Titelbild Osteuropa 1-3/2025

Aus Osteuropa 1-3/2025

Barometer

Editorial

(Osteuropa 1-3/2025, S. 5–6)

Volltext

Im Jahr 2025 begeht die Zeitschrift Osteuropa den 100. Jahrestag ihrer Gründung. Diese Tatsache hat keinen großen Nachrichtenwert. Manche würden sagen: Osteuropa ist ein Nischenprodukt. Der breiten Öffentlichkeit ist sie unbekannt, also ist sie nicht relevant genug, damit dieses Jubiläum Aufmerksamkeit erfährt. Zeitschriften kommen und gehen, einige blicken auf eine lange Tradition zurück, andere werden eingestellt, bevor sie eine entwickeln . . .

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn Osteuropa ist mehr als eine Zeitschrift. Sie ist wie ein Barometer, an dem sich der Luftdruck über Europa und damit die politische Wetterlage zwischen Ost und West ablesen lässt. Aus der Taufe gehoben wurde sie in Berlin, Mitte der 1920er Jahre, als in der Kunst, dem Handwerk und der Architektur das Bauhaus stilbildend war. Bauhaus-Elemente, die sich spiegeln, mitunter sogar mehrfach, prägen das Titelbild. Denn die Wirklichkeit im Osten Europas zu spiegeln, Entwicklungen einzuordnen und zu erklären, ist die raison d’être der Zeitschrift.

In Osteuropa spiegelt sich gleichzeitig jedoch auch, wie die Deutschen in dem an Brüchen so reichen 20. Jahrhundert auf den Osten Europas blickten: Als Osteuropa gegründet wurde, bewegte sich die Zeitschrift im Kraftfeld einer auf Russland ausgerichteten Ostorientierung. Das illustriert Otto Hoetzschs Einführung zum Start der Zeitschrift – in heute irritierender Weise, wie Gerd Koenen darlegt. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag ging es den deutschen Eliten um die Abgrenzung vom Westen. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, eine analoge Zeitschrift namens „Westeuropa“ zu gründen. Eine solche gibt es übrigens bis heute nicht.

Dem „Geist von Rapallo“, der Kooperation Deutschlands mit der Sowjetunion, sagten die Nationalsozialisten den Kampf an. Osteuropa konnte dennoch bis 1939 erscheinen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und unter den Bedingungen der deutschen Teilung nahm die Zeitschrift 1951 in der Bundesrepublik ihr Erscheinen wieder auf. Antikommunismus war in den folgenden Jahrzehnten die Geschäftsgrundlage. Heute wird die Zeitschrift in Berlin, am „Ostbahnhof Osteuropas“ (Karl Schlögel), produziert. In diesem Jahrhundert bewegte sich das Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarn im Osten zwischen Neugier und Entfremdung, Furcht und Faszination, Hass und Vernichtung, Kooperation und Konfrontation, Freundschaft und Feindschaft.

100 Jahre Osteuropa sind kein Anlass zu feiern. Und der vorliegende Band ist keine Festschrift. Festschriften sind eine ehrwürdige akademische Tradition, um einem Jubilar Ehre zu erweisen. Doch sie haben eine Schwäche. Festschriften werden überreicht – aber nicht gelesen. Das sollte einer Zeitschrift nicht passieren. Denn eine Zeitschrift und ein Text sind nur dann in der Welt, wenn sie zur Kenntnis genommen werden, Leserinnen und Leser finden, rezipiert und kritisiert werden, Anregungen zur weiteren gedanklichen Auseinandersetzung oder sogar Anstoß zum gemeinsamen Handeln geben. Das ist die Funktion von Öffentlichkeit.

Der 100. Jahrestag von Osteuropa bietet allerdings Anlass, in drei Bereichen das Verhältnis von Osteuropa und Öffentlichkeit zu analysieren. Der erste ist ein kritischer Blick auf die Geschichte und Gegenwart der Zeitschrift. Seit ihrer Gründung bewegt sich Osteuropa an der Grenze zwischen Wissenschaft, Journalismus und Politik. Das ist ein Balanceakt. Jens Bisky und Cord Aschenbrenner als Beobachter von außen machen sich Gedanken, ob er funktioniert, und Mitglieder der Redaktion blicken von innen auf die Vergangenheit, die Konstruktionspläne der Gegenwart und den künftigen Reformbedarf. Noch steht Osteuropa quer zum herrschenden Trend der Fragmentierung und Parzellierung der Öffentlichkeit. Interdisziplinarität bleibt fester Bestandteil des Osteuropa-Gens.

Der zweite Bereich ist der Frage gewidmet, wie „der Osten“ in den deutschen Horizont kommt und wie aus Informationen Wissen wird. Welche Themen kommen an, welches Erkenntnisinteresse steht hinter der Beschäftigung mit Geschichte, Politik, Literatur oder Musik Osteuropas? Eine Pionierfunktion zur Vermittlung von Informationen aus anderen Ländern haben Korrespondenten. Sie registrieren als erste politische und kulturelle Trends vor Ort, sie sollen durch verlässliche Informationen Öffentlichkeit herstellen. Doch das ist nicht so einfach. Christian Neefs Portrait der drei „Korrespondenten-Promis“ Paul Scheffer, Hermann Pörzgen und Gerd Ruge sowie Markus Ackerets Schilderungen aus dem Moskau von heute veranschaulichen, wie politische Rücksichtnahme, Restriktionen, Einschüchterung und Selbstzensur die Arbeit an der Aufklärung beeinträchtigen.

Gleichzeitig zeigen die Rezeptionsanalysen in diesem Bereich, wie stark die historische Osteuropaforschung und die deutsche Aufnahme von Literatur und Musik aus dem Osten Europas von der politischen Großwetterlage bestimmt sind. So spiegeln sich die politischen Brüche des Jahrhunderts 1:1 in der deutsch-deutschen Rezeption sowjetischer Musik. Und das literarische Osteuropa, das lange Zeit terra incognita war, wurde über die besondere Gewaltgeschichte der Region sowie die Verarbeitung der existenziellen Gewalterfahrung im Holocaust oder im Gulag geprägt.

En passant zollen wir auf diesem Wege auch einigen jener Personen Anerkennung, die mit ihrem Wirken viel für die Osterweiterung des deutschen Horizonts und für die publizistische Qualität von Osteuropa getan haben und nicht zufällig unter den Autoren dieses Bandes sind: den Historikern Karl Schlögel, Dietrich Beyrau und Gerd Koenen, der Lektorin Katharina Raabe, dem Slavisten Ulrich Schmid, der Musikwissenschaftlerin Dorothea Redepenning und dem Ökonomen Roland Götz. Danke!

Im dritten Bereich nehmen wir den Wandel der Medienlandschaft, der Öffentlichkeit und der Gesellschaft in den Kernländern Osteuropas, in Russland, der Ukraine und Belarus in Zeiten von Diktatur und Krieg unter die Lupe. Während es in der Ukraine allen kriegsbedingten Einschränkungen zum Trotz nach wie vor einen relativen Medienpluralismus gibt, sind die Medien in Belarus und Russland weitgehend gleichgeschaltet, Freiräume für Öffentlichkeit und Gesellschaft zerschlagen. Damit wächst die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Journalismus, der Publizistik und des Verlagswesens im Exil. Sie sind das Surrogat der öffentlichen Sphäre und Pfeiler der Gegenöffentlichkeit. Und gleichzeitig sind auch sie Barometer zur Prognose der politischen Großwetterlage.

Berlin, im März 2025                     Manfred Sapper, Felix Eick, Aurelia Ohlendorf