Titelbild Osteuropa 1-3/2025

Aus Osteuropa 1-3/2025

Eine Welt im Schatten
Osteuropäische Lektüren, 1989–2025

Katharina Raabe


Abstract in English

Abstract

Seit 1989 erlebten die Länder des ehemaligen Ostblocks einen beispiellosen Aufbruch der Literaturszene. Der Westen entdeckte einen vielstimmigen literarischen Kontinent, der bis dahin im Schatten der Aufmerksamkeit gelegen hatte. Mit der Wahrnehmung wichtiger literarischer Stimmen der Gegenwart ging die verspätete Rezeption einer Reihe europäischer Schriftsteller einher, die heute zur Weltliteratur zählen: Die Radikalität der künstlerischen Mittel von Autoren wie Imre Kertész oder Varlam Šalamov schuf eine neue Idee von literarischer Zeugenschaft. Verspätet rückte auch die Literatur der Ukraine in den Blick und mit ihr ein unbekanntes Riesenland zwischen dem osterweiterten Europa und Russland. Einerseits geprägt von der Gewaltgeschichte der Region, andererseits voller Experimentierfreude brachte die Literatur aus dem Osten Europas Unbeschriebenes und -erzähltes zur Sprache: Die geopoetische Landschaftsprosa und der Familienroman stießen beim deutschsprachigen Publikum auf starke Resonanz. Heute, rund 30 Jahre nach der Öffnung, schwingt das Pendel zurück. Belarus und die Ukraine drohen wieder in jener Grauzone zu versinken, aus der sie hervortraten – ein „letztes Territorium“, vom europäischen Friedensprojekt ausgenommen. Die Literatur löst sich in Zeiten von Exil und virtuellen Räumen aus ihrer geographischen Verortung. Osteuropäische Literatur wird nicht mehr notwendig in Osteuropa oder in einer der dortigen Sprachen geschrieben. Was jedoch bleibt, ist das Muster der Krise als Bedingung für Sichtbarkeit – und die Rolle der Schriftsteller als Opfer und Zeugen von Krieg und Diktatur.

(Osteuropa 1-3/2025, S. 229–262)