Blinder Fleck DDR
100 Jahre Osteuropa ohne Ostdeutschland
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Abstract
Die deutsche Osteuropaforschung ignoriert Ostdeutschland. Die DDR, die vier Jahrzehnte zum sowjetischen Bündnissystem gehörte, hatte jedoch einen ganz anderen Blick auf Osteuropa. Diese hat möglicherweise Folgen bis heute. Auch in der Zeitschrift Osteuropa geht der Blick in den Osten Europas über die DDR hinweg: Die Osteuropaexpertise der DDR wird ignoriert, die Verflechtungsgeschichte Ostdeutschlands mit dem östlichen Europa marginalisiert. Ebenfalls nicht thematisiert wird die Frage, inwiefern sich spezifische Erfahrungen aus der sozialistischen Periode etwa in dem kritiklosen Russlandbild niederschlagen, das Teile der ostdeutschen Gesellschaft pflegen. Es ist Zeit, die DDR als doppelte Peripherie in den Blick zu nehmen: aus Bonner und aus Moskauer Sicht.
(Osteuropa 4/2025, S. 195204)
Volltext
2025 begeht die Zeitschrift Osteuropa ihren 100. Gründungstag. Ihr Chefredakteur Manfred Sapper räumt in der Jubiläumsausgabe „Gespiegelte Wirklichkeit. Osteuropa und Öffentlichkeit im Wandel“ ein, dass es angesichts des russländischen Kriegs gegen die Ukraine nichts zu feiern gäbe. Die dem Jubiläum und dem Strukturwandel der Öffentlichkeit gewidmete Tagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) im März 2025 fand in Berlin-Mitte in unmittelbarer Nähe des Hauses der Russischen Wissenschaft und Kultur statt. Das hat eine besondere Bedeutung, denn die DGO ist 2024 vom Justizministerium der Russländischen Föderation zu einer „extremistischen Organisation“ erklärt worden. Damit gelten die Mitglieder des Vereins sowie die Autorinnen und Autoren von Osteuropa in Russland als „Feinde des Staats“ und können dort strafrechtlich verfolgt werden. Die Nähe zum Russischen Haus und auch zur Russländischen Botschaft blieb nicht unbemerkt. Dass das Interieur des Festsaals in der Friedrichstraße 180 im Nachkriegs-Art déco der Deutschen Demokratischen Republik auch eine Erinnerung an die Herrschaft der Kommunisten war, die 1945 mit der Roten Armee aus Moskau nach Berlin gekommen waren, fiel den Teilnehmern der Konferenz offenbar nicht auf.
In seinem Beitrag zur Jubiläumsausgabe verortet Gerd Koenen den Beginn einer deutsch-sowjetischen Sonderbeziehung im 20. Jahrhundert in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und dem russischen Bürgerkrieg.[1] Routiniert erklärt er, warum beide Staaten ein Interesse an der Aufnahme eines gemeinsamen Fadens hatten und warum dieser im Zuge der Entstehung totalitärer Diktaturen in den 1930er Jahren mehrfach zu einem Fallstrick wurde. Dann springt Koenen abrupt in die Gegenwart und zeigt, wie Vladimir Putin den deutsch-sowjetischen Krieg 1941–1945 in seiner neuen russländischen Geschichtspolitik instrumentalisiert. Die gewaltsame Ausdehnung des Kommunismus sowjetischer Prägung nach Deutschland, die vier Jahrzehnte währende Einbindung eines Teils von Deutschland in das sozialistische Lager sowie die langfristigen Folgen der sowjetischen Präsenz in der DDR für die Wahrnehmung von Russlands Krieg gegen die Ukraine blendet Koenen in seiner Analyse aus. Beim Blick in den Osten Europas lässt er den Osten Deutschlands aus.
