Titelbild Osteuropa 4/2025

Aus Osteuropa 4/2025

Wider die Resignation

(Osteuropa 4/2025, S. 3–4)

Volltext

Der Krieg macht müde. Allen Anlass zur Erschöpfung hätten die Menschen in der Ukraine. Sie leiden unter dem Terror des Krieges. Sie beerdigen täglich Zivilisten und Soldaten, die Opfer von Putins Handwerkern des Todes geworden sind. Es sind ihre Städte und Dörfer, die von Russlands Truppen in Schutt und Asche gelegt worden sind. Es ist ihre Gesellschaft, die der Krieg deformiert.

Doch Müdigkeit hat vor allem die deutsche Öffentlichkeit erfasst. Sie ist der Nachrichten vom Kriege müde. Die Nachfrage nach Osteuropa ist ein Indikator: Der Verkauf von Heften zum Krieg und seinen Folgen, die Downloads einzelner Analysen sowie die Zahl der Zugriffe auf die Osteuropa-Website mit Dokumenten, Hintergrundmaterial und den Wochenberichten zum Kriegsgeschehen, die nach Russlands Überfall auf die Ukraine explodiert waren, sind nahezu auf den Stand vor dem Februar 2022 zurückgegangen. Die Regel „Blood sells“ gilt nur befristet. Die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie führen dazu, dass der Nachrichtenwert des Krieges geringer geworden ist. Das Kriegsgeschehen und die Lage in den besetzten Gebieten rücken in den Hintergrund, während Spekulationen über Trump & Putin, Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder gar das Ende des Krieges in der Öffentlichkeit ins Kraut schießen – ohne dass es ein Anzeichen dafür gäbe, dass das Putin-Regime auch nur um ein Iota von seinen Kriegszielen abrücken würde, die Souveränität der Ukraine zu zerstören und ein russlandhöriges Regime zu installieren.

Ermüdung oder gar Desinteresse kann sich die deutsche Öffentlichkeit nicht leisten. Dies würde dem Aggressor in die Hände spielen. Was sich auf der Krim und in den besetzten Teilen der Gebiete Donec’k, Luhans’k, Zaporižžja und Cherson abspielt, zeigt die Analyse des Autorentrios um Andreas Heinemann-Grüder im vorliegenden Band. Moskau macht die annektierten Gebiete zu integralen Bestandteilen seines Regimes. Die Besatzer greifen auf sowjetische Praktiken zurück. Sie schalten die Behörden gleich, tauschen das Personal aus, kooptieren Kollaborateure, siedeln Menschen aus Russland an, deportieren Kinder und indoktrinieren die Bevölkerung. Wer sich nicht anpasst, wird unterdrückt. Filtration, Repression, Gewalt und Folter gehören zum Alltag.

Die Fakten über all diese Verbrechen müssen gesammelt, aufgeschrieben und dokumentiert werden. Das ist das Minimum an Aufmerksamkeit, das wir den Opfern der Aggression und Annexion schulden. Das ist auch die Chronistenpflicht, die Osteuropa hat. Ihr werden wir weiterhin nachkommen – ohne jeden Anflug von Ermüdung. Die Dokumentation der Verbrechen ist auch die Voraussetzung für jede künftige Bewertung von Russlands Krieg gegen die Ukraine; sowohl für eine juristische durch das positive Recht als auch für eine ethisch-historische. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ heißt es in Schillers Gedicht „Resignation“.

Berlin, im Mai 2025                                            Manfred Sapper, Volker Weichsel