Der Donbass, 1991–2014
Politik, Identität und der Weg zum Aufstand
Volltext als Datei (PDF, 432 kB)
Abstract in English
Abstract
Der Donbass war eine Musterregion des sowjetischen Modernisierungsmodells. In den 1990er Jahren erlebte die von der Montanindustrie geprägte Region im Osten der Ukraine einen wirtschaftlichen Zusammenbruch. Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, der Niedergang der öffentlichen Daseinsfürsorge und allgegenwärtige Korruption prägten das Leben der Menschen. Die von örtlichen Industriebossen geschaffene Partei der Regionen versuchte in den 2000er Jahren, mit einer paternalistischen Politik das alte Selbstbild einer stolzen Industrieregion wiederzubeleben. Doch ihre autoritäre Herrschaft stand auf tönernen Füßen. Als im Februar 2014 infolge der Majdan-Proteste in Kiew die Herrschaft von Präsident Janukovyč fiel, entstand im Donbass ein Machtvakuum. In dieses stießen prorussländische Gruppierungen vor, die einem bewaffneten Aufstand den Boden bereiteten: marginale antieuropäische Gruppen und lokale Kleinkriminelle, die von Geheimdienstlern, Donkosaken und militanten Nationalisten aus Russland sowie von der Russischen Orthodoxen Kirche vor Ort unterstützt wurden.
(Osteuropa 5/2025, S. 95114)
Volltext
Der Donbass im Osten der Ukraine, eine von Bergbau und Schwerindustrie geprägte Region, war zu sowjetischer Zeit eine Hochburg der Kommunistischen Partei. Die Kader aus der Region waren ausgesprochen loyal zur Moskauer Führung. Die Industrialisierung und Urbanisierung des Donbass dienten ihr als Paradebeispiel für eine erfolgreiche sozialistische Modernisierung, die Region als Bastion des Proletariats. Dieses sowjetische Erbe lebte in der unabhängigen Ukraine weiter, in den 1990er Jahren verfügte die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) im Donbass über eine stabile soziale Basis.
Als jedoch im April 2014 bewaffnete Einheiten unter dem Kommando des ehemaligen FSB-Offiziers Igor’ Girkin (Kampfname Strelkov) die Orte Slov’jans’k und Kramators’k besetzten,[1] waren solche Szenen zu sehen: Orthodoxe Priester segneten Girkins Kämpfer und ihre Standarte; Aleksej Mozgovoj, ein Kommandeur der prorussländischen Aufständischen, zeigte sich in der Offiziersuniform der Zarischen Armee. Etliche Bergbaustädte im Gebiet Luhans’k gerieten unter die Kontrolle von Donkosaken, erkennbar an ihrer traditionellen Kopfbedeckung aus schwarzem Schaffell (Papacha). Man sah Bilder von bewaffneten Rebellen in Begleitung älterer Frauen mit Ikonen. Die „Hochburg des Proletariats“ hatte sich in ein Aufmarschgelände des russischen Nationalismus, Klerikalismus, Monarchismus und Neoimperialismus verwandelt. Verschiedene Kräfte versuchten, Vladimir Putins Vision von der Südostukraine als Novorossija (Neurussland) Wirklichkeit werden zu lassen.[2]
Herausbildung und Krise der regionalen Identität
In der Sowjetunion bildete sich im Donbass eine spezifische regionale Identität heraus. Diese basierte auf einem Mythos. Nach der kommunistischen Ideologie waren die Industriearbeiter als Avantgarde der neuen Gesellschaft Träger des universellen technischen, wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts. Im Donbass sah man diesen Fortschritt am Werk. Die sowjetische Parteiführung zeichnete die Industrialisierung des dicht besiedelten Donbass, die sich in mehreren Wellen vollzog, nämlich im späten 19. Jahrhundert, in den 1930er Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg, als Goldenes Zeitalter der Region. Dieser Mythos wurde von der Bevölkerung verinnerlicht: Die Industriekultur und das Arbeiterethos wurden zur Quelle kollektiven Stolzes und lokaler Identität.
Die örtlichen Parteikader drückten ihre Loyalität zur Moskauer Zentrale dadurch aus, dass sie verschiedene Städte der Region nach Revolutionären und kommunistischen Parteiführern umbenannten: Juzovka wurde 1924 zu Stalino, Bachmut zu Artëmovsk; aus Luhans’k wurde 1935 Vorošilovgrad, aus Mariupol’ 1948 Ždanov, Torec’k hieß ab 1938 Dzeržinsk. Im Gegenzug erwartete man sich Protektion aus Moskau. Bezeichnenderweise wurde kein Ort im Donbass nach dem Führer des Weltproletariats Vladimir Lenin benannt: Nach seinem Tod 1924 fiel dieser als potenzieller Patron aus. Nach der Verdammung des Personenkults um Stalin 1956 wurden die Städte Schritt für Schritt erneut umbenannt oder erhielten ihre ursprünglichen Namen zurück. So wurde Stalino 1961 zu Donezk (ukr. Donec’k). Mariupol’ erhielt seinen historischen Namen erst 1989 zurück. Artëmovsk wurde 2016 im Zuge der Entkommunisierungspolitik wieder zu Bachmut.[3]
Auch bei den Straßennamen zeigte sich im Donbass eine Besonderheit: Während in nahezu jeder sowjetischen Stadt eine der Hauptstraßen nach Lenin benannt wurde, erhielt die zentrale Straße in Donec’k 1928 den Namen Artëm-Straße (ulica Artëma). Der Name Artëm begegnet einem in der Toponymie des Donbass häufiger. Denn der Altbolschewik Fedor Sergeev alias Artëm (1883–1921) hatte sich als Gründungsvater der Sowjetrepublik Donec-Kryvoj Rog (ukr. Kryvyj Rih) hervorgetan, die 1918 für einige Monate in dem Gebiet bestand und die, ebenso wie der Revolutionär selbst, eine zentrale Rolle im kollektiven Gedächtnis der Donbass-Bevölkerung spielt.[4] Lenin hingegen hatte sich gegen die Errichtung dieser Sowjetrepublik ausgesprochen und sorgte dafür, dass der Donbass binnen kurzem in die Ukrainische SSR eingegliedert wurde, was ihm die örtliche Parteiführung verübelte. So kam es, dass Artëm (ukr. Artem) zu sowjetischer Zeit in der Region der beliebteste männliche Vorname war, während Vladimir sehr selten vorkam.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 entstand in der unabhängigen Ukraine eine neue nationale Identität. Wie in den anderen postsowjetischen Staaten und jenen Ländern, die einst zum sozialistischen Lager gehört hatten, wurde auch in der Ukraine die Fortschrittserzählung von dem Narrativ abgelöst, Opfer des kommunistischen Regimes gewesen zu sein, von dem man sich durch die politische Wende 1989/1991 befreit habe.[5] Dieser Wandel der Erinnerungspolitik zeigte sich auch in der veränderten Wahrnehmung der „Fortschrittsregion“ Donbass, dessen Urbanisierung und Industrialisierung nun als Ausdruck einer kolonisatorischen, repressiven Politik Moskaus gegenüber der Ukraine gedeutet wurde.[6] In der ukrainischen Erinnerungspolitik wurde nun stärker betont und negativ bewertet, dass die Ukrainer, die vom Land in die ostukrainischen Industriestädte gewandert waren, dort einer Russifizierung unterlegen wären. Im offiziellen Gedenken waren die südöstlichen Landesteile in den ersten drei Jahrzehnten der unabhängigen Ukraine so gut wie nicht präsent.[7] Auf lokaler Ebene stand bei Gedenkfeiern, in den Medien und Schulbüchern zur Geschichte der Region der industrielle Ruhm des Donbass im Mittelpunkt. So wurden etwa der Tag des Bergarbeiters in Donec’k (und in vielen Monostädten) oder der Tag des Metallarbeiters in Mariupol’ viel ausgiebiger gefeiert als der Unabhängigkeitstag der Ukraine. Dass es unter der örtlichen Bevölkerung so manche Unterstützer Russlands und Putins gab, welche die Existenz der Ukraine an sich ablehnten, lag nicht zuletzt daran, dass der ukrainische Staat im Donbass bis 2014 kaum präsent war. Antiukrainische Ressentiments entsprangen dem Empfinden, dass das industrielle Erbe des Donbass und sein Beitrag zur ukrainischen Wirtschaft nicht ausreichend gewürdigt würden, insbesondere nach der sogenannten Orangen Revolution von 2004. Die Vorstellung, dass vor allem der Donbass für das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes verantwortlich sei, herrschte sehr lange vor.[8] Das industrielle Erbe wird zwar in verschiedenen kleinen Museen ostukrainischer Industriebetriebe[9] thematisiert, nicht aber im Nationalen Museum der Geschichte der Ukraine in Kiew.[10]
Sowjetnostalgie und Aufstieg der Partei der Regionen
Der Übergang zur Marktwirtschaft in den 1990er Jahren führte in den ukrainischen Industrieregionen zum Niedergang und Konkurs vieler Betriebe. Weite Teile der Bevölkerung verklärten die sowjetische Vergangenheit und blendeten die wirtschaftlichen und sozialen Missstände aus, die es bereits in der Sowjetunion gegeben hatte.[11] Zwischen 1989 und 1993 kam es im Donbass wegen der anhaltenden Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen wiederholt zu umfangreichen Bergarbeiterstreiks.[12]