Koenen hat in seinem gewaltigen Œuvre auch einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das verzerrte Bild darzustellen, das die bundesdeutsche Linke seiner Generation vom sowjetischen Kommunismus hatte. Die parallele Geschichte der DDR mit ihren mehr als 16 Millionen Einwohnern hat in seiner Argumentation keinen Platz. Sie schrumpft in seinem Text zusammen auf ein Zitat des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, in dem dieser eine Art Sonderbeziehung Ostdeutscher zu Russland postuliert. Koenen vermerkt zwar, es müsse zwischen Deutschen in Ost und West unterschieden werden, schränkt seine Zuständigkeit aber gleich ein, denn ihm fehlten „für die auf dem Boden der DDR Lebenden und Aufgewachsenen die Zugänge.“[2]
Die Lektüre der gesamten Osteuropa-Ausgabe zeigt, dass dieser Blick aus dem Westen in den Osten Europas unter Auslassung der DDR nach wie vor Programm ist. Christian Neef beschränkt seinen Beitrag auf die Tätigkeit dreier prominenter deutscher Korrespondenten in der Sowjetunion.[3] Er widmet sich einem aus der Weimarer Republik und zweien aus der Bundesrepublik. Das ist symptomatisch: Einer der wenigen ostdeutschen Autoren im Band blendet die Ost-Berliner Korrespondenten in Moskau aus – obwohl er selbst von 1983 bis 1990 Moskau-Korrespondent des Rundfunks der DDR gewesen war!
Der gebürtige Leipziger Jens Bisky legt seine eigene biographische Bewegung aus dem Osten in den Westen offen, indem er seine dreißigjährige Erfahrung als Redakteur und Publizist reflektiert.[4] Seine Ausführungen beginnen in Ost-Berlin, in der Redaktion der Berliner Zeitung. Danach können ihn die Leser auf dem Weg durch wichtige Instanzen der deutschen Publikationslandschaft begleiten. Welche Rolle Biskys Sozialisation in der DDR auf diesem Weg spielte, erfahren die Leser nicht. Diese war auch nicht Thema des Aufsatzes.
Der Osteuropahistoriker Dietrich Beyrau beginnt seinen Beitrag über 100 Jahre deutsche historiographische Osteuropaforschung mit einer Einschränkung: „Der Beitrag hat ein erhebliches Defizit“.[5] Auch in der DDR habe es viele Historikerinnen und Historiker gegeben, „die sich mit Osteuropa beschäftigt haben. Ihr Beitrag kann hier wegen fehlender Kompetenz des Autors nicht berücksichtigt werden.“[6] Ein Text, der parallel zu Beyrau die Osteuropa- sowie Ostmitteleuropaforschung in der DDR sowie ihr Nachwirken nach 1990 analysieren würde, fehlt hingegen in der Ausgabe.
Der einzige Beitrag, der systematisch die DDR in die Analyse einbezieht, ist ein musikwissenschaftlicher Aufsatz von Dorothea Redepenning, die am Werk von Dmitrij Šostakovič und anderen Komponisten aus der Sowjetunion aufzeigt, wie stark die Rezeption der Musik von ideologischen Konjunkturen in Ost und West abhing.[7] Während Redepenning bis 1990 einen symmetrischen Vergleich vornimmt, erfahren wir nichts darüber, was das Verschwinden der DDR für die Rezeption sowjetischer Musik in Deutschland bedeutete.
