Titelbild Osteuropa 4/2024

Aus Osteuropa 4/2024

Radikalisierung

Editorial


Abstract in English

(Osteuropa 4/2024, S. 3–4)

Volltext

Der zweite Schlag führte zum Tod. Das Putin-Regime hat seinen gefährlichsten Gegner umgebracht. Den Beweis für den ersten Anschlag auf sein Leben im August 2020 hatte Aleksej Naval’nyj noch selbst erbringen können. Das Verbrechen in der Haftanstalt „Polarwolf“ lässt sich nur durch eine Indizienkette belegen. Die Nachricht von seinem Tod am 16. Februar 2024 löste in kritisch gesinnten Kreisen Russlands einen Schock aus. Doch das Gros der Bevölkerung Russlands vergräbt sich in Unmündigkeit, um sich der Mitverantwortung für die Verbrechen nicht stellen zu müssen, die in ihrem Namen begangen werden und die sie durch Wegsehen ermöglicht haben. Doch der Tag wird kommen, an dem die mit Propaganda und Terror geschaffene Glocke zerbricht, die Angst und der Selbstbetrug der Scham weichen.

Wann dies sein wird, ist unvorhersehbar. Umso bewundernswerter ist der Mut jener Zehntausenden, die trotz omnipräsenter Überwachung durch Kameras mit integrierter Gesichtserkennungssoftware zum Begräbnis von Aleksej Naval’nyj gekommen sind oder in ganz Russland an den Gedenksteinen für die unter Stalin Ermordeten Blumen für das prominenteste Opfer des heutigen Gewaltregimes niedergelegt haben. Oder wenigstens in den sozialen Medien die Angst überwunden und ein kleinstes Zeichen gesetzt haben, obwohl sie wissen, dass der Staat ein totales Kontrollregime installiert hat und jede Äußerung den Geheimdienst auf den Plan rufen kann.

Nur scheinbar paradox ist, dass das vermeintlich allmächtige Regime ohnmächtig ist. Nur durch immer größere Steigerung der Gewalt hält es sich am Leben. Die Zahl der Strafprozesse wächst rasant, immer mehr politische Gefangene werden in den Untersuchungsanstalten unter folterähnlichen Bedingungen gehalten, um ihren Willen zu brechen und Geständnisse zu erzwingen. Immer länger werden die Haftstrafen für das „Verbrechen“ der Gedankenfreiheit.

Der gleiche Mechanismus der Radikalisierung ist im Eroberungskrieg gegen die Ukraine zu beobachten. Aus der geplanten kurzen „Spezialoperation“ ist der größte Land- und Luftkrieg seit 1945 geworden. Russlands Okkupationsarmee kann keine einzige Stadt einnehmen, ohne sie zuvor zerstört zu haben. Nach dem Urbizid in Mariupol’ hat sie Bachmut und Avdijivka in ein Trümmerfeld verwandelt. Nun ist Charkiv im Visier. Eine Million Menschen leben hier. Auch wenn sie noch außer Reichweite der Artillerie liegt, so richten die mittlerweile fast täglich abgeworfenen schweren Gleitbomben immer größere Schäden an Wohnhäusern und öffentlicher Infrastruktur an.

Am Boden hat Russland die ukrainische Armee und die hinter ihr stehende Gesellschaft an den Rande der Erschöpfung gebracht. Die westlichen Staaten waren nicht fähig oder willens, die Ukraine rechtzeitig mit den zur Selbstverteidigung benötigten Waffen auszustatten. Die Verluste der gescheiterten Gegenoffensive im Jahr 2023 wie des täglichen Abwehrkampfs haben die Entschlossenheit der Gesellschaft geschwächt. Doch dies eröffnet keinen Ausweg aus dem Krieg. Im Gegenteil: Die Kriegsziele Russlands sind flexibel. Je mehr es erreichen kann, desto mehr nimmt es sich. Dies gilt umso mehr, als der Krieg für das Regime zu einem Selbstzweck geworden ist. Es wird ihn erst einstellen, wenn die Kosten für eine Fortsetzung nach seinem eigenen zynischen Kalkül zu hoch werden. Dies muss jeder wissen, der über ein Ende des Krieges nachdenkt.

Berlin, im Mai 2024                                       Manfred Sapper, Volker Weichsel