Titelbild Osteuropa 5/2024

Aus Osteuropa 5/2024

Bad News

Editorial


Abstract in English

(Osteuropa 5/2024, S. 3–4)

Volltext

Öffentliche Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut. Geht es um gesellschaftliche Proteste, Konflikte und Machtkämpfe in fremden Ländern, wird es noch schwieriger als im nationalen Rahmen, dafür das mediale Interesse zu wecken. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine absorbiert einen großen Teil unserer Aufmerksamkeit. Doch selbst die erlahmt, wenn das Grauen zur Routine wird. Nur der Horror des Besonderen erregt noch das Interesse, etwa wenn Russlands Armee als Teil ihrer Kriegsführung gegen die ukrainische zivile Infrastruktur einen Marschflugkörper in die Kinderklinik Ochmatdyt in Kiew lenkt, wie am 8. Juli 2024 geschehen. Ansonsten droht sich der Schleier des Verdrängens und Vergessens über die Monotonie des Stellungs- und Abnutzungskampfes an der Front zu legen. Käme es dazu, wäre das fatal. Denn das mindeste, was ein Mensch leisten kann, der über Empathie verfügt, ist, den Opfern von Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg Aufmerksamkeit und Unterstützung zu schenken.

Im Schatten des Krieges spitzt sich die Lage im Südkaukasus zu. Georgien befindet sich seit Monaten in einer tiefen Krise. Die herrschende Partei Georgischer Traum ist drauf und dran, das Land in einen Georgischen Alptraum zu verwandeln. Die Regierung agiert immer autoritärer, sie hat nahezu alle staatlichen Institutionen gleichgeschaltet, die Schlüsselpositionen mit Gefolgsleuten besetzt. Sie verfolgt die Absicht, die Opposition auszuschalten. Die Regierungspartei und der hinter ihr stehende Oligarch Bidzina Ivanishvili produzieren Feindbilder und Verschwörungsideologien. Sie raunen von einer „globalen Kriegspartei“, die Georgien in den Krieg in der Ukraine hineinziehen wolle. Und NGOs bereiteten einen Staatsstreich in Georgien vor …

Nicht zufällig hat die Regierungspartei nach dem Vorbild des Moskauer Gesetzes über „ausländische Agenten“ von 2012 ein repressives Gesetz über „ausländischen Einfluss“ ins Parlament eingebracht und beschlossen. Es zielt darauf, die unabhängige Zivilgesellschaft zu zerstören und gleichzeitig auf subtile Weise die Annäherung an die Europäische Union zu torpedieren. Denn dass ein solches Gesetz unvereinbar mit dem 2023 eingeschlagenen Weg nach Brüssel ist, den die überwältigende Mehrheit der georgischen Gesellschaft befürwortet, war den Polittechnologen des Georgischen Traums völlig bewusst. Ihr Kalkül ist vorerst aufgegangen. Ende Juni 2024 hat die EU den Beitrittsprozess Georgiens erst einmal auf Eis gelegt. Ob sich das autoritäre Regime oder die liberale Gesellschaft durchsetzen wird, entscheidet sich wohl bei den Wahlen im Oktober 2024. Dann fällt auch die Entscheidung über Georgiens außenpolitischen Weg. Bis dahin bleibt die Lage angespannt.

Auch Armenien kommt nicht zur Ruhe. Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach im September 2023 und der gewaltsamen Vertreibung der armenischen Bevölkerung zeigt sich wieder einmal, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Das autokratische Regime in Baku stellt neue territoriale Forderungen und befeuert innenpolitische Spannungen in Armenien, die zu Protesten gegen Ministerpräsident Paschinjan führen. Die EU ist desorientiert, die USA bleiben eine Ordnungsmacht ohne Ordnungswillen und Russlands Politik wirkt destabilisierend.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat erhebliche Rückwirkungen auf die eigene Gesellschaft. Er führt zur Militarisierung der Volkswirtschaft. Die Rückkehr von Hunderttausenden deformierter Soldaten und Söldner, darunter Zehntausende Traumatisierte und Invalide, führt zwangsläufig zur Brutalisierung und Degradation der russländischen Gesellschaft. Ideologisch-propagandistisch zieht das Regime alle historischen und kulturellen Register, um seinen Krieg zu rechtfertigen und an der Verfertigung einer imperialen, etatistischen, großrussisch-nationalistischen Ideologie zu arbeiten. Eine wichtige Stichwortgeberin ist die Russische Orthodoxe Kirche. Unter Rückgriff auf das Narrativ der „Heiligen Rus’“ und die apokalyptische Kriegsideologie des 16. Jahrhunderts legitimiert Patriarch Kirill die „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine als „Heiligen Krieg“ und betreibt die Apotheose des Soldatentodes.

Kulturpolitiker und regimenahe Künstler missbrauchen Dmitrij Šostakovič als Kronzeugen für die Propaganda, die Ukraine vom „Nazismus“ befreien zu müssen. Und Sergej Rachmaninov wird zum Heroen eines großrussischen Patriotismus umgedeutet.

Die Geschichte ist am wenigsten vor der Instrumentalisierung und der Indienstnahme durch das herrschende Regime gefeit. Das zeigt die große empirische Studie der Moskauer Soziologen Lev Gudkov & Natalija Zorkaja über Geschichtsbewusstsein und kollektive Erinnerung in Russland. Die Untersuchung des Levada-Zentrums entstand im Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und greift auf die Ergebnisse von drei Jahrzehnten öffentlicher Meinungsforschung in Russland zurück. Die Daten zeigen, wie stark das Geschichtsbewusstsein seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion staatlich geprägt ist und sich in ihm zentrale Elemente der sowjetischen Ideologie und des autoritären Staatsverständnisses wiederfinden.

Dreh- und Angelpunkt der staatlichen Geschichtspolitik ist der sowjetische Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Er dient heute dazu, die Vorstellung von der notwendigen Einheit von vlast’ i narod (Führung und Volk) als Voraussetzung für das Überleben der Nation zu propagieren und den Angriffskrieg auf die Ukraine zu rechtfertigen. Die Einheit von Führer und Volk ist ein Konzept, das wir in Deutschland aus dem Nationalsozialismus kennen. Die kritische Aufarbeitung des Stalinismus in Russland ist in der Defensive, die Repressionen und der Große Terror werden im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verdrängt. Stattdessen erfreut sich Stalin in relevanten Teilen der russländischen Gesellschaft steigender Wertschätzung.

Das alles sind keine guten Nachrichten. Aber sie verlangen unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Denn die Anerkennung der Wahrheit ist ein grundlegender Beitrag zur Selbstaufklärung.

Berlin, im Juli 2024                                   Manfred Sapper, Volker Weichsel