.[5] Weder die vereinbarte „strategische Partnerschaft“ noch der wachsende Handel schlugen sich allerdings in intensiveren politischen Beziehungen nieder. Nach 2014 kam es nicht mehr zu Begegnungen auf höchster politischer Ebene.[6] Nach Beginn der russländischen Invasion am 24. Februar 2022 musste der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj vierzehn Monate auf ein Telefonat mit Xi Jinping warten. Mit seinem Peking-Besuch im Juli 2023 war Taras Kačka, der Vize-Minister und Handelsbeauftragte, der hochrangigste ukrainische Vertreter, der die Volksrepublik seit 2019 besuchte.[7]

Kaum chinesische Investitionen

Mit dem Beitritt zu Chinas Belt and Road Initiative (BRI), der Neuen Seidenstraße, erhoffte sich die Ukraine vor allem lukrative Investitionen in seine Wirtschaft und Rüstungsindustrie. Noch im Jahr 2017 hatte China angekündigt, bis zu einer Billion Dollar in die BRI-Länder zu investieren. Die ukrainischen Hoffnungen erfüllten sich größtenteils nicht. Nach Angaben des Handelsvertreters der chinesischen Botschaft erhielt die Ukraine zwischen 2015 bis 2019 lediglich 300 Millionen US-Dollar an chinesischen Direktinvestitionen.[8]

Die Liste der seit 2011 angekündigten, aber nicht verwirklichten Projekte ist lang.[9] Bis 2021 blieben die jährlichen chinesischen Direktinvestitionen auf einem vergleichsweise geringen Niveau. Die Kapitalinvestitionen aus dem chinesischen Festland und Hongkong beliefen sich zusammen auf knapp 100 Mio. US-Dollar oder 0,3 Prozent des Gesamtbestands der Ausländischen Direktinvestitionen in der Ukraine. Selbst wenn man alle Investitionen aus Singapur einbezöge, liegen die Investitionen bei nur einem Prozent. Das ist ein geringer Betrag verglichen mit den 1,7 Prozent aus den USA oder Polen, zwei Prozent aus Russland und 4,5 Prozent aus Deutschland.[10] In Kasachstan, einem Schlüsselpartner der Belt and Road Initiative, investierte China seit 2015 mehr als 42 Mrd. Dollar.[11]

Im Jahr 2017 berichteten ukrainische Medien über gemeinsame Großprojekte mit China mit einem Gesamtvolumen von rund sieben Milliarden Dollar. Dabei handelte es sich jedoch um wenig mehr als Absichtserklärungen. Die meisten dieser Projekte sind bis heute nicht umgesetzt.[12] Die vorhandenen und geplanten chinesischen Investitionen beschränken sich im Wesentlichen auf Solar- und Windparkprojekte sowie einige Infrastrukturprojekte, wie den Ausbau der Metro in Kiew oder den Bau eines Autobahnrings um die Stadt, alle finanziert durch chinesische Kredite und umgesetzt primär von chinesischen Firmen. Das Unternehmen China National Building Material baute in den vergangenen Jahren zehn Solarkraftwerke in der Ukraine, die etwa die Hälfte der gesamten installierten Solarkraftkapazität des Landes ausmachen.[13]

Zu den wichtigsten Investitionen im Agrarsektor gehört der Bau eines 75 Mio. Dollar teuren Umschlagterminals für Getreide und Öl, das Chinas größter Agrarkonzern Cereals Oils and Foodstuffs Corporation (COFCO) im Hafen von Mykolajiv am Schwarzen Meer errichten ließ. Viele der Investitionen in die Infrastruktur sollen primär dazu dienen, den Export ukrainischer Produkte und Ressourcen zu erleichtern. 2017 erweiterten chinesische Firmen den internationalen Hafen in Južne und 2019 den Hafen Čornomors’k, die beide am Schwarzen Meer im Gebiet Odesa liegen. Nach 2019 wurde der Hafen von Mariupol’ für 50 Millionen Dollar von COFCO modernisiert und die Ausfuhrkapazitäten des Hafens um mehr als ein Dreifaches erhöht.[14] Die Stadt und die großen Stahlwerke in Mariupol’ wurden bei der Belagerung und Erstürmung durch russländische Truppen fast vollkommen zerstört. Das genaue Ausmaß der Zerstörung des Hafens ist bis heute nicht bekannt, aber dadurch, dass Stahl als Exportgut entfällt, hat der Hafen seine Bedeutung für China verloren.

Chinesisches Interesse an Agrargütern

Über die Jahre wuchs Chinas Interesse an ukrainischen Rohstoffen und Agrarland sowie Agrargütern, nicht jedoch an deren Verarbeitung und Veredelung in der Ukraine. 2013 pachtete das von US-Sanktionen belegte Xinjiang Construction and Production Corps auf 50 Jahre 100 000 Hektar landwirtschaftlicher Fläche – das entspricht etwa neun Prozent des ukrainischen Ackerlandes – primär für den Anbau von Mais.[15] 2013 exportierte die Ukraine zum ersten Mal Mais, das weltweit meistgehandelte Getreide, nach China. Innerhalb von zwei Jahren stieg die Ukraine zu einem der wichtigsten Maislieferanten Chinas auf. Seit 2014/15 war die Ukraine noch vor den USA der mit Abstand wichtigste Maislieferant der Volksrepublik. In den vergangenen Jahren stammten zwischen 60 und 90 Prozent der chinesischen Mais-Einfuhren aus der Ukraine.[16] 2021 exportierte die Ukraine insgesamt 23 Mio. Tonnen Mais im Wert von 5,9 Mrd. Dollar, 32 Prozent davon gingen nach China und 30 Prozent in die EU.[17] Eine ähnliche Entwicklung, wenn auch mit geringeren Volumen, ist bei Gerste und Sonnenblumen-Presskuchen zu beobachten. Im Jahr 2020 hatte China eine Million Tonnen Gerste aus der Ukraine importiert. 2021 waren es bereits 2,8 Mio. Tonnen. Damit deckte die Ukraine mehr als zwei Drittel der chinesischen Einfuhr von Gerste und wurde auch hier zum wichtigsten Lieferanten der Volksrepublik.[18]

Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative

Vor Russlands massiver Invasion wurden rund 90 Prozent des ukrainischen Getreides über die ukrainischen Seehäfen am Schwarzen Meer exportiert. Vor dem Einmarsch Russlands trug die Landwirtschaft nach Angaben des Staatlichen Statistikdienstes der Ukraine rund zehn Prozent zum ukrainischen BIP bei und erwirtschaftete 41 Prozent der Exporteinnahmen des Landes.[19] Noch im Jahr 2021 hatte die Ukraine eine Rekordernte von 42 Mio. Tonnen Getreide eingefahren und landwirtschaftliche Güter im Wert von 27,8 Mrd. Dollar exportiert. Für das Jahr 2022 war eine weitere Steigerung der Ausfuhren erwartet worden.[20]

Russlands Streitkräfte blockierten kurz nach Beginn der Invasion die ukrainischen Seehäfen, um auf diese Weise den Export zu unterbinden. Zunächst wurden die Schifffahrt und der Getreideexport aus den Seehäfen eingestellt. Nach massivem internationalem Druck wurde im Juli 2022 unter Vermittlung der UNO und der Türkei die Schwarzmeer-Getreideinitiative (Black Sea Grain Initiative, BSGI) ins Leben gerufen. In den zwölf Monaten, die das Abkommen in Kraft war, wurden auf mehr als 1000 Schiffen knapp 33 Mio. Tonnen ukrainischer Weizen, Gerste, Mais, Sonnenblumenmehl und Sonnenblumenöl an Abnehmer in der Welt gebracht. Nach Angaben der Vereinten Nationen war China mit 7,9 Mio. Tonnen, d.h. fast einem Viertel der ukrainischen Lieferungen, der größte Einzelabnehmer dieser Ausfuhren im Rahmen der BSGI. Peking importierte etwa 5,8 Mio. Tonnen Mais, 1,8 Mio. t Sonnenblumenkernmehl, 370 000 t Sonnenblumenöl und 340 000 t Gerste.[21]

In diesem einen Jahr wurde die Hälfte der Exporte über die Häfen Odessa, Južne und Čornomors’k, 26 Prozent über die Donauhäfen wie Izmajil und Reni sowie 24 Prozent über den Landweg nach Danzig in Polen abgewickelt. Bis zu Beginn des Krieges hatten die Donauhäfen beim Getreideexport praktisch keine Rolle gespielt.

Im Juli 2023 erklärte Russland seinen Ausstieg aus dem Getreideabkommen. Mit dem massiven Beschuss der Häfen von Odessa und der Donau-Region stellt sich immer dringlicher die Frage, wie das ukrainische Getreide exportiert werden kann. Mit den USA, der Türkei und anderen Partnern arbeitet die Ukraine daran, die Ausfuhrkapazitäten über die Donau von aktuell etwa drei auf vier Millionen Tonnen zu erhöhen.[22]

Im Juli, August und September 2023 griff Russland mit Drohnen und Marschflugkörpern wiederholt die Häfen und die Infrastruktur im Gebiet Odesa an. Bei Angriffen auf die Donauhäfen wurden Anfang August nach ukrainischen Angaben 40 000 Tonnen Getreide zerstört, die für den Export nach Afrika, China und Israel vorgesehen waren.[23] Laut Angaben der britischen Regierung wurden seit Juli 2023 280 000 t Getreide durch russländische Angriffe vernichtet.[24]

Neben den Angriffen auf Häfen und Infrastruktur versucht die russländische Marine ebenfalls, Schiffe, die die Donauhäfen ansteuern, aufzubringen, um deren Eigner einzuschüchtern und vom Getreideexport abzubringen. Trotz über 100 Angriffe und einiger Schäden an den Donauhäfen ist es Russland bisher nicht gelungen, den Export über diese Route stark zu beeinträchtigen.[25] Der ukrainische Infrastrukturminister Oleksandr Kubrakov schrieb am 13. September 2023, dass die Angriffe das Exportpotential aus den Donauhäfen um 0,5 Mio. Tonnen reduziert hätten.[26]

Nach Angaben des ukrainischen Getreideverbands (UGA) wird die Ukraine in der Saison 2023 rund 57 Mio. Tonnen Getreide und Speiseöl exportieren. Die Exportkapazitäten über die ukrainische Landesgrenze in die EU belaufen sich auf 15 bis 16 Mio. Tonnen pro Jahr. Der Rest muss demnach über die Donauhäfen des Landes abgewickelt werden. Neben Russlands Angriffen und diesen Kapazitätsgrenzen sind die gestiegenen Preise für die Produktion und den Transport für die ukrainischen Landwirte das größte Problem. Im November 2022 kostete es 29 Dollar pro Tonne, Getreide aus der Zentralukraine über das Schwarze Meer zu exportieren. Der Export über die Donauhäfen kostet die Landwirte knapp 124 Dollar und aus Danzig 140 Dollar.[27] Obwohl an sich die Transportkosten über die Seehäfen der Region Odesa niedriger sind, kam es in den letzten Monaten, in denen das Getreideabkommen noch in Kraft war, zu enormen Verzögerungen der Inspektionen. Das führte zu erheblichen Preissteigerungen. Ein Logistikunternehmer schätzt, dass zwei Monate Verspätung auf dem Seeweg die Exportkosten so verteuern, dass sie genauso hoch sind wie die Kosten des Exports über die Donau. Durchschnittlich belief sich die Verspätung der Schiffe auf ein bis zwei Monate. Beobachter vermuten, dass Russland diese Inspektionen bewusst verzögerte, um die Kosten in die Höhe zu treiben.[28]

Die gestiegenen Kosten führen nach Angaben des stellvertretenden ukrainischen Landwirtschaftsministers Taras Vysockyj dazu, dass Landwirte 2023 wohl keinen Gewinn aus ihrem Getreideanbau erzielen, dadurch ihre Getreideaussaat für den Winter und die nächste Saison reduzieren und höchstwahrscheinlich in finanzielle Schwierigkeiten kommen. Dies wiederum könnte dazu führen, dass die Ukraine als einer der größten Getreidelieferanten der Welt ihre Produktion einschränkt – und das in einer Zeit ohnehin bereits hoher Lebensmittelpreise.

Die Reaktion der Märkte

Im September 2021 untersagte China den Export von Phosphat-Düngemitteln zunächst vollständig und legte dann für das Jahr 2022 strenge Exportquoten fest. Russland als der weltgrößte Exporteur von Stickstoff-Düngern zog nach und schränkte seine Ausfuhr ebenfalls stark ein und setzte sie im Februar 2022 für zwei Monate aus. Beide Staaten gaben für diese Praxis keine Gründe an. Der wahrscheinlichste ist, dass beide ihre eigene Agrarwirtschaft stärken und Preise für die Düngerstoffe auf dem heimischen Markt niedrig halten wollten.[29] Bis heute sind diese Exportbeschränkungen nicht aufgehoben. Damit waren Anfang 2022 20 Prozent der weltweiten Düngeexporte nicht verfügbar. Die Getreidepreise stiegen infolgedessen bereits kontinuierlich an.[30] Nach Russlands Invasion in der Ukraine kam es zu einem weiteren deutlichen Anstieg der weltweiten Lebensmittelpreise. Im März 2022 erreichte der Lebensmittelindex der Vereinten Nationen mit 159,7 Punkten seinen bisher höchsten Wert seit 50 Jahren.[31] Nach dem Zustandekommen des Getreideabkommens im Juli 2022 fielen die globalen Lebensmittelpreise wiederum um 11,6 Prozent im Nahrungsmittelpreisindex und erreichten das Niveau vor der Invasion.[32] Genau deshalb waren die Sorgen groß, dass Russlands Ausstieg aus dem Getreideabkommen, den Vladimir Putin im Juli 2023 erklärte, für steigende Preise und Preisvolatilität sorgen könnte. Tatsächlich stieg der Preis für Weizen und Mais an den globalen Märkten zeitweise sprunghaft an. Ende Juli schätzte der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), dass die Preise für Getreide zwischen zehn und 15 Prozent steigen würden.[33]

Auch der weltweite Weizenpreisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) stieg im Juli um 1,6 Prozent gegenüber dem Vormonat. Das war der erste monatliche Anstieg seit neun Monaten. Der Weizenpreisindex fließt in den breiter angelegten Nahrungsmittelpreisindex FAO ein, der die monatlichen Veränderungen der internationalen Preise anhand eines Warenkorbs von Nahrungsmitteln ermittelt. Die FAO warnte, dass Preissteigerungen und Preisschwankungen die Versorgung gerade ärmerer Länder in Subsahara-Afrika und im Nahen Osten stark beeinträchtigen. Der Preis für Sonnenblumenöl war zudem nach neun Monaten zum ersten Mal um 15 Prozent gestiegen.[34]

Ende August 2023 fielen die Weizen- und Maispreise am Terminmarkt in den USA und Europa zunächst unter das Niveau vom Juli, was auch mit der Rekordernte in Russland und einer schwächeren globalen Nachfrage zu tun hat.[35] Im August fielen die globalen Getreidepreise im FAO-Weizenpreisindex aber um 3,8 Prozent im Vergleich zum Vormonat.[36] Die schlimmsten Befürchtungen haben sich bisher nicht erfüllt. Entscheidend wird die Frage sein, wie viel Getreide die Ukraine im Herbst 2023 exportieren kann.

Trotz der westlichen Sanktionen gegen russländische Banken sowie weiterer Handels­erschwernisse konnte Russland im Landwirtschaftsjahr 2022/2023 49 Mio. Tonnen Getreide auf ausländische Märkte liefern – eine 48-prozentige Steigerung im Vergleich zu 2021/2022.[37] Auch aus den annektierten ukrainischen Gebieten exportiert Russland Getreide – nach offiziellen amerikanischen Schätzungen belaufen sich diese illegalen Exporte auf sechs Millionen Tonnen.[38]

Zwar haben sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und Russland intensiviert, aber der Handel mit Agrargütern stagniert.[39] Zolldaten zeigen, dass China im ersten Drittel des Jahres 2023 kaum Weizen, Mais und Gerste aus Russland bezogen hat. Das ist insofern erstaunlich, als China seine Getreideimporte gegenüber den ersten vier Monaten des Vorjahres um 60 Prozent auf etwa sechs Millionen Tonnen erhöht haben. Von Januar bis April 2023 kamen gerade 30 000 Tonnen aus Russland.[40] Offen ist, ob durch die im Jahr 2023 von China und Russland eingerichteten Getreidekorridore in Sibirien der russländisch-chinesische Getreidehandel an Fahrt aufnimmt.

Chinas auffallende Zurückhaltung

Wegen der chinesischen Interessen an Agrargütern aus der Ukraine waren die Hoffnungen in Kiew und der internationalen Staatenwelt groß, dass China auf Russland einwirken könnte, das Schwarzmeergetreideabkommen wieder in Kraft zu setzen. Als weltweit größter Importeur von Agrarprodukten aus der Ukraine dürfte es China ungelegen gekommen sein, dass Russland das Getreideabkommen kündigte. Gerade in einer Zeit, als der chinesische Immobilienmarkt in Turbulenzen geriet, der Binnenkonsum und der Außenhandel zurückgingen, dürfte die Volksrepublik kein Interesse an steigenden oder volatilen Lebensmittelpreisen haben.[41]

Dennoch war die chinesische Reaktion auf Russlands Ausstieg aus dem Getreideabkommen sehr zurückhaltend.[42] Der UN-Generalsekretär, der Papst, die Afrikanische Union, die Türkei, verschiedene westliche Staaten, aber auch Indien und Südafrika forderten zum Teil vehement die schnelle Wiederaufnahme des Abkommens.[43] China schwieg. Und das, obwohl das Außenministerium noch im Februar 2023 „Chinas Position zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“ vorgelegt hatte. Damals hatte China alle Parteien zur vollen Umsetzung des Getreideabkommens aufgerufen und dessen Bedeutung für die globale Lebensmittelversorgung hervorgehoben.[44]

Die chinesische Zurückhaltung ist umso bemerkenswerter, als Russland seit der Kündigung des Getreideabkommens auch erhebliche Mengen Getreide in der Ukraine zerstört hat, die für China vorgesehen waren. So wurden nach Angaben von Präsident Zelens’kyj bei einem russländischen Angriff auf die ukrainischen Donauhäfen in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2023 im Gebiet Odesa 60 000 Tonnen Agrargüter zerstört, die auf die Ausfuhr nach China warteten.[45]

Einen Tag nachdem Russland das Getreideabkommen hatte auslaufen lassen, äußerte sich die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, zurückhaltend. China hoffe, dass die betroffenen Parteien das Problem der internationalen Ernährungssicherheit durch „Dialog und Konsultation“ angemessen lösten und deutete an, dass China bereit sei, an einer Lösung beizutragen.[46] Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verlas der Vertreter Chinas am 22. Juli eine Erklärung, in der er forderte, „die Ausfuhr von Getreide und Düngemitteln aus Russland und der Ukraine bald wieder aufzunehmen“ da diese von großer Bedeutung für die Sicherung der weltweiten Nahrungsmittelversorgung sei.[47]

Vor dem BRICS-Gipfel am 22.–24. August 2023 in Südafrika stand die Frage im Raum, was China tun würde, um das Getreideabkommen wiederzubeleben. Auf dem Gipfel war in dieser Frage abgesehen von markigen Statements des russländischen Außenministers Sergej Lavrov, dass der Westen sich weigern würde, Russlands Forderungen nachzukommen, kaum etwas zu hören.[48] Russland hatte mit dem Austritt aus dem Getreideabkommen eine Reihe von Bedingungen – darunter die Aufhebung der Sanktionen gegen Banken – gestellt. Westliche Sanktionen richten sich nicht direkt gegen den Export von Düngemitteln oder Nahrungsmitteln aus Russland. Aber der Ausschluss russländischer Banken aus dem weltweiten Zahlungsverkehrssystem und die Weigerung westlicher Unternehmen, russländische Schiffe zu versichern, haben zur Beeinträchtigung russländischer Getreideexporte geführt.[49] In der BRICS-Gipfelerklärung bekräftigen die Länder lediglich ihre vage Absicht „Ernährungssicherheit sowohl in den BRICS-Ländern als auch weltweit zu verbessern“.[50] Im September 2023 wurde ein Brief von UNO-Generalsekretär António Guterres an Außenminister Lavrov bekannt. Darin bot er Russland an, die sanktionierte Landwirtschaftsbank könne unter bestimmten Bedingungen wieder an das internationale SWIFT-Zahlungssystem angebunden werden. Gleichzeitig stellte eine Lösung des Versicherungsproblems, das Auftauen eingefrorenen Vermögen der Düngemittel-Firmen in Europa sowie die Erlaubnis für Schiffe unter russländischer Flagge in Aussicht, wieder in europäische Häfen einzulaufen.[51] Diese Positionen stießen in der Ukraine und im Westen auf zum Teil heftige Kritik.

Bereits einen Monat zuvor hatte das japanische Medium Nikkei einen ukrainischen Offiziellen zitiert. Er sagte:

„Obwohl China einer der größten Nutznießer der Schwarzmeer-Getreideinitiative ist, hat sich Peking entschieden, untätig zu bleiben und Russland nicht zu drängen, das Abkommen fortzusetzen. Anders als viele westliche Länder hat China zwar ein Druckmittel, will es aber nicht einsetzen, um den Krieg zu beenden. Je länger er dauert, desto besser für China. Der Westen und Russland erschöpfen ihre Ressourcen, und China schöpft den ganzen Rahm ab.“[52]

Die ukrainische Enttäuschung über China speist sich auch aus Pekings Haltung zu Russlands großflächiger Invasion.[53] China vertritt nichts anderes als „eine prorussländische Neutralität“[54] oder eine „strategische Zurückhaltung mit Moskauer Schlagseite“. Wenig deutet darauf hin, dass China willens ist, sein politisches Kapital einzusetzen, um Russlands Getreideblockade zu überwinden. Trotz seiner eigenen Interessen am Schwarzmeer-Getreideabkommen hat sich China stillschweigend an die Seite Russlands gestellt. Gemeinsame machtpolitische Interessen der beiden Diktaturen wiegen mehr als das Interesse an Brot und Futter aus der Ukraine.


[1]   Yurii Poita: The Russian-Ukrainian War as a turning point for Ukraine’s relations with China. Ukraine Analytica, 2/2022, <https://ukraine-analytica.org/wp-content/uploads/Poita.pdf>.

[2]   China, Ukraine set up strategic partnership, 20.6.2013, <www.china.org.cn/world/2011-06/20/ content_22822802.htm>.

[3]   Xi Jinping Holds Talks with President Viktor Yanukovych of Ukraine, the Two Heads of State Agree to Further Deepen China-Ukraine Strategic Partnership, <www.fmprc.gov.cn/eng/gjhdq_ 665435/3265_665445/3250_664382/3252_664386/201312/t20131208_561638.html>.

[4]   Dmytro Goriunov, Bohdan Prokhorov, Hanna Sakhno: Chinese Economic Footprint in Ukraine. Policy Paper des Center for Economic Strategy. Kiev 2021,     <https://ces.org.ua/en/chinese-money-in-ukraine-en/>.

[5]   Weltbank, Trade summary for Ukraine 2013, <https://wits.worldbank.org/CountryProfile/en/Country/UKR/Year/2013/Summarytext>.

[6]   Political Relations between Ukraine and China, 2022, <https://china.mfa.gov.ua/en/partnership/political-relations-between-ukraine-and-china>.

[7]  Ukraine official makes first senior visit to China since before Russian invasion. Reuters, 20.7.2023.

[8]   Sovetnik po torgovo-ėkonomičeskim voprosam Posol’stva KNR v Ukraine Lju Czjun: V buduščem my nadeemsja uvidet’ bol’še ukrainskoj produkcii s vysokoj dobavlennoj stoimost’ju na kitajskom rynke. Interfax Ukraine, 19.2.2020.

[9]   Iuliia Osmolovska: Motor Sitsch und andere chinesische Investitionsprojekte. Ukraine verstehen, 28.12.2021.

[10] Goriunov, Chinese Economic Footprint in Ukraine [Fn. 4], S. 12.

[11] Worldbank: South Caucasus and Central Asia: The Belt and Road Initiative Kazakhstan Country Case Study, 2022, <https://documents1.worldbank.org/curated/en/ 471731593499938164/pdf/ South-Caucasus-and-Central-Asia-The-Belt-and-Road-Initiative-Kazakhstan-Country-Case-Study.pdf>.

[12] Bertelsmann Stiftung: Antagonisms in the EU’s Neighbourhood. Geopolitical Ambitions in the Black Sea and Caspian Region, 2020, S. 42.

[13] Zongyuan Zoe Liu: What’s at Stake for China’s Economic Relationship With Ukraine? Council on Foreign Relations, 2.3.2022, <www.cfr.org/in-brief/whats-stake-chinas-economic-relationship-ukraine>.

[14] Ukraine Invest: Chinese COFCO to implement an investment project in Mariupol Sea Port, 2019, <https://ukraineinvest.gov.ua/en/news/chinese-investment-cofco/>.

[15] Elisabeth Braw: Why Does China Own So Much of Ukraine? Wall Street Journal, 29.6.2022.

[16] Michael McConnell u.a.: Feed Outlook: February 2022, FDS-22b, U.S. Department of Agriculture, Economic Research Service, 11.2.2022.

[17] Ukraine Agricultural Production and Trade: U.S. Department of Agriculture, 4.2022, <www.fas.usda.gov/sites/default/files/2022-04/Ukraine-Factsheet-April2022.pdf>.

[18] Bonnie Girard: The Cost of the War to the China-Ukraine Relationship. The Diplomat, 30.3.2022.

[19]  Statistical Yearbook of Ukraine, 2022, <https://ukrstat.gov.ua/druk/publicat/kat_u/2022/zb/ 11/Yearbook_21_e.pdf>.

[20] As Russia Strikes Ports, Ukraine’s Farmers Scramble to Keep Exporting. New York Times, 2.8.2023.

[21] Wem nützt das Getreideabkommen – und wird Putin es verlängern? Der Spiegel, 16.7.2023.

[22] U.S. in Talks to Develop Ukraine Grain Export Routes. Wall Street Journal, 15.8.2023.

[23] Russia strikes Ukraine’s Danube port, driving up global grain prices. Reuters, 2.8.2023.

[24]  Ukraine’s crucial Danube ports battle rising costs. Financial Times, 13.9.2023.

[25]  Ebd.

[26] Oleksandr Kubrakov, 13.9.2023, <https://twitter.com/OlKubrakov/status/1701949697550684476>.

[27] „The Market Is Dead“: Ukraine’s Farmers Count the Cost of Grain Deal’s Collapse. Wall Street Journal, 26.8.2023.

[28] Ukraine’s crucial Danube ports battle rising costs. Financial Times, 13.9.2023.

[29]  China issues phosphate quotas to rein in fertiliser exports – analysts. Reuters, 15.7.2022.

[30] Wie China und Russland die Agrarmärkte in Griff nahmen. tagesschau.de, 18.7.2023.

[31] Food and Agriculture Organization of the United Nations: World Food and Agriculture – Statistical Yearbook 2022. Rome 2022, <https://doi.org/10.4060/cc2211en>.

[32] One year of the Black Sea Initiative: Key Facts and Figures. United Nations, 10.7.2023.

[33] World Economic Outlook Update July 2023 Press Briefing Transcript, <www.imf.org/ en/News/Articles/2023/07/25/tr072523-transcript-of-world-economic-outlook-update>.

[34] Global food prices rise after Russia ends Ukraine grain deal and India restricts rice exports. PBS Newshour, 4.4.2023.

[35] Getreidepreise blockiert durch schwachen Export – Ernte schrumpft. Agrarheute, 28.8.2023.

[36] World Food Situation. FAO, 8.9.2023, <www.fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en/>.

[37] World Agricultural Supply and Demand Estimates, United States Department of Agriculture, 12.9.2023, <www.usda.gov/oce/commodity/wasde/wasde0923.pdf>. – Ein Landwirtschaftsjahr datiert von Juli des laufenden Jahres bis zum Juni des folgenden Jahres.

[38] Assessment of Impact of Russia’s Invasion of Ukraine on Food Security, U.S. Office of the Director of National Intelligence, July 2023, <https://files.constantcontact.com/ fab49a91901/1e86de0d-671c-4652-9c56-dec0554e13a2.pdf>.

[39] Hugo von Essen: Russia-China Economic Relations Since the Full-Scale Invasion of Ukraine, NKK/SCEEUS Report 2/2023, 5.7.2023, <https://sceeus.se/en/publications/russia-china-economic-relations-since-the-full-scale-invasion-of-ukraine/>.

[40] China and Russia Take Small Steps to Bolster Agriculture Trade. Bloomberg, 26.5.2023, <www.bloomberg.com/news/newsletters/2023-05-26/supply-chain-latest-china-needs-commodities-and-russia-has-lots>.

[41] Chinas Wirtschaft schwächelt: „Es wird kein Zurück geben“. Zeit-Online, 28.8.2023.

[42] Elizabeth Wishnick: A Grain of Contention for China in the Black Sea? Center for Naval Analyses, 18.8.2023.

[43] Michael Laff: World leaders call on Russia to rejoin Black Sea grain deal. Share.america, 10.8.2023.

[44] China’s Position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis. 24.2.2023, <www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/202302/t20230224_11030713.html>.

[45] 60,000 tonnes of agricultural products destroyed by Russian missiles were to be sent to China. Ukrainska Pravda, 19.7.2023.

[46] Foreign Ministry Spokesperson Mao Ning’s Regular Press Conference, 18.7.2023, <www.mprc.gov.cn/mfa_eng/xwfw_665399/s2510_665401/202307/t20230718_11114781.html>.

[47] Remarks by Ambassador Geng Shuang at the UN Security Council Briefing on Ukraine, 22.7.2023, <http://un.china-mission.gov.cn/eng/hyyfy/202307/t20230722_11116661.htm>.

[48] Russia’s Lavrov to BRICS: no signs of West abiding by Russian part of grain deal. Reuters, 24.8.2023.

[49] Putin Declines to Renew Black Sea Grain Initiative. Voice of America, 5.9.2023.

[50] The Presidency of South Africa: XV BRICS Summit – Johannesburg II Declaration, 24.8.2023, S. 10, <www.thepresidency.gov.za/content/xv-brics-summit-johannesburg-ii-declaration-24-august-2023>.

[51]  Guterres bietet Russland Dünger-Kompromiss an. Tagesschau, 8.9.2023, <www.tagesschau.de/ausland/asien/guterres-getreideabkommen-kompromissvorschlag-100.html>.

[52] China not expected to push Russian return to Black Sea grain deal. Nikkei, 7.8.2023.

[53] Sebastian Hoppe: Chinas Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine. Strategische Zurückhaltung mit Moskauer Schlagseite, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 15/2022, S. 125–137.

[54] Vitaly Kozyrev: China’s Pro-Russian Neutrality Position in the Ukraine Crisis as Part of Its „Hybrid“ Confrontation with the West, in: East Asian Policy, 2/2023, S. 77–88.

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