Seilschaften und Staatsbürgertum
Formen des sozialen Zusammenhalts in Georgien
Abstract in English
Abstract
Sozialer Zusammenhalt zeigt sich in Georgien traditionell in Gruppen und Netzwerken. Dies gilt für die feudalen Herrscherdynastien und für horizontal organisierte Zusammenschlüsse wie das eidgenossenschaftliche „Freie Swanetien“. Ein gruppenübergreifender Gemeinsinn kam erst im frühen 20. Jahrhundert zum Tragen. Eine führende Rolle spielten hier die georgischen Sozialdemokraten. In der 1918 ausgerufenen Demokratischen Republik Georgien erreichte die gesellschaftliche Selbstorganisation einen Höhepunkt. Der Einmarsch der Roten Armee 1921 beendete diese Phase. Die Sowjetmacht setzte auf eine neopatrimoniale Strategie der Einbindung lokaler Patronagenetze. Zugleich ließ der sowjetische Kollektivismus kaum Raum für eine selbstbestimmte Gruppenbildung. Dies wirkt in der georgischen Gesellschaft bis heute nach. Politische Parteien sind schwach, interessenbasierte Gemeinschaftsbildung ist wenig ausgeprägt, informelle Beziehungen dominieren. Kräfte wie die seit 2012 herrschende Partei Georgischer Traum nutzen diese Konstellation zum Machtgewinn. Sie untergraben die Gewaltenteilung und das Vertrauen in staatliche Institutionen. Doch im Protest gegen die Abkehr vom Kurs auf die EU zeigt sich ein starkes staatsbürgerliches Bewusstsein.
(Osteuropa 4/2025, S. 147166)