Anke Hilbrenner analysiert die deutsche Wahrnehmung des Holocausts.[8] Auch hier wird deutlich, was sich als roter Faden durch das Heft zieht: die Geschichte der Bundesrepublik gilt implizit als kongruent mit der Deutschlands. Hilbrenner nennt wichtige Gründe, weshalb die systematische Vernichtung der osteuropäischen Juden erst so spät aufgearbeitet wurde. Da sie ihren Fokus auf Westdeutschland richtet, bleibt jedoch unerwähnt, dass sich in den 1980er Jahren unter den Dissidenten in der DDR ein Verantwortungsbewusstsein für die Aufarbeitung des Holocausts herausbildete. Zwar waren die Tatorte des „Holocaust by Bullets“ auch in Ostdeutschland lange unbekannt, doch führte die dissidentische Erinnerung an die Opfer des Holocausts im Jahr 1990 zur Einladung sowjetischer Juden in die DDR.[9] Nach dem Einigungsvertrag übernahm die Bundesrepublik diese Aufnahmepraxis und übertrug sie 1991 auf die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Diese Zuwanderer prägen bis heute das Leben der jüdischen Gemeinden in Deutschland.[10]
Der Literaturwissenschaftler Ulrich Schmid setzt – aus der historisch neutralen Schweiz blickend – in seinem Beitrag über die politisierte Rezeption osteuropäischer Literaturen im Kalten Krieg 1946–1989 ebenfalls die westdeutsche Wahrnehmung mit der deutschen gleich.[11] Am Ende seines Beitrags führt er mit Bezug auf die Sowjetunion eine psychoanalytische Argumentation ein, die man auch auf die Geschichte der DDR übertragen könnte, die als Teil des von Stacheldraht umgebenen Lagers verstanden wird:
„Düstere eigene Erfahrungen und die dunklen Seiten der menschlichen Natur wurden verdrängt und in das dreifache Faszinosum Tremendum der kommunistischen Lager, der marxistischen Zwangsbeglückung und der nackten, menschlichen Existenz im Sozialismus ausgelagert.“[12]
Damit verweist Schmid frei nach Boris Groys auf „Russland als Unterbewusstsein des Westens“.[13] Der Blick auf sowjetische Verfolgungspraktiken als Projektion funktioniert, ohne deutsche Erfahrungen sowjetischer Besatzungsgewalt östlich der Elbe aufzugreifen. Und die Osteuropa-Jubiläums-Ausgabe zeigt, dass die Präsenz Osteuropas im westlichen Unterbewusstsein aktiv bearbeitet wird, nicht jedoch jene im ostdeutschen Unterbewusstsein.
Manfred Sappers Beitrag über die Geschichte der Zeitschrift bestätigt den Befund: 1990 sei eine Zäsur für die Osteuropaforschung gewesen, weil sich im östlichen Europa etwas grundlegend veränderte. Dass sich exakt zum selben Zeitpunkt auch Deutschlands Osten radikal veränderte und damit die Wahrnehmung Osteuropas in diesem Teil Deutschlands, der zuvor zur von Moskau kontrollierten Welt gehört hatte, scheint im Rückblick auf 100 Jahre Osteuropa nicht relevant.[14] Weder taucht die Frage auf, wie sich 1990 die Beziehungen der einstigen ostdeutschen Eliten zu den ostmittel- und osteuropäischen Gesellschaften veränderten. Noch kommen jene zu Wort, die im Zuge der politischen Umwälzungen ihren Status als Expertinnen und Experten verloren. Vier Jahrzehnte deutsche Teilung und drei Jahrzehnte Nachwirken erscheinen in dieser Perspektive von den Verwerfungen in Osteuropa völlig losgelöst zu sein. Während es längst normal ist, dass ein Festakt am repräsentativen Ort im östlichen Teil der Hauptstadt stattfindet, ist es ebenso normal, dass die Vergangenheit des Ostens derselben Stadt ausgeblendet bleibt. Diese Lücke deutet auf ein Problem, das nicht auf das akademische Umfeld von Osteuropa beschränkt ist.
Zwischen imaginierter Vergangenheit und vergangener Zukunft
Es scheint auf den ersten Blick nicht Aufgabe der Osteuropaforschung zu sein, sich mit ostdeutschen Interpretationen des Geschehens in Osteuropa zu befassen, diese Deutungen zu erklären und auf sie zu reagieren. Die Art, wie der 100. Jahrestag der Gründung von Osteuropa begangen wurde, zeigt jedoch, dass es in der wissenschaftlichen und publizistischen Befassung mit dem östlichen Europa sowie in der deutschen Gesellschaft eine dreifache Lücke gibt: Erstens sind diejenigen, die in der DDR bis 1990 den Blick auf das östliche Europa geprägt hatten, weitgehend abwesend; zweitens wird die Verflechtungsgeschichte zwischen diesem Teil Deutschlands und dem östlichen Europa marginalisiert; und drittens gibt es kaum eine öffentliche Reflexion darüber, inwiefern die Art und Weise, wie die „Deutsche Einheit“ politisch, kulturell und wissenschaftlich vollzogen wurde, bis heute unser Handeln als Forscherinnen und Forscher, aber auch die Gesellschaft, in der wir arbeiten, prägt. Dies vertieft den Spalt, in dem viele „neue Ostdeutsche“ heute stecken: Sie hängen fest zwischen einer imaginierten Heimat DDR und dem Warten auf eine blühende Zukunft, die nie begann.
Als die bundesdeutschen Eliten sich in der Nachkriegszeit auf den Weg nach Westen machten, rückte die DDR auf den kognitiven Landkarten der Westdeutschen in den Osten Europas. Im Zeitalter des Antikommunismus, der auch Osteuropa und die einschlägigen Forschungsinstitute prägte, die sich mit den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs beschäftigten, war die DDR aus westdeutscher Perspektive von Kommunisten kontrolliertes Feindesland. Damit geriet sie wie Polen und die Tschechoslowakei in die nahe Ferne. Während aus dem alten Mitteleuropa, zu dem Westdeutschland nun nicht mehr gehören wollte, Osteuropa wurde, blieb die DDR auf der Strecke. In ihrer Selbstwahrnehmung hatte die Bundesrepublik den „langen Weg nach Westen“ erfolgreich abgeschlossen.[15]
1990 erfolgte mit dem Beitritt der neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes keine Neuverortung zwischen Ost und West. Der Einigungsvertrag ermöglichte der Bundesrepublik das mentale Verharren im alten Westen. Die vollumfängliche Übernahme des Rechtsbestands der Bundesrepublik (und damit auch von Gesetzen aus der Zeit des Deutschen Reichs) enthielt implizit die Annahme, dass die ehemaligen Bürger der DDR auf eigenen Wunsch von heute auf morgen in diesem aufgehen würden. Mit der sofortigen Einführung der DM, dem Sommerurlaub auf Mallorca und der Integration in die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik konnten Millionen DDR-Bürger schnell materiellen Anschluss im Westen finden. Millionen anderen gelang dies nicht, weil sie ihre Arbeit verloren und damit gravierende Brüche ihrer Erwerbsbiographien zu verkraften hatten.
Die Wahlergebnisse der letzten Jahre in den nicht mehr neuen Bundesländern werden von Politik und Medien so gedeutet, dass viele Menschen aus diesen beiden Gruppen mental nicht im Westen angekommen seien. Dabei ist es eine Ironie der Geschichte, dass Sachsen, Brandenburger und Thüringer erst als Folge der Deutschen Einheit, die von vielen bis heute ohne Bauchschmerzen als „Wiedervereinigung“ bezeichnet wird, zu Ostdeutschen wurden.[16] Der historisch und ideologisch belastete „Deutsche Osten“ fiel mit der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Bundesrepublik im Jahr 1990 endlich der Geschichte anheim. Erst dadurch war der Weg offen, um die langfristige diskursive Verschiebung des Begriffs Ostdeutschland von „jenseits der Oder“ hin zu „diesseits der Oder“ abzuschließen. Dabei öffnete sich ein Spalt zwischen dem Osten der Vergangenheit und dem Osten der Gegenwart, dem Helmut Kohl eine strahlende Zukunft im Westen in Aussicht gestellt hatte. Die neuen Ostdeutschen füllen diesen Spalt auf ganz unterschiedliche Weise. Eine wichtige langfristige Folge ihrer Suchbewegungen war, dass viele nach dem Aufbruch in den Westen eine neue Heimat namens Ostdeutschland fanden. Dieses imaginierte Land trägt für seine Einwohner zunehmend reale Züge.
Perspektivwechsel Ostdeutschland
Ein kritischer Rückblick auf die Folgen von 1990 bietet die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen der neuesten deutschen Zeitgeschichte und der langfristigen Transformation deutscher Forschungsperspektiven auf das östliche Europa in der Gegenwart zu überdenken. Die Osteuropaforschung könnte von einem solchen ostdeutschen Blick profitieren. Bislang wurde die Geschichte der DDR nicht umfassend in die Bundesrepublik integriert. 1990 entstand keine neue Bundesrepublik, sondern die alte wurde in fast allen Institutionen fortgeführt – auch in der Wissenschaft. Die Geschichte der DDR in all ihren Aspekten ist 35 Jahre nach dem formellen Ende des Staats unterbelichtet. Sie ist nicht zu einem selbstverständlichen, integralen Teil bundesdeutscher Geschichtsschreibung geworden. Die DGO und ihr Flaggschiff Osteuropa sind hier keine Ausnahme, sondern sie stehen stellvertretend für die gesamte deutsche Gesellschaft.
Der Fall der Mauer eröffnete neue Perspektiven auf den Osten Europas. Für Historikerinnen und Historiker aus dem Westen begann ein goldenes Zeitalter, in dem sich Archive unerwartet öffneten wie die Türen in Märchenfilmen. Im selben historischen Moment begann für die meisten in der DDR sozialisierten Historiker eine Phase existenzieller Verunsicherung, die in vielen Fällen mit Verdacht, Abwicklung und Ausgrenzung einherging.
Wie lassen sich bereits publizierte Studien über die institutionelle Abwicklung der DDR-Osteuropaexpertise in zum Teil hochspezialisierten Instituten und Lehrstühlen in die Geschichte der Osteuropaforschung und Osteuropakunde einfügen? Etliche Osteuropa-Expertinnen und -Experten aus akademischen Einrichtungen, die wegen ideologisch-politischer Vorbehalte nicht übernommen wurden, wechselten mangels beruflicher Chancen im akademischen Feld in Unternehmen, Banken und andere Sphären der Wirtschaft. Welchen Einfluss hatten sie auf die Wirtschaftsbeziehungen mit den Staaten östlich der Oder? Was können wir aus der Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR mit Dutzenden prominenten Mitgliedern aus ganz Osteuropa für eine neue Verflechtungsgeschichte des Jahres 1990 lernen? Wie veränderte sich der Blick der in der alten Bundesrepublik sozialisierten Akademikerinnen und Akademiker, die nach 1990 – in der Regel von Berufungskommissionen, in denen ältere Kollegen aus der alten Bundesrepublik wirkten – an die Universitäten in den neuen Bundesländern berufen wurden, durch die Konfrontation mit der Lebenswelt der neuen Bundesrepublik Ost?[17] Es fällt auf, dass auch jene, die von der radikalen Osterweiterung der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft in besonderer Weise profitiert haben, selten über das Verhältnis der DDR zu jenen Gesellschaften publizieren, über die sie forschen. Noch seltener zu lesen ist eine Reflexion ehemaliger Marxisten aus dem Westen, wie sich ihr durch den Ruf an Universitäten östlich der Elbe vollzogener Aufstieg in die obere Mittelschicht auf ihr Verhältnis zur Arbeiterklasse der ehemaligen Werktätigen von DDR-Kombinaten auswirkte, die ihnen fortan als Folge der Deutschen Einheit als Hausmeister, Sicherheitskräfte und Verwaltungsmitarbeiter in Institutionen zuarbeiteten, in denen sie nun als Professoren zu den Privilegierten gehörten.[18]
Zukünftige Forschung könnte all diese und weitere Fragen in den Blick nehmen: die Geschichte der Ostberliner Korrespondenten in Moskau und den anderen Hauptstädten der „sozialistischen Bruderstaaten“, die Wahrnehmung sowjetischer Geschichte im Alltag der DDR, die (Nicht)-Verarbeitung der Traumata des deutsch-sowjetischen Kriegs durch Angehörige der Nationalen Volksarmee, der Einfluss der Massenorganisation „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ auf die Herausbildung eines ostdeutschen Sonderblicks auf Russland, die Fixierung auf die Russen bei gleichzeitiger Vernachlässigung oder gar Ausblendung der anderen Völker der Sowjetunion, die Geschichte der Auflösung der Beziehungen zwischen ostdeutschen Forschern und ihren Kollegen in den postsowjetischen Staaten, der Umgang westdeutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit ihren ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen mit Osteuropa-Kompetenz sowie die Rolle ostdeutscher Unternehmen im Wirtschaftsgeflecht mit Russland, Aserbaidschan und Belarus.[19]
Bis heute wird die Sowjetunion auch östlich der Elbe von vielen mit Russland gleichgesetzt, weil auch in der DDR die „Russen“ als Hauptopfer des deutschen Vernichtungskriegs angesehen wurden. Die nationalsozialistische Rede vom „Russlandfeldzug“ haftet in den Köpfen mehrerer Generationen. Im Alltag ist – im Osten wie im Westen Deutschlands – bis heute von „den Russen“ statt von der Roten Armee, der Sowjetunion oder der KPdSU die Rede.[20] Doch hat diese Praxis im Osten Deutschlands eine andere Bedeutung, denn hier war bis 1990 Russisch erste Fremdsprache für alle, hier begingen ehemalige Wehrmachtsoffiziere, die später in die NVA eintraten, den Tag der sowjetischen Streitkräfte in sowjetischen Kasernen.[21]
Die als Folge des Zwei-plus-Vier-Vertrags scheinbar automatisch vollzogene Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der neuen Bundesländer hat östlich der Elbe eine eigene Wahrnehmungsgeschichte.[22] Eine breite gesellschaftliche Meinungsbildung fand darüber nicht statt. Nachdem die DDR vier Jahrzehnte lang einen ideologischen Kampf gegen das Militärbündnis der Klassenfeinde geführt hatte, gehören die kleine Osterweiterung der NATO und der sang- und klanglose Abzug der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ zur Vorgeschichte des kritiklosen Russlandbilds, das ein erheblicher Teil der ostdeutschen Gesellschaft offen zur Schau stellt. Darin kommt auch ein Antiamerikanismus zum Ausdruck, der sowjetideologische Wurzeln hat. Zur Beziehungsgeschichte von Angehörigen der Sowjetarmee mit der ostdeutschen Bevölkerung und der Frage, welche Rolle die jahrzehntelange Präsenz der Roten Armee in der DDR für die heutige Wahrnehmung Russlands in Ostdeutschland hat, hat die osteuropäische Geschichte als Disziplin etwas zu sagen. Ehemalige Angehörige der sowjetischen Streitkräfte haben sehr spezifische Erfahrungen in die Diskussion über die Transformation einzubringen: Da gibt es beispielsweise die Geschichte eines aus Nordossetien stammenden Militärmusikers, der in Wünsdorf stationiert war und 1994 einen Asylantrag in Frankfurt (Oder) gestellt hat; jene eines aus der Westukraine stammenden Offiziers, dessen Sohn seit 2022 in den ukrainischen Streitkräften gegen die russländischen Invasoren kämpft; und jene russischer, kasachischer und belarussischer Soldaten, die bis August 1994 den Abzug der sowjetischen Truppen vollzogen und heute noch Kontakt über das digitale Netzwerk Odnoklassniki.ru halten.[23]
Die Osteuropaforschung könnte neben der von DGO-Mitgliedern und der Zeitschrift Osteuropa umfassend und exzellent vorgenommenen Einordnung des aktuellen Kriegsgeschehens in der Ukraine und der Folgen für die betroffenen Gesellschaften auch Substanzielles zur Erklärung der Gegenwart in Deutschland beitragen, indem sie in internationaler Kooperation systematisch Brücken zwischen sowjetischer, ostmitteleuropäischer und DDR-Geschichte baut. Das wäre möglich, wenn die DDR systematischer ins Verhältnis zu Polen, der Tschechoslowakei, den baltischen Staaten, Belarus, der Ukraine und Russland gesetzt werden würde, als das in einzelnen Forschungsarbeiten bereits heute erfolgt.
Die akademische Dekolonisierung ist in Deutschland derzeit – wie mit der Tatze des sprichwörtlichen russischen Bären im Logo der Jahrestagung der DGO 2024 zum Ausdruck kam[24] – vor allem auf Geschichte und Gegenwart des imperialen Strebens Russlands gerichtet. Die damit einhergehende Hinwendung zu den Peripherien und Satelliten der Sowjetunion schließt den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands bisher nicht ein.[25] Es wäre wichtig, diesen Versuch zu unternehmen, und dabei eine Essentialisierung sowohl Ostdeutschlands als auch Russlands zu vermeiden. Ein kritischer Blick auf das Verhältnis zwischen der Disziplin DDR-Geschichte und der bundesdeutschen Osteuropaforschung könnte auch dazu beitragen, die aktuell zu beobachtende Renationalisierung der deutschen Geschichtswissenschaften empfindlich zu stören. Dafür wäre eine umfassende Dekonstruktion der diskursiven Westverschiebung des Ostens hilfreich. Zugleich könnte sie erklären, warum die diskursive Verschiebung von Ostdeutschland „jenseits der Oder“ hin zu „diesseits der Oder“ den temporären Spalt vertieft hat, in dem viele Ostdeutsche heute zwischen imaginierter Vergangenheit und vergangener Zukunft feststecken. Der Hinweis auf die Historizität der Begriffsverschiebung und die mit ihr einhergehende Verdrängung der Folgen des Nationalsozialismus öffnet neue Erzählmöglichkeiten deutscher Geschichte. Ein über die Osteuropaforschung hinaus relevantes Ergebnis dieser gedanklichen Operation könnte eine konsequent kritische Lesart des Begriffs „Wiedervereinigung“ sein, die seinen ideologischen Kern seziert. Diese wäre ein Beitrag zur gesamtdeutschen Debatte, um zugleich den identitären Unmut der neuen Ostdeutschen über ihre vollautomatische Eingliederung in die Bundesrepublik besser zu verstehen.
Felix Ackermann (1978), Dr. phil., Kulturwissenschaftler, Professor für Public History am Historischen Institut der FernUniversität Hagen
[1] Gerd Koenen: Der fatale Nexus Deutschland und Russland 1925–2025, in: OE, 1–3/2025, S. 7–24.
[2] Ebd., S. 33.
[3] Christian Neef: Balanceakt Berichterstattung. Paul Scheffer, Hermann Pörzgen, Gerd Ruge, in: OE, 1–3/2025, S. 35–52.
[4] Jens Bisky: Die Anwälte der Texte. Vom Anachronistischen der Redaktionsarbeit, in: OE, 1–3/2025, S. 97–108.
[5] Dietrich Beyrau: Perspektivenwechsel. 100 Jahre historische Osteuropaforschung, in: OE, 1–3/2025, S. 131–166.
[6] Ebd., S 132.
[7] Dorothea Redepenning: Der Klang des Jahrhunderts. Musik aus der Sowjetunion in Deutschland, in: OE, 1–3/2025, S. 263–294.
[8] Anke Hilbrenner: „Erinnerungsweltmeister“ mit Scheuklappen. Der späte Blick auf den Holocaust in Osteuropa, in: OE, 1–3/2025, S. 191–210.
[9] Stephan Stach, Peter Hallama (Hg.): Gegengeschichte. Zweiter Weltkrieg und Holocaust im ostmitteleuropäischen Dissens. Leipzig 2015.
[10] Martin Jander, Anetta Kahane, Patrice Poutrus: Nach Auschwitz. Schwieriges Erbe der DDR, Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, 2021, S. 213.
[11] Ulrich Schmid: „Ferne Länder, über die wir wenig wissen“. Die politisierte Rezeption osteuropäischer Literatur im Kalten Krieg 1946–1989, in: OE, 1–3/2025, S. 211–228.
[12] Ebd., S. 226
[13] Boris Groys: Das Reich des Anderen. Rußland als Unterbewußtsein des Westens, in: Lettre international, 137/2022.
[14] Manfred Sapper: Im Geist der Zeit und gegen den Strich. Osteuropa: Geschichte einer Zeitschrift, in: Osteuropa, 1–3/2025, S. 65–86.
[15] Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000.
[16] Hans von Trotha: Westdeutscher Blick auf die DDR. Warum der Westen den Osten nicht verstanden hat. Deutschlandfunk. 6.11.2019, <www.deutschlandfunkkultur.de/westdeutscher-blick-auf-die-ddr-warum-der-westen-den-osten-100.html>.
[17] Zur Neuordnung der Berufungspolitik an ostdeutschen Universitäten liegen nuancierte Darstellungen vor: Matthias Middell: Versuchte Kontinuität über mehrere Berufungsverfahren hinweg: Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte, in: Christian Hesse (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas. Basel 2012, S. 373–391. – Das ZZF Potsdam führte ein entsprechendes Projekt zur Universität Potsdam durch: Die Transformation der ostdeutschen Hochschulen in den 1980/90er Jahren: Potsdam in vergleichender Perspektive, von dem erst ein Teil der Ergebnisse veröffentlicht ist: Lara Büchel, Dorothea Horas, Axel-Wolfgang Kahl: Ein „Brandenburger Weg“? Die Umgestaltung der Potsdamer Hochschullandschaft, in: Peter Ulrich Weiß, Irmgard Zündorf, Florentine Schmidtmann: Umstrittene Umbrüche. Das Ende der SED-Diktatur und die Transformationszeit in Brandenburg. Berlin 2023, S. 171–196.
[18] Exemplarisch: Kersten Krüger (Hg.): Universitätsgeschichte und Zeitzeugen: Die Verwaltung der Universität Rostock und Nachträge. Rostock 2011.
[19] Forschungen zur Zeit vor 1991 liegen vor: Michelle Klöckner: Kultur- und Freundschaftsbeziehungen zwischen der DDR und der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (1958–1980). Stuttgart 2017.
[20] Edmund Dmitrow: Struktur und Funktionen des Russenbildes in der nationalsozialistischen Propaganda (1933–1945), in: Hans-Henning Hahn (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt/Main 2002, S. 337–348.
[21] Daniel Niemetz: Das Feldgraue Erbe: Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR. Berlin 2006.
[22] Helmut Altrichter: Aufbruch oder Untergang? Die Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Paktes, in: Tim Geiger u.a. (Hg.): Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik. München, Wien 2021, S. 31–45.
[23] Wanja Müller: Verstaatlichung von Odnoklassniki. Klassenkameraden im digitalen Autoritarismus, in: OE, 1–3/2025, S. 433–442.
[24] Jahrestagung der DGO: Imperiale Herrschaft und koloniale Erfahrung im östlichen Europa, 21.–22.3.2024, Friedrich-Schiller-Universität Jena, <https://dgo-online.org/site-dgo/assets/files/79075/ broschu_re_referentinnen_2024_print.pdf>.
[25] Ulrich Schmid: Postkolonialismus und kein Ende? Die Ukraine als Testfall für theoretische Alternativen, in: OE, 12/2023, S. 97–112. – Franziska Davies: „Ščo robyty? Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine als Herausforderung für die Osteuropa-Wissenschaften“, in: Nada Arbesmeier u.a. (Hg.): Generationenwechsel in den Osteuropastudien. Studentische Perspektiven auf Bruchlinien und Kontinuitäten in Osteuropa. Bielefeld 2024, S. 15–20. – Pavlo Šved: Es geht um Entkolonialisierung“. Sprache und Buch in Zeiten des Krieges, in: OE, 6–8/2022, S. 307–310. – Moritz Florin: Zentralasien und die Dekolonisierung der Osteuropaforschung. 21.4.2022, <https://zeitgeschichte-online.de/themen/zentralasien-und-die-dekolonisierung-der-osteuropaforschung>.
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