Bis Anfang der 2000er Jahre blieben die zwei großen linken Parteien, die Kommunistische Partei der Ukraine (KPU) und die Sozialistische Partei der Ukraine (SPU), die wichtigsten politischen Kräfte, die auf nationaler Ebene die Interessen der Bevölkerung des Donbass vertraten. Beide Parteien konnten sich im stark industrialisierten Südosten der Ukraine auf eine breite Wählerschaft stützen. In den 1990er Jahren waren die neu entstandenen Wirtschaftseliten in Donec’k mit der Privatisierung des Staatsvermögens beschäftigt, während ihre politischen Interessen im ukrainischen Parlament durch die KPU vertreten wurden. Diese Symbiose zwischen einem halbkriminellen Großkapital und den Kommunisten ist nur auf den ersten Blick paradox. In der postsowjetischen Realität waren persönliche Beziehungen und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Landsmannschaft (zemljačestvo) weit wichtiger als die überholte kommunistische Ideologie. Die Lage änderte sich Ende der 1990er Jahre. In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen von 1999 stimmten die Wähler im Gebiet Donec’k mit überwältigender Mehrheit für Leonid Kučma. In der späten UdSSR war Kučma Mitglied des Zentralkomitees der KP der Ukraine und Generaldirektor des Maschinenbauwerks Južnoe in Dnipropetrovs’k (heute Dnipro) gewesen. Von Oktober 1992 bis September 1993 war er Ministerpräsident der Ukraine. 1993 wurde er als unabhängiger Kandidat mit Hilfe seiner Unterstützer in der Südostukraine zum Präsidenten gewählt. Petro Symonenko, Chef der Kommunistischen Partei und in Donec’k geboren, stellte Kučma als „roten Direktor“ und exzellenten Manager dar, der den wirtschaftlichen Niedergang der Ukraine aufhalten werde. Doch am Ende von Kučmas erster Amtszeit 1999 waren viele Bewohner der südostukrainischen Industriestädte angesichts eines dramatisch abgesunkenen Lebensstandards enttäuscht von seiner Politik. Dieses Mal wählten sie mehrheitlich Symonenko, der sich zum Kritiker Kučmas gewandelt hatte. Doch dank der Unterstützung durch mächtige Wirtschaftsclans aus Dnipropetrovs’k und Donec’k siegte Kučma in den beiden dichtbesiedelten Gebieten, deren Bevölkerung damit unerwartet auf einer Linie mit Kiew und der westlichen Ukraine lag, den Hochburgen proeuropäischer und nationalistischer Parteien.[13] Die Wirtschaftseliten in der Südostukraine waren zu der Zeit stark genug, um ihr eigenes politisches Spiel zu spielen, die Medien zu kontrollieren und die Wählerschaft zu manipulieren. So gelang es ihnen, die Kommunistische Partei an den Rand zu drängen. Anfang der 2000er Jahre entwickelte sich das ohnehin schwache Regionalparlament in Donec’k gänzlich zu einem Werkzeug in den Händen der regionalen Machtelite. In diese Zeit fällt der Aufstieg der neuen Partei der Regionen.[14] Unter ihrem Vorsitzenden Viktor Janukovyč, der aus dem Donbass stammte, entwickelte sie sich in den 2000er Jahren zur neuen gesamtukrainischen „Partei der Macht“.
Die Partei der Regionen war tief im ukrainischen Osten verwurzelt und vertrat die Interessen der Oligarchen des Donbass. Der reichste von ihnen, Rinat Achmetov, war ihr wichtigster Sponsor. Nichtsdestotrotz gelang es der Partei, mit einem linkspopulistischen Programm und dem Versprechen einer Stärkung der Stellung der Region und der russischen Sprache den linken Parteien große Teile ihrer Stammwählerschaft im Osten und Süden der Ukraine abspenstig zu machen. Nach den Parlamentswahlen von 2006 blieb den Sozialisten und Kommunisten nur noch die Rolle von Juniorpartnern der Partei der Regionen.[15] In den Gebieten Donec’k und Luhans’k entwickelte sich die Partei zur unangefochtenen politischen Kraft. Anders als in den anderen Landesteilen gab es hier bald praktisch keine konkurrierenden Parteien und Clans mehr. Damit wurde die Partei der Regionen paradoxerweise zur Wegbereiterin der populistischen Mobilisierung[16] im Donbass im Frühjahr 2014, denn als Präsident Janukovyč und die Parteiführung infolge des Euromajdan ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren, gab es im Donbass keine alternative politische Kraft, die sie hätte ersetzen können. Das Vakuum füllten radikale Gruppen und russische Nationalisten. Diese hatten keine Mühe, Tausende von Arbeitslosen und Kleinkriminellen zu mobilisieren, und das russländische Fernsehen bediente sich ihrer gerne, um das Bild einer massiven Protestbewegung gegen die Regierung in Kiew zu kreieren.
Identitätserneuerung im Geiste des Paternalismus
Die Partei der Regionen ging daran, die regionale Identität im Donbass zu erneuern und die Region im Bewusstsein ihrer Bewohner, aber auch nach außen aufzuwerten. Dahinter stand die Intention, sich die Loyalität der Wähler vor Ort zu sichern.[17] Die Parteistrategen rückten dazu die vorrevolutionäre Industrialisierung des Donbass stärker in den Vordergrund. So wurde im Stadtzentrum von Donec’k ein Denkmal zu Ehren des britischen Geschäftsmanns und Ingenieurs John Hughes (1814–1889) errichtet. Dieser hatte 1869 in der Gegend eine Stahlfabrik und eine zugehörige Arbeitersiedlung erbauen lassen, die nach der russifizierten Form seines Namens Juzovka genannt wurde und den Kern der späteren Stadt Donec’k bildete.[18]
In Luhans’k steht ein Denkmal zu Ehren des britischen Industriellen Charles Gascoigne (1737–1806), der 1795 am Ufer des Flusses Luhan eine Eisengießerei errichtet und damit den Grundstein für die Entstehung der Stadt gelegt hatte. Hughes, Gascoigne und andere „Kapitalisten“, die in die Industrialisierung des Donbass investiert hatten, waren in der Sowjetunion keiner Erinnerung gewürdigt worden. Indem man diese Erinnerung wieder wachrief, versuchte die neue Wirtschaftselite des Donbass, auch ihre eigene Position aufzuwerten und damit ihre Machtstellung in der früheren „proletarischen Hochburg“ abzusichern, wo die einfache Bevölkerung massiv mit den Folgen des Übergangs zur Marktwirtschaft, mit Massenarbeitslosigkeit und einbrechendem Lebensstandard zu kämpfen hatte. Die Denkmäler sollten die Rückkehr zu den „kapitalistischen“ Ursprüngen der Industrien im Donbass darstellen und den Erfolg der marktwirtschaftlichen Reformen symbolisieren. Von 2000 bis 2008 verzeichnete die ukrainische Wirtschaft in der Tat ein starkes Wachstum. Viele Ukrainer profitierten von den Wirtschaftsreformen, vor allem in Kiew und anderen Großstädten, allerdings weniger in den Monostädten des Donbass.
Eine Schlüsselrolle bei der versuchten Erneuerung der regionalen Identität spielte der Fußballverein Šachtar Donec’k. 1996 hatte Rinat Achmetov den Verein gekauft.[19] Der in Donec’k geborene Achmetov, Herrscher über das riesige Wirtschaftsimperium System Capital Management (SCM), förderte den Klub mit gewaltigen Summen. Dieser war 1936 (damals noch unter dem Namen Stachanovec Stalino) als Verein der Bergarbeiter-Gewerkschaft gegründet und wie viele andere Fußballklubs im postsowjetischen Raum in den 1990er Jahren privatisiert und kommerzialisiert worden. 2009 schenkte Achmetov dem Verein ein neues Stadion, die Donbass-Arena, die sich zu einem Tempel des „Šachtar-Kultes“ entwickelte und in der sich die neue postkommunistische und postindustrielle regionale Identität manifestieren sollte. Šachtar Donec’k entwickelte sich neben Dynamo Kyjiv zur erfolgreichsten Fußballmannschaft der Ukraine, ist inzwischen vielfacher Meister in der obersten ukrainischen Liga und holte 2009 den UEFA-Pokal. Die Dauerrivalität zwischen den beiden Klubs ließ sich auf die politische Ebene übertragen, wo sich die Partei der Regionen als Verteidigerin der Industrieregion Donbass gegen die Bürokraten in der Hauptstadt gerierte. Die Partei pflegte bewusst das tief verwurzelte regionale Selbstbild der Bevölkerung, wonach der Donbass das wirtschaftliche Rückgrat der Ukraine bildet und die Menschen dort den Löwenanteil der Steuern zum Staatshaushalt beitragen. Dazu gehörte auch die Vorstellung, dieses Geld werde von den Bürokraten in Kiew dann ungerecht unter den einzelnen Regionen verteilt, so dass der Donbass unterm Strich weit weniger erhalte, als er erwirtschafte und abgebe, während die Westukraine mehr erhalte, als sie in den zentralen Haushalt einzahle. Viele Bewohner der Westukraine seien arbeitslos oder arbeiteten im Ausland und zahlten daher im eigenen Lande keine Steuern. Auf den Punkt bringen lässt sich diese weit verbreitete Überzeugung mit den Formeln „Wir arbeiten, sie reden“ (oder auch: „Wir arbeiten, während sie zu Protestmärschen gehen“) bzw. „Wir können ohne sie überleben, aber sie nicht ohne uns“.
In einer soziologischen Befragung in L’viv und in Donec’k – welche quasi die beiden extremen Pole des ukrainischen Wählerverhaltens repräsentieren – wurde 2004, am Vorabend der Orangen Revolution, u.a. die Einstellung der Menschen zu einer möglichen Abspaltung ihrer Region vom Rest der Ukraine abgefragt. 47,8 Prozent der Befragten in Donec’k stimmten der Aussage zu, dass sich die Entwicklung ihrer Region verbessern würde, wenn sie sich von der Ukraine abspalten würde. In L’viv hingegen vertraten nur 6,6 Prozent der Umfrageteilnehmer diese Ansicht.[20]
Tabelle 1: Einstellung der Befragten in L’viv und Donec’k zur Aussage „Meiner Region würde es besser gehen, wenn sie von der Ukraine getrennt wäre“. Daten von 1994, 1999 und 2004 (in Prozent)
|
L’viv |
Donec’k |
|||||
1994 |
1999 |
2004 |
1994 |
1999 |
2004 |
|
|
stimme zu |
7,3 |
13,8 |
6,6 |
22,8 |
28,2 |
47,8 |
|
stimme nicht zu |
86,1 |
81,2 |
89,6 |
46,4 |
56,7 |
39,1 |
|
weiß nicht |
6,6 |
5,0 |
3,8 |
38,0 |
15,1 |
13,1 |
|
Viktor Susak: Tablyci odnovimirnych rozpodiliv trendovoho sociolohičnoho doslidžennija. L’viv – Donec’k. Sociolohičnyj analiz hrupovych identyčnostej ta ijerarchiji suspil’nych lojal’nostej – 1994, 1999, 2004 rr., in: Ukrajina moderna, 1/2007
Populistische Mobilisierung und Kontrollverlust der Eliten im Donbass
Viktor Janukovyč, der 2010 zum Präsidenten gewählt worden war, und der mit ihm in Kiew an die Macht gelangte Wirtschaftsclan aus Donec’k enttäuschten die Hoffnungen der Bevölkerung des Donbass auf eine Wiederbelebung der Schwerindustrie der Region, Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze und einen höheren Lebensstandard. Infolgedessen büßte die Partei der Regionen in den Jahren 2012–2013 massiv an Sympathien bei den Bewohnern der Region ein. Nachdem Janukovyč im Februar 2014 gestürzt worden war und er Kiew Hals über Kopf verlassen hatte, machte er die Erfahrung, dass er sogar in seiner Hochburg Donec’k keinen Rückhalt mehr hatte – und zwar weder in der Bevölkerung noch in seiner Partei.
Janukovyčs Flucht und der Zusammenbruch seiner Regierung hinterließen die wirtschaftlichen und politischen Eliten im Donbass orientierungslos. Putin kam dies gelegen. Er ließ Janukovyč aus der Ukraine herausholen und die russländischen Massenmedien das Bild eines Landes ohne Führer kolportieren, in dem rebellierende Neonazis die Macht übernommen hätten und planten, die russischsprachige Bevölkerung auf der Krim und im Donbass zu massakrieren. Die wirtschaftliche und politische Führungsschicht im Donbass unternahm in den Wochen danach erst einmal nichts, um gegen die – schlecht organisierten – prorussländischen Radikalen durchzugreifen. Im Gegenteil nutzten ihre Vertreter die prorussländischen Aktivitäten, um die neue Regierung in Kiew zu erpressen, nach dem Motto: Ohne unsere Unterstützung könnt ihr den Donbass nicht kontrollieren. So sahen sie der Übernahme des SBU-Hauptquartiers in Luhans’k am 6. April 2014, des Sitzes der staatlichen Verwaltung in Donec’k am 7. April und der Polizeistationen in Slov’jans’k, Kramators’k und Horlivka am 12. April 2014 tatenlos zu. Im Mai mussten diese regionalen Eliten jedoch feststellen, dass der Aufstand ihrer Kontrolle entglitten war. Am 11. Mai wurden in Teilen des Donbass illegale Referenden abgehalten, und die „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk erklärten ihre Unabhängigkeit. Zwischen Ende Mai und Juli 2014 verließen viele Unternehmer und hochrangige Beamte Donec’k und Luhans’k, um ihr Leben zu retten, als sie feststellten, dass an die Stelle der lokalen Vollzugsorgane bewaffnete Aufständische getreten waren und die örtlichen Radikalen nun von russischen Nationalisten, Donkosaken und Söldnern aus Abchasien kontrolliert wurden, die am 25. Mai – dem Tag der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine – den internationalen Flughafen von Donec’k angriffen. So verließ Rinat Achmetov am 19. Mai 2014 Donec’k Richtung Kiew,[21] Oleksandr Luk’jančenko, der Bürgermeister von Donec’k, folgte ihm am 13. Juli 2014.[22] Auch Serhij Kravčenko, Bürgermeister von Luhans’k, flüchtete aus seiner Stadt.[23] Ende Juli 2014 verlegten viele Unternehmen ihren Sitz von Donec’k in andere Städte, zumeist in die Hauptstadt oder nach Dnipropetrovs’k.[24] An ihre Stelle traten selbsternannte „Bürgermeister“, „Gouverneure“ oder schlicht Warlords – oft schlichte Gemüter mit teils kriminellem Hintergrund. Darunter waren viele Männer aus Russland. Einige hatten dort in der Armee oder in den Geheimdiensten gearbeitet, etwa Igor’ Girkin (Strelkov), Aleksandr Borodaj, Pavel Dremov oder Nikolaj Kozicyn. Prorussländische Rebellen und zahlreiche lokale Kriminelle und Kumpane aus Russland plünderten Banken und Läden und stahlen Luxuskarossen reicher Bewohner von Donec’k und Luhans’k. Die lokalen Eliten führten den Aufstand also weder an, noch unterstützten sie ihn. Vielmehr waren es lokale Randgruppen und Kriminelle sowie aus Russland eingeschleuste Abenteurer und Nationalisten, die die Initiative ergriffen und die, angespornt durch die schnelle Annexion der Krim im März 2014, versuchten, dieses Szenario im Donbass zu wiederholen. Die Rührigsten unter ihnen nutzten die einmalige Chance für den sozialen Aufstieg, indem sie sich die Posten lokaler Funktionäre sicherten und Geschäfte übernahmen.
Die Strafverfolgungsbehörden in der Südostukraine verhielten sich passiv. Sie scheuten sich, Verantwortung zu übernehmen, da sie nicht wussten, was weiter passieren würde. Viele Polizisten quittierten ihren Dienst oder ließen sich krankschreiben. Andere patrouillierten weiterhin im öffentlichen Raum, nun in Begleitung bewaffneter Aufständischer. Einerseits entschuldigten die Polizisten diese Kooperation damit, es sei schließlich weiterhin nötig, Verbrechen zu verhindern. Andererseits handelte es sich dabei de facto um eine Kollaboration mit den Rebellen. Viele Einwohner sahen darin eine Legalisierung der Rebellen und einen Indikator für den Zusammenbruch der Staatsgewalt vor Ort. Am 3. Juli 2014 wurden am helllichten Tage drei Verkehrspolizisten in Donec’k erschossen.[25] Vielerorts räumten die Beamten des ukrainischen Geheimdienstes SBU ihre Posten, nachdem die Aufständischen die Macht in ihrer Stadt übernommen hatten. Oleksandr Chodakovs’kyj, Anführer einer Abteilung der Spezialeinheit „Alpha“ des SBU in Donec’k, schloss sich am 16. Mai 2014 den Rebellen an und bildete mit anderen Männern seiner Einheit das Bataillon Vostok.
Verlorene Illusionen: die Stimmung der Bevölkerung im Frühjahr 2014
Die Enttäuschung vieler Bewohner des Donbass über die Politik des Janukovyč-Regimes war der Hauptgrund dafür, dass im Frühjahr 2014 ein Teil der Bevölkerung den von Russland beförderten sezessionistischen Aufstand willkommen hieß.[26] Die Partei der Regionen stellte die Kooperation mit Russland als einzige Chance für das wirtschaftliche Überleben des Donbass dar. Doch die ukrainische Schwerindustrie verlor den Wettbewerb gegen die russländische Konkurrenz, nicht zuletzt aufgrund der hohen Preise für Gas aus Russland, die Putin 2009 der ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Tymošenko aufgezwungen hatte. Dies machte es Janukovyč praktisch unmöglich, die Erwartungen seiner Wähler zu erfüllen. Hinzu kam, dass sein Plan, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu schließen, von prorussländischen Kräften unter Führung des Politikers und Putin-Vertrauten Viktor Medvedčuk hintertrieben wurde: Sie drohten damit, dass dieses Abkommen die ukrainische Wirtschaft zerstören werde, denn das Land werde Russland als Markt verlieren, während der Gemeinsame Markt der EU für ukrainische Industrieprodukte verschlossen bleiben und nur einen kleinen Teil der ukrainischen Agrarprodukte akzeptieren werde.
Die russländische Propaganda prophezeite einen Bürgerkrieg und einen Zusammenbruch der Ukraine. Daher richteten sich die Blicke vieler auf Putin, den erfolgreichen Führer einer Supermacht – dies jedenfalls suggerierte den Menschen in der Südostukraine das dort breit rezipierte russländische Fernsehen. Die Videoaufnahmen, die russländische Journalisten aus dem Donbass sendeten – etwa von einem prorussländischen Mob, der „Putin, rette uns!“ skandierte, Polizeistationen und Verwaltungsgebäude stürmte und die russländische Flagge hisste – , genügten, um das Bild einer aufbegehrenden einheimischen Bevölkerung zu zeichnen, die den Anschluss an Russland suchte.
Die Proteste gegen das Regime von Viktor Janukovyč zwischen November 2013 und Februar 2014 passen ins Bild einer Rivalität zwischen den verschiedenen Teilen der Ukraine. Janukovyč, ein Repräsentant des Donbass, wurde von Gegnern (darunter sowohl einfache Bürger als auch Rivalen aus den Eliten) zu Fall gebracht, die mehrheitlich aus anderen Regionen stammten, aber auch aus Gebieten der Ostukraine. Viele Jahre hatte die Partei der Regionen auf eine treue Wählerschaft im Südosten des Landes zählen können. Doch im April 2014 zeigte sich ein anderes Bild: In einer repräsentativen Umfrage gaben nur im Donbass – in den Gebieten Donec’k und Luhans’k – über 70 Prozent der befragten Personen an, eine negative Einstellung zu der jüngsten „Majdan-Revolution“ und der neuen Regierung zu haben. Im Gebiet Charkiv war die Meinung geteilt, im Gebiet Dnipropetrovs’k erklärte nur rund ein Drittel der Befragten, die nach dem Euromajdan gebildete Regierung unter Ministerpräsident Arsenij Jacenjuk verfüge über keine Legitimität.[27] Immerhin rund zwölf Prozent hofften in den beiden Gebieten Donec’k und Luhans’k darauf, „wie die Krim“ von der russländischen Armee „befreit“ zu werden.[28]
Tabelle 2: Anteil der Personen, die eine Regierung von Arsenij Jacenjuk als illegitim betrachten. Umfrage in der Südostukraine vom 10.–15. April 2014 (in Prozent)
Südostukraine insgesamt |
Gebiet Donec’k |
Gebiet Luhans’k |
Gebiet Charkiv |
Gebiet Dnipropetrovs’k |
49,6 |
72,1 |
70,4 |
50,7 |
34,7 |
Tabelle 3: Anteil der Personen, die sich eine „Befreiung“ durch die russländische Armee erhoffen. Umfrage in der Südostukraine vom 10.–15. April 2014 (in Prozent)
Südostukraine insgesamt |
Gebiet Donec’k |
Gebiet Luhans’k |
7,0 |
12,6 |
11,7 |
Ein gutes Viertel der Bewohner der Gebiete Donec’k und Luhans’k stimmte der Aussage zu, die Ereignisse auf der Krim stellten eine „unrechtmäßige Annexion“ dar, während dies in den Gebieten Charkiv und Dnipropetrovs’k ein erheblich größerer Prozentsatz, nämlich 42,8 bzw. 61,1 Prozent, so sah.[29]
Tabelle 4: Anteil der Personen, welche die „Wiedervereinigung“ der Krim mit Russland als Annexion betrachten. Umfrage unter Bewohnern der Südostukraine vom 10.–15. April 2014
Südostukraine insgesamt |
Gebiet Donec’k |
Gebiet Luhans’k |
Gebiet Charkiv |
Gebiet Dnipropetrovs’k |
44,3 |
25,7 |
26,8 |
42,8 |
61,1 |
Quelle für Tabelle 2–4: Kiev International Institute of Sociology
In derselben Umfrage vom April 2014 gaben 27,5 Prozent der Befragten aus dem Gebiet Donec’k und 30,3 Prozent aus dem Gebiet Luhans’k an, dass ihre „Gebiete sich von der Ukraine lösen und Russland anschließen“ sollten. Dabei sprachen sie sich mehrheitlich dafür aus, dass dies mit friedlichen Mitteln geschehen solle: Nur 12,6 bzw. 11,7 Prozent erklärten, sie würden eine Invasion russländischer Truppen in der Südostukraine begrüßen. Nur 3,5 bzw. 2,5 Prozent konnten sich vorstellen, sich der russländischen Armee anzuschließen.[30]
Die Umfrage vermittelt ein relativ klares Bild von der Verteilung der politischen Sympathien der Bevölkerung des Donbass im April 2014: Etwa ein Viertel der Einheimischen bestand aus überzeugten ukrainischen Patrioten, rund zwölf Prozent waren erklärte prorussländische Sezessionisten und weitere drei Prozent zeigten sich bereit, sich der russländischen Armee anzuschließen, waren also potenzielle Aufständische. Die Mehrheit, etwa 60 Prozent, waren politisch passiv oder gleichgültig, befürworteten aber generell eine enge Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen der Zollunion.
In Wirklichkeit beteiligten sich nur wenige Einheimische am Aufstand. Igor’ Girkin (Strelkov), der mit einigen Dutzend Kämpfern in den Donbass einrückte und zwischen dem 12. April und dem 5. Juli 2014 die Kontrolle über Slov’jans’k und Kramators’k erlangte, erklärte im Rückblick, dass sich die Zahl der Unterstützer aus den Reihen der Einheimischen in einer Größenordnung von wenigen Hundert bewegt habe.[31] Im Übrigen gingen auch Anhänger einer geeinten Ukraine auf die Straße, etwa in Donec’k, wo proukrainische Demonstranten jedoch von Kriminellen attackiert wurden, ohne dass die anwesenden Polizisten eingegriffen hätten.[32]
Zwischen Ende Mai und August 2014 machte sich auch bei den Teilen der Bevölkerung des Donbass, die prorussländisch eingestellt waren oder eine indifferente Position einnahmen, angesichts der Inkompetenz der „Behörden“ in den „Volksrepubliken“, der tödlichen Zusammenstöße zwischen den Aufständischen und der ukrainischen Armee, des finanziellen Chaos, der prekären Strom- und Wasserversorgung und ähnlichen Problemen zunehmend Ernüchterung breit.
Prorussländische Strukturen und Narrative im Donbass 2013–2014
In der westlichen Fachliteratur über die Ursprünge des sezessionistischen Aufstands von 2014 wird der Fokus generell zu stark auf prorussländische Gruppen wie etwa die Doneckaja Respublika gelegt.[33] Im Frühjahr 2014 waren solche Gruppen jedoch marginal und nur deshalb sichtbar, weil Russlands Medien über sie berichteten. Später wurde die Republik Donezk zu einer Dachstruktur für viele Aufständische mit politischen Ambitionen. Bei den „Wahlen“ in der sogenannten „Volksrepublik Donezk“ (DNR) holte sie dann Anfang November 2014 die Mehrheit der Sitze im „Volksrat“, also dem „Parlament“ der von den Rebellen ausgerufenen, international nicht anerkannten „Republik“. Der Anführer der Gruppe Republik Donezk, Andrej Purgin, wurde Vorsitzender dieses Volksrats. Im Rückblick messen viele Forscher dieser Gruppierung eine übertriebene Bedeutung für die Ereignisse im Frühjahr 2014 bei. Doch wer waren die eigentlich entscheidenden Akteure, die dem Aufstand den Boden bereiteten und ihn beförderten?
Russische Orthodoxe Kirche
Russlands wichtigster Akteur, der den größten Einfluss im Donbass und in der Ukraine ausübte, war die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) bzw. die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK MP), die sich 2022 von der ROK löste. Die ROK und ihr ukrainischer Arm machten nie ein Geheimnis aus ihrer prorussländischen Haltung und ihren entsprechenden Aktivitäten. Diese beschränken sich bei weitem nicht auf den Süden und Osten der Ukraine.[34] Die ROK verbreitet offen antiwestliche und antiliberale Narrative, vertritt eine klerikal-monarchistische Ideologie, glorifiziert Russlands imperiale Vergangenheit und betrachtet den Donbass als Teil der „Russischen Welt“.
Die Orthodoxe Geistlichkeit unterstützte die Aufständischen auf vielfältige Weise.[35] Verbindungen zwischen ROK und dem Rebellenführer Girkin/Strelkov ergaben sich etwa durch die Ausstellung der „Gaben der Heiligen Drei Könige“ vom Berg Athos, die ihm zu Ehren ausgestellt wurden, Ende Januar, Anfang Februar in Kiew, in Simferopol’ und Sevastopol’ auf der Krim. Der sich zur Orthodoxie bekennende russische Oligarch Konstantin Malofeev sponserte diese Aktion. Die Reliquien wurden von Dmitrij Sablin, einem in Mariupol’ geborenen Abgeordneten der Russländischen Staatsduma sowie von Girkin/Strelkov begleitet, der nach seinem Ausscheiden aus dem FSB im Jahr 2013 als Leiter des Sicherheitsdienstes von Malofeevs Investmentfonds tätig war. Girkin nutzte diese Reise zu Aufklärungszwecken in Kiew und auf der Krim,[36] während Sablin mit der politischen Führung der Autonomen Republik Krim eine mögliche Abspaltung der Halbinsel von der Ukraine diskutierte.[37] Als Girkin und seine Kämpfer am 11. April 2014 heimlich in Slov’jans’k ankamen, wurden sie in der Villa Maria, dem Kulturzentrum der Orthodoxen Kirche einquartiert.[38] Laut Girkin waren seine Leibwächter Mönche des Höhlenklosters von Svjatohirs’k in der Nähe von Slov’jans’k.[39]
Donkosaken
Lange vor dem Aufstand von 2014 arbeitete die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK MP) mit den Donkosaken zusammen, die 2014–2015 eine der wichtigsten kämpfenden Gruppen bildeten. So waren Donkosaken im Wachdienst für das erwähnte Höhlenkloster Svjatohirs’k im Norden der Region Donec’k beschäftigt, der wichtigsten heiligen Stätte der orthodoxen Kirche im Donbass. In der Sowjetunion hatten die Donkosaken als Verräter gegolten, da sie im Russischen Bürgerkrieg 1918–1920 in Denikins Weißer Armee gegen die Rote Armee und im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetarmee gekämpft hatten.[40] Dass sich im Donbass im Vorfeld des Aufstands von 2014 und danach dennoch zahlreiche Männer Donkosaken-Einheiten anschlossen, hatte seinen Grund nicht zuletzt darin, dass in den 1990er Jahren viele Arbeiter und ausgemusterte Soldaten arbeitslos geworden waren und in einer tiefen Identitätskrise steckten. Die Härten der Transformation verschärften diese Krise zusätzlich. Selbst Männer, die ihren Arbeitsplatz behielten, fühlten sich oft enttäuscht. Industriearbeit büßte ihr einst hohes soziales Prestige ein. Dieses genossen nun Geschäftsleute, Banker und auch Kriminelle – die neue Klasse der „Gewinner“. Viele desillusionierte „Verlierer“ der Transformation in Russland und der Ukraine schlossen sich Kosakenorganisationen an. Vom kommunistischen Regime verboten und verfolgt, erlebten die Kosakenverbände in den 1990er Jahren einen Aufschwung, wobei eine echte „kosakische“ Herkunft nun keine Rolle mehr spielte. Bei den wie Pilze aus dem Boden schießenden Kosakenorganisationen handelte es sich anfangs eher um eine spezielle Art des postsowjetischen „Reenactments“. In Russland entwickelten sich die „Neokosaken“ jedoch über die Jahre zu einer besonders regimetreuen paramilitärischen Gruppe, die Moskau in den bewaffneten Konflikten in Bosnien-Hercegovina, Südossetien und Abchasien Anfang der 1990er Jahre, oder gegen die Tschetschenen im Nordkaukasus und im Georgienkrieg 2008 einsetzte. Die Kosaken in Russland bilden eine konservative Avantgarde des Regimes. Sie zählen zum besonders xenophob, homophob und klerikal eingestellten Teil des politischen Spektrums in Russland und vertreten die vom Staat, der Russischen Orthodoxen Kirche und radikalen Nationalisten vorgegebenen antiwestlichen, antiliberalen und fremdenfeindlichen Narrative.[41]
In den 2000er Jahren dehnten die Donkosaken ihren Einfluss und ihre Strukturen von Russland auf den ukrainischen Donbass aus. 2009 wurden die Kosakenbezirke Luhans’k und Donec’k Teil des Donkosaken-Heeres. Anfang Mai 2014 drangen bewaffnete Einheiten der russischen Donkosaken in den Donbass ein. Mit Unterstützung der örtlichen Aufständischen sicherten sich die Donkosaken die Kontrolle über eine Reihe von Bergarbeiterstädten im Süden des Gebiets Luhans’k: In den Städten Antracit (ukr.: Antracyt), Roven’ky und Stachanov übernahmen die aus Russland eingerückten (aber aus dem Donbass stammenden) Kosaken-Kommandeure Pavel Dremov und Nikolaj Kozicyn das Kommando, in Alčevs’k und Sverdlovs’k (ukrainisch offiziell seit 2016 Dovžans’k) die lokalen Kosakenführer Aleksej Mozgovoj und Aleksandr Gajdej.
Oplot
In Donec’k spielten die Kämpfer der Vereinigung Oplot („Bollwerk“) eine entscheidende Rolle, einer Organisation „an der Schnittstelle von Miliz und organisiertem Verbrechen“.[42] Ihr Gründer Evgenij Žilin (ukr. Jevhen Žylin) war ein Ex-Polizist und Kampfsportler mit kriminellem Hintergrund aus Charkiv. Im Winter 2013/2014 waren seine Schlägertrupps von der Partei der Regionen zu Hilfe gerufen worden, um die Majdan-Aktivisten in Kiew und Charkiv einzuschüchtern und die Regierung Janukovyč zu stützen. Am 7. April 2014 besetzten Žilin und seine Männer das Gebäude der Gebietsverwaltung in Charkiv und riefen eine „Volksrepublik Charkiv“ aus – am selben Tag, an dem auch in Luhans’k und Donec’k solche „Volksrepubliken“ proklamiert wurden. Nach dem raschen Scheitern des Aufstands verlagerte Oplot seine Tätigkeit nach Donec’k, dessen lokalen Ableger Aleksandr Zacharčenko, ein ehemaliger Elektriker im Bergbau, leitete. Am 16. April war sein Oplot-Trupp an der Erstürmung der Regionalverwaltung von Donec’k beteiligt. Von August 2014 bis zu seiner Ermordung im August 2018 war er der Führer der „Volksrepublik Donezk“.
Natalija Vitrenkos PSPU und Viktor Medvedčuks „Ukrainische Wahl“
Neben klerikalen und nationalistischen Organisationen wirkten 2013–2014 auch einige nominell linke Strukturen an der populistischen Mobilisierung im Donbass mit, allen voran Natalija Vitrenkos Progressive Sozialistische Partei der Ukraine (PSPU), die sich Mitte der 1990er Jahre von der Sozialistischen Partei der Ukraine abgespalten hatte. Bis Mitte der 2000er Jahre bildete der Donbass eine Bastion der Partei. Sie hatte unter der Arbeiterschaft viele Wähler und stand in Konkurrenz zur Partei der Regionen. Bei den Parlamentswahlen 2006 holte die PSPU in den Gebieten Donec’k und Luhans’k 6,8 bzw. 5,2 Prozent der Wählerstimmen. Da die Partei der Regionen ihr dortiges Monopol gefährdet sah, sorgten ihre Funktionäre durch Schikanen und Einschüchterung dafür, dass die PSPU bei den vorgezogenen Wahlen 2007 an der Drei-Prozent-Hürde scheiterte.
Anders, als es der Name der Partei suggeriert, wandelte sich die PSPU unter Natalija Vitrenko zu einer extrem rechten, populistischen Partei. Vitrenko vertritt fremdenfeindliche, klerikale, prorussländische und antiwestliche Positionen. Sie ist eine treue Anhängerin der russisch-orthodoxen Kirchenhierarchie und seit 2010 Vorsitzende des Kongresses der orthodoxen Frauen der Ukraine. Zudem ist sie überzeugte „Eurasierin“ und liegt ganz auf einer Linie mit dem neofaschistischen russischen Philosophen und Publizisten Aleksandr Dugin, einem von Putins Hauptideologen.[43] Wie Dugin propagiert Vitrenko die Ideologie eines sakralen russisch-eurasischen Imperiums, gepaart mit einem tiefen Hass gegen den Westen und dessen Werte. Im September 2013 gründete Vitrenkos PSPU eine Front des Volkswiderstands gegen die Euro-Kolonisierung (Front narodnogo soprotivlenija evrokolonizacii),[44] unter deren Schirm sich an die 50 kleine prorussländische Gruppierungen zusammenfanden. Die Front kritisierte Präsident Janukovyč scharf für seinen EU-Integrationskurs und startete eine Reihe von Protestaktionen gegen das geplante Assoziierungsabkommen, bei denen der Präsident und die Parlamentsabgeordneten der Partei der Regionen als Verräter bezeichnet und ihr sofortiger Rücktritt gefordert wurden.[45] Obwohl an diesen Protesten nur wenige Menschen teilnahmen, waren sie insofern von Bedeutung, als Russlands Medien sie nutzten, um das Bild einer generell antiwestlichen Stimmung im Donbass zu zeichnen.
Nach Janukovyčs Flucht nach Russland Ende Februar 2014 nahm die PSPU Rache an der Partei der Regionen: PSPU-Aktivisten spielten eine Schlüsselrolle beim Sturm der sogenannten „Volkswehr des Donbass“ (Narodnoe opolčenie Donbassa) auf die Verwaltungsgebäude und andere wichtige Einrichtungen in Donec’k und Luhans’k. Einer von ihnen, Pavel Gubarev, der Anführer der „Volkswehr“, rief sich am 1. März 2014 zum „Volksgouverneur“ von Donec’k aus. Dass Gubarev als Ex-Mitglied der rechtsextremen Russischen Nationalen Einheit (Russkoe nacional’noe edinstvo) 2005 Mitglied der „sozialistischen“ Partei PSPU wurde, zeigt deren wahre Natur.
2012 gründete Viktor Medvedčuk[46] die Bewegung Ukrainische Wahl (Ukrajins’kyj vybir), um die Trommel gegen Viktor Janukovyčs proeuropäischen Kurs zu rühren. Medvedčuk startete eine massive Werbekampagne für einen Beitritt der Ukraine zu der von Russland angeführten eurasischen Zollunion. Er träumte wie Putin von einem slawisch-orthodoxen Einheitsstaat der Russen, Ukrainer und Belarussen und verbreitete antiwestliche und Anti-LGBTQ-Propaganda.
Anti-Fracking-Bewegung
Ende 2013 fanden die Ukrainische Wahl und Vitrenkos PSPU ein gemeinsames Thema, mit dem sie im Donbass Stimmung gegen die „faschistische Kiewer Regierung“ machen konnten: Sie koordinierten die Proteste der lokalen Bevölkerung gegen die geplante Förderung von Schiefergas in Donec’k, Slov’jans’k und anderen Orten.[47] Anfang 2013 hatte die Regierung mit dem Shell-Konzern und dem ukrainischen Partner Nadra ein entsprechendes Product Sharing Agreement (PSA) geschlossen. Das von Janukovyčs Partei der Regionen dominierte Regionalparlament befürwortete das Projekt, doch in der Bevölkerung regte sich erheblicher Widerstand wegen der Umwelt- und Gesundheitsrisiken des Frackings. Zudem war Slov’jans’k damals ein beliebter Kurort. Viele Bewohner der Stadt sorgten sich um ihre Geschäfte und ihren Arbeitsplatz. Die Proteste wurden von den staatlichen Autoritäten jedoch nicht ernstgenommen. Im Frühjahr 2014 bildete die Anti-Fracking-Bewegung den Kern des prorussländischen separatistischen Aufstands in Slov’jans’k.
Vjačeslav Ponomarev – Gehilfe von Igor’ Girkin/Strelkov
Am 12. April 2014 stürmten antiukrainische „Separatisten“ unter dem Kommando von Igor’ Girkin/Strelkov und angeführt von 30 bis 40 bewaffneten Männern, die örtliche Polizeistation und das Gebäude der Stadtverwaltung.[48] Am folgenden Tag erklärte sich Vjačeslav Ponomarev (ukr. V’jačeslav Ponomar’ov), vorbestrafter Leiter einer Seifenwerkstatt, zum „Volksbürgermeister“ und schloss sich Girkins Freischärlern an.[49] Als Aktivist bei den Protesten gegen Fracking hatte sich Ponomarev in Slov’jans’k Bekanntheit verschafft.[50] Dies unterschied ihn von den Anführern der Aufständischen in anderen Städten, von denen die meisten Bewohner nie zuvor gehört hatten. Laut Girkin konnte Ponomarev ihm immerhin etwa 150 Einheimische als Verstärkung zur Verfügung stellen.[51] Die meisten Bewohner von Slov’jans’k waren jedoch nicht begeistert über Girkins Anwesenheit: Wer vom Tourismus lebte, fürchtete, dass wegen der Aufständischen keine Besucher mehr kommen würden. Dass Letztere in Slov’jans’k dennoch so rasche Erfolge verzeichneten, hatte mehrere Gründe: Erstens stand ihnen als leuchtendes Vorbild die erfolgreiche Annexion der Krim vor Augen. Hinzu kam die oben erwähnte Verwirrung und Angst, die sich unter den politischen Funktionären vor Ort nach Janukovyčs Flucht aus Kiew breitmachte. Drittens waren auch die Sicherheits- und Strafverfolgungsorgane von Korruption durchsetzt und ihre Mitarbeiter von der Angst getrieben, wegen der „Majdan-Regierung“ in der Hauptstadt ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Vernetzung und Aktivierung von Teilen der Gesellschaft
Proteste wie die oben beschriebenen gegen eine Annäherung der Ukraine an die EU oder gegen Fracking förderten die Vernetzung der prorussländischen Gruppen und Personen, die zuvor weitgehend isoliert voneinander agiert hatten. Dies war etwas Neues im Donbass, wo die Bevölkerung bis dahin keine Kultur des politischen Engagements ausgebildet hatte: Praktisch das gesamte öffentliche Leben wurde von der Partei der Regionen „orchestriert“, die Gesellschaft war atomisiert, die Menschen hatten Angst vor der Polizei und Kriminellen, die unter der Protektion der Partei standen. Die Anti-Fracking-Proteste mobilisierten einen Teil der Bevölkerung. Die Demonstranten tauschten Telefonnummern aus, nutzten Facebook, koordinierten Anti-Majdan-Aktionen und organisierten gemeinsame Kundgebungen gegen die Regierung.[52] Ponomarev konnte mit den lokalen Aufständischen auf dem Verhandlungswege die Kontrolle über die Sicherheitsorgane und die Verwaltung in Slov’jans’k und Kramators’k erreichen. Girkin hingegen brauchte für die russländischen Medien Bilder eines Kampfeinsatzes und „inszenierte“ daher einen Sturm auf die Polizeistation in Slov’jans’k.[53] In Kramators’k wurde die Erstürmung der Polizeizentrale vom russländischen Fernsehen gefilmt und die Aufnahme als „Beweis“ für einen „Volksaufstand“ im Donbass präsentiert. In Horlivka, Mariupol’ und Donec’k wurden die Polizeizentralen und Rathäuser von örtlichen Aufständischen besetzt. Ihre Aktionen waren von FSB- oder GRU-Agenten orchestriert. Dies ließ sich leicht bewerkstelligen, da die Polizei und der SBU vor Ort keinen Widerstand leisteten, die Kommunalverwaltungen passiv blieben und gleichzeitig die Einheimischen diesen Behörden wegen jahrzehntelanger Korruption und Machtmissbrauchs misstrauten. In dieser Situation mussten das russländische Fernsehen und Russlands Propagandisten auf YouTube und in anderen sozialen Netzwerken bei den Einheimischen lediglich ein allgemeines Angstgefühl erzeugen und ihnen die passenden Narrative an die Hand geben, die ihre illegalen Handlungen entschuldigen konnten. Diese Narrative begegneten denn auch regelmäßig in Interviews von einheimischen Aufständischen und Russland-Sympathisanten mit russischen Journalisten oder in Gesprächen mit OSZE-Beobachtern, die sich im Frühjahr 2014 nach Slov’jans’k und Kramators’k vorwagten.
Neben den gut organisierten und weitverzweigten Strukturen der Russischen Orthodoxen Kirche, dem Donkosaken-Heer und der PSPU wirkte im Donbass eine Reihe anderer Akteure in Russlands Sinne. Manche verbreiteten in der Öffentlichkeit und medial prorussländische Narrative, andere wie etwa Oplot versorgten die Aufständischen 2014 mit Kämpfern. All diese Akteure und Gruppen verfolgten dieselbe antiwestliche und antiliberale Agenda. Die Anti-Fracking- und Anti-EU-Aktionen waren nicht sehr zahlreich, förderten jedoch die Entstehung von Graswurzelinitiativen und machten die angebliche Bedrohung durch die „Euro-Kolonisierung“ für einfache Menschen in der Region greifbarer. Solche Organisationen, Gruppen und Initiativen wurden von Moskau aus koordiniert und ihre Sichtbarkeit durch die russländischen Medien – die Hauptinformationsquelle für die Bewohner des Donbass – vergrößert. Sie fungierten als Auslöser und Katalysatoren einer populistischen Mobilisierung im Donbass im Frühjahr 2014 und als lokale Unterstützer für die aus Russland eindringenden russischen Kämpfer, nationalistischen Freiwilligen und Kosaken.
Fazit
Der Strukturwandel des Donbass in den 1990er Jahren ging mit einer Identitätskrise seiner Bewohner einher. In der Sowjetunion hatten sich die Arbeiter in der Montanindustrie als die proletarische Avantgarde und Träger des industriellen Fortschritts begriffen. Der wirtschaftliche Niedergang in den 1990er Jahren zerstörte dieses Selbstbild. In den 2000er Jahren bemühte sich die in der Region verwurzelte Partei der Regionen, dem Donbass eine neue Identität zu verpassen. Eine zentrale Rolle spielte die Förderung des Donezker Fußballklubs Šachtar Donec’k sowie eine „Imagepflege“, bei der an die „glorreichen“ Anfänge der frühen Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert erinnert und die eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik als Anknüpfen an diese Epoche des Aufschwungs verkauft wurde. Das fruchtete allerdings kaum, da das Gros der Bevölkerung mit massiven Problemen wie Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung, Luft- und Wasserverschmutzung, dem Niedergang des Gesundheits- und Transportwesens bis hin zur allgegenwärtigen Korruption zu kämpfen hatte.
Politisch entstand im Donbass in den frühen 2000er Jahren erneut ein Einparteiensystem. Die linken Parteien als Vertreter der Rechte der Arbeiter wurden entweder zu machtlosen Juniorpartnern der Partei der Regionen oder von Letzterer ihres Einflusses beraubt wie die PSPU. Nach dem Sturz von Präsident Janukovyč war die Führung der Partei der Regionen nicht in der Lage, eine neue Agenda zu entwickeln. Gleichzeitig übernahmen radikale prorussländische Gruppen, welche die Macht der Partei der Regionen herausforderten, das Narrativ, dass es in Kiew einen neonazistischen Staatsstreich gegeben hätte. Der Kollaps des Regimes und des von der Partei der Regionen abhängigen Sicherheitsapparats, von Polizei, SBU und Staatsanwaltschaft, führte zu einem Machtvakuum. Denn im Donbass hatte die Partei ab den späten 1990er Jahren jegliche politische Opposition aus dem Weg geräumt. Es gab dort 2014 keine anderen politischen Parteien mehr, die sie hätten ersetzen können, wie es etwa in Charkiv, Dnipropetrovs’k oder Odessa geschah, wo es in der politischen Elite zwei oder drei konkurrierende Lager gab.
Die prorussländischen Kräfte, die Einfluss auf die Ereignisse im Donbass von 2014 nahmen, lassen sich in zwei Gruppen unterscheiden: solche, die den Boden für die prorussländischen Proteste bereiteten, und bewaffnete Gruppen, die sich aktiv am Sturm auf Polizeistationen und Verwaltungsgebäude im Donbass beteiligten.
Zur ersten Kategorie zählen die Russische Orthodoxe Kirche, das Donkosaken-Heer, Natalija Vitrenkos PSPU, Medvedčuks Bewegung Ukrainische Wahl und das Netzwerk, das die Anti-Fracking-Proteste von 2013 organisierte. All diese Akteure verbreiteten antiwestliche, illiberale und homophobe Narrative und propagierten gleichzeitig ein Bild von Russland als einer wirtschaftlich autarken Supermacht und Verteidigerin konservativer Werte. Dies beinhaltete auch den Kampf gegen die westliche „LGBTQ-Ideologie“. Sowohl die PSPU als auch die Anti-Fracking-Aktivisten bedienten sich eines antikolonialen Diskurses und beschuldigten den Westen in Gestalt der USA, der EU bzw. westlicher Konzerne, den Donbass und die gesamte Ukraine deindustrialisieren und zum Rohstofflieferanten degradieren zu wollen.
Die Übergänge waren allerdings fließend. Die Donkosaken etwa waren im Donbass auch militärisch aktiv. Besonders stark waren sie in den abgehängten Bergarbeiterstädten im Gebiet Luhans’k, während die Gruppierung Oplot in der Stadt Donec’k agierte. Das „Anti-Fracking-Netzwerk“ hatte seine Hochburg in Slov’jans’k, wo es wie in Kramators’k den Kämpfern von Igor’ Girkin half, die Kontrolle zu übernehmen.
Die verschiedenen Organisationen vernetzten sich untereinander, koordinierten ihre Aktionen und verhalfen so den Aufständischen zu raschem Erfolg. Solche Netzwerke zu schaffen war von besonderer Bedeutung in einer atomisierten postsozialistischen Gesellschaft, wo politische Partizipation jenseits der Partei der Regionen nicht existierte.
Aus dem Englischen von Andrea Huterer, Berlin
[1] Nikolay Mitrokhin: Infiltration, Instruktion, Invasion. Russlands Krieg in der Ukraine, in: Osteuropa, 8/2014, S. 3–16.
[2] Zur Neuerfindung und politischen Instrumentalisierung dieses historischen Begriffs durch Putin und seine Propagandisten Alexandr Osipian: Political justification of territorial expansion from Catherine II to Putin. Inventing Novorossiya in imperial and in post-imperial context, in: Sebastian Fahner u.a. (Hg.): Politics of pasts and futures in (post-)imperial contexts. Berlin, Boston 2025, S. 165–195. – Noworossija – historische Region und politische Kampfvokabel. Dekoder, 6.4.2022.
[3] Florian Peters: Roter Mohn statt Rotem Stern. „Entkommunisierung“ der Geschichtskultur in der Ukraine, in: Osteuropa, 3/2016, S. 59–77.
[4] O.F. Ovsijenko, H.V. Papakin: Dijal’nist’ Artema (F.A. Sergejeva) na Ukrajini (za dokumentami CDIA URSR u m. Kyjevi ta CDAŽR URSR), in: Archivy Ukrajiny, 2/1983, S. 52–56.
[5] Georgiy Kasianov: Memory Crash. Politics of History in and around Ukraine, 1980s–2010s. Budapest 2022. –Alexandr Osipian: Historical Myths, Enemy Images and Regional Identity in the Donbass Insurgency (Spring 2014), in: Journal of Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 1/2015, S. 109–140. – Ders.: World War II Memory Politics in Russia and Ukraine, and Their Uses During the Conflict in the Donbas (Spring–Summer 2014), in: Korine Amacher, Andrii Portnov, Viktoriia Serhiienko (Hg.): Official History in Eastern Europe. Osnabrück 2020, S. 267–290.
[6] Iryna Sklokina, Volodymyr Kulikov: Industrial Heritage and Its Multiple Uses in Donbas, Ukraine, in: Region. Regional Studies of Russia, Eastern Europe, and Central Asia, 1/2021 [= Special Issue: Donbas Imaginaries. Heritage, Culture, Communities], S. 33–60.
[7] Alexandr Osipian: The Overlapping Realms of Memory and Politics in Ukraine, 2004–2012, in: Interstitio. East European Review of Historical and Cultural Anthropology, 1–2/2012, S. 41–62. Nach den Kämpfen von 2014–2015 wurden einige Ortsnamen im Donbass zu Erinnerungsorten im neuen Kanon des ukrainischen kulturellen Gedächtnisses. Im Mittelpunkt steht die Trauer um gefallene Soldaten, mitunter auch Zivilisten. Beispiele sind das Gedenken an die Schlacht von Ilovajs’k im August 2014, welche die ukrainischen Streitkräfte verloren, oder die Schlacht um den Flughafen von Donec’k im September 2014–Januar 2015. Anna Glew: Commemoration in the midst of the ongoing Russia-Ukraine conflict, in: British Journal for Military History, 2/2021, S. 148–165.
[8] Zur Bedeutung des industriellen Erbes einer Region für die Identitätsbildung: Stefan Berger (Hg.): Constructing Industrial Pasts. Heritage, Historical Culture and Identity in Regions Undergoing Structural Economic Transformation. New York, Oxford 2019.
[9] Anton Stepura: Muzej istorii NKMZ. 8 zalov unikal’nych ėksponatov. Kramatorsk Post, 20.3.2017. – Muzej istorii „Korum Družkovskij mašinostroitel’nyj zavod“ posetili žurnalisty ZI, in: Novostnoj portal ZI, 11.11.2015.
[10] Dies zeigt die Museums-Website. Die Darstellung der Ausstellung zum 19. Jahrhundert erwähnt erst im letzten Satz die industrielle Revolution und damit einhergehende Urbanisierung, den Bau des Eisenbahnnetzes und die Veränderungen im Agrarsektor. Ukrajina u XIX st. Nacional’nyj Muzej Istoriji Ukrajiny, <https://old.nmiu.org/exposition/114-pizne-serednovichchia-i-rannii-modern/259-ukrajina-u-xix-st>.
[11] Kerstin Zimmer: Trapped in Past Glory. Self-Identification and Self-Symbolisation in the Donbass, in: Adam Swain (Hg.): Re-Constructing the Post-Soviet Industrial Region. The Donbas in Transition. London 2007, S. 97–121. – Kerstin Zimmer: Die Kohle, der Clan und die Macht. Zur politischen Anatomie des Gebiets Donec’k, in: Osteuropa, 1/2005, S. 34–49. –Viktoria Sereda: Regional Historical Identities and Memory, in: Ukrajina Moderna, 1/2007 [= Special Issue: L’viv-Doneck. Social’ni identyčnosti v sučasnij Ukrajini], S. 160–209.
[12] Yulia Abibok, Pavlo Hrytsak: Searching for Safe Haven. Donbas Discourses of the 1989–91 Miners’ Strikes, in: Region. Regional Studies of Russia, Eastern Europe, and Central Asia 1/2021 [Fn. 6], S. 9–32. – Stephen Crowley: Between Class and Nation. Worker Politics in the New Ukraine, in: Communist and Post-Communist Studies, 1/1995, S. 43–69.
[13] Timothy Colton: An Aligning Election and the Ukrainian Political Community, in: East European Politics and Societies, 1/2011, S. 4–27.
[14] Steffen Halling: Die Rolle der Oligarchen und der Umbruch in der Ukraine, in: OST–WEST. Europäische Perspektiven, 4/2014, <www.owep.de/artikel/758-rolle-oligarchen-und-umbruch-in-ukraine>. – Tina Kowall, Kerstin Zimmer: Der politische Einfluß von Wirtschaftseliten in der Ukraine. Nationale und regionale Oligarchen. Bremen 2002, <www.forschungsstelle.uni-bremen.de/UserFiles/file/06-Publikationen/Arbeitspapiere/fsoAP42.pdf>. – Heiko Pleines: The Political Role of Business Magnates in Competitive Authoritarian Regimes. A Comparative Analysis, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2/2019, S. 299–334.
[15] Alexandr Osipian: The decline of the Left, populist mobilization and insurgency in the old industrial region of Donbas, 1991–2014, in: Totalitarismus und Demokratie, 1/2022, S. 84–87.
[16] Robert S. Jansen: Populist Mobilization. A New Theoretical Approach to Populism, in: Sociological Theory, 2/2011, S. 75–96. – Hans-Georg Betz: We Are Not Worthless. Resentment, Misrecognition and Populist Mobilization. Fair Observer, 12.7.2021.
[17] Ararat Osipian, Alexandr Osipian: Why Donbass Votes for Yanukovych. Confronting the Ukrainian Orange Revolution, in: Demokratizatsiya. The Journal of Post-Soviet Democratization, 4/2006, S. 495–517.
[18] Volodymyr Kulikov: Foreign Entrepreneurs and Industrialization in South Russia in the Late 19th and Early 20th Century, in: New Europe College Black Sea Link Program Yearbook 2012–2013. Bucharest 2014, S. 83–107, passim. – Rainer Lindner: Unternehmer und Stadt in der Ukraine, 1860–1914. Industrialisierung und soziale Kommission im südlichen Zarenreich. Konstanz 2006, hier 222–236.
[19] Kerstin Zimmer: Machteliten im ukrainischen Donbass. Bedingungen und Konsequenzen der Transformation einer alten Industrieregion. Berlin 2006. – Stefan Wellgraf: Die Millionengaben. Oligarchen und Fußball in der Ukraine, in: Osteuropa, 5/2006, S. 39–58.
[20] Viktor Susak: Tablyci odnovimirnych rozpodiliv trendovoho sociolohičnoho doslidžennija. L’viv – Donec’k. Sociolohičnyj analiz hrupovych identyčnostej ta ijerarchiji suspil’nych lojal’nostej – 1994, 1999, 2004 rr., in: Ukrajina moderna, 1/2007, Tabellen im Anhang.
[21] Rinat Achmetov otdelilsja ot „Doneckoj narodnoj respubliki“, in: Kommersant”, 21.5.2014,
[22] Luk’jančenko pokinul Doneck: govorit, čto ne prinjal ul’timatum „DNR“. UNIAN.net, 14.7.2014.
[23] Mėr Luganska nachoditsja ne v gorode, no prodolžaet rabotat’. – Gorsovet. CXID.info, 1.9.2014.
[24] Kompanija Taruty pokinula Doneck, in: Ukrainskaja Pravda, 25.7.2014. – Doneck, brošennyj na proizvol sud’by. Deutsche Welle, 16.7.2014, <www.dw.com/ru/донецк-брошенный-на-произвол-судьбы/a-17790289>.
[25] V Donecke rasstreljali trech sotrudnikov GAI. BBC, 3.7.2014, <www.bbc.com/ukrainian/rolling_news_russian/2014/07/140703_ru_n_police_road_attacked>.
[26] Serhiy Kudelia: How They Joined? Militants and Informers in the Armed Conflict in Donbas, in: Small Wars & Insurgencies, 2/2019, S. 279–306. – Serhiy Kudelia, Johanna van Zyl: In My Name. The Impact of Regional Identity on Civilian Attitudes in the Armed Conflict in Donbas, in: Nationalities Papers, 5/2019, S. 801–821, hier S. 806, 809, 815–817.
[27] Umfrage des Kiev International Institute of Sociology (KMIS), 10.–15. April 2014 im Auftrag von Dzerkalo tyžnja/Zerkalo nedeli: Mnenija i vzgljady žitelej Jugo-vostoka Ukrainy. Aprel’ 2014. Zerkalo nedeli, 18.4. 2014.
[28] Ebd.
[29] Ebd.
[30] Ebd.
[31] Girkin (Strelkov). Donbass, MN17, Gaaga, FSB, poludochlyj Putin, Surkov, Božij sud. Interview mit GORDON, 18.5.2020, <www.youtube.com/watch?v=hf6K6pjK_Yw>.
[32] V Donecke žestoko izbity učastniki proukrainskoj akcii. BBC, 28.4.2014, <www.bbc.com/russian/international/2014/04/140428_ukraine_donetsk_rally_violence>.
[33] William Jay Risch: Prelude to War? The Maidan and Its Enemies in the Donbas, in: David R. Marples (Hg.): The War in Ukraine’s Donbas. Origins, Contexts, and the Future. Budapest 2022, S. 7–28. – Kimitaka Matsuzato: The First Four Years of the Donetsk People’s Republic. The Differentiating Elites and Surkov’s Political Technologists. Ebd., S. 43–66.
[34] Emily Bayrachny: Church, State and Holy War. Assessing the Role of Religious. Organizations in the War in Ukraine, in: Logos. A Journal of Eastern Christian Studies, 1–4/2017, S. 215–250, passim.
[35] Evidence Grows of Russian Orthodox Clergy’s Aiding Ukraine Rebels. New York Times, 6.9.2014.
[36] Glavar’ terroristov Girkin vel razveddejatel’nost’ pod patronatom Russkojh pravoslavnoj cerkvi, in: Zerkalo nedeli, 19.5.2014. – Igor’ Strelkov: „Menja prikazano uničtožit’ vo čto by to ni stalo“, in: Komsomol’skaja pravda, 26.5.2014.
[37] Rustam Tempraliev: „Esli ėto imelo opredelennuju režissuru, režisseru nužno postavit’ pjat’ s pljusom! Vedomosti, 15.3.2015.
[38] Igor’ Strelkov: Davnen’ko ne zachodil k sebe v ŽŽ, 12.6.2022, <https://strelkov-i-i.livejournal.com/165066.html>.
[39] Terrorist Girkin: Vsja moja ličnaja ochrana sostojala iz duchovnych synovej, monachov, ieromonachov Svjatogorskoj lavry. Gordonua.com, 14.10.2018.
[40] Samuel Newland: Cossacks in the German Army, 1941–1945. London 1991.
[41] Tomáš Baranec: Russian Cossacks in Service of the Kremlin. Recent Developments and Lessons from Ukraine, in: Russian Analytical Digest, 153/2014, S. 9–12. – Jolanta Darczewska: Putin’s Cossacks. Just Folklore or Business and Politics? Warsaw 2017 [= OSW Point of View, 68]. – Richard Arnold: Whose Cossacks Are They Anyway? A Movement Torn by the Ukraine-Russia Divide. Washington D.C. 2019. – Ders.: Kosakenorganisationen in der heutigen Ukraine, in: Ukraine-Analysen, 263/2022, S. 26–29. – Marlène Laruelle: Russia’s Militia Groups and their Use at Home and Abroad. Paris 2019 [= Russie.Nei.Visions, 113]. – Sergej Markedonov: Neokazačestvo na Juge Rossii. Ideologija, cennosti, političeskaja praktika, in: Central’naja Azija i Kavkaz. Žurnal social’no-političeskich issledovanij, 5/2003, S. 161–174. – Uwe Halbach: Instrumentalisierung des Kosakentums. Russlands Rückgriff auf seine imperiale Geschichte. SWP-Aktuell 9/2015.
[42] Mitrokhin, Infiltration [Fn. 2], S. 15.
[43] Andreas Umland: Vitrenko’s flirtation with Russian „Neo-Eurasianism“. Kyiv Post, 14.6.2007.
[44] Na Ukraine sozdan Front Narodnogo Soprotivlenija Evrokolonizacii. Novosti političeskich partij Rossii i stran SNG, 1.10.2013.
[45] V Sevastopole iniciirujut protestnye akcii soprotivlenija evrokolonizacii, in: Služba novostej ForPost, 1.10.2013. – Miting za vstuplenie v Tamožennyj sojuz sobral v Donecke neskol’ko desjatkov ljudej. Gordonua.com, 28.12.2013. – Vitrenko raskryla lož’ regionalov. Glavkom.ua, 18.11.2010.
[46] Medvedčuk war von 2002–2005 Leiter von Leonid Kučmas Präsidialadministration. Der persönliche Freund Vladimir Putins wurde 2022 beim Versuch, aus der Ukraine zu fliehen, festgenommen und später im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Russland ausgeliefert. Putin ist der Taufpate von Medvedčuks Tochter Darina.
[47] Očerednoj protest protiv razrabotki i dobyči slancevogo gaza: Progressivnyj Slavjansk, 18.2.2013. – Robert Sperfeld: Schiefergas in der Ukraine. 23.10.2013, <www.boell.de/de/ 2013/10/23/schiefergasfoerderung-der-ukraine>. – Posledstvija dobyči slancevogo gaza na Ukraine – vymiranie naselenija. Central’noe agentstvo Novorossiii, 30.3.2014.
[48] The Russian Who Claims Credit for Fanning The Flames In Ukraine. NPR (National Public Radio), 6.1.2015.
[49] From Soap Factory to Commanding a Rebel Town in Ukraine. News Locker, 23.4.2014.
[50] Ponomarev äußerte sich im Oktober 2014 in einem Interview für die russländische propagandistische Nachrichtenagentur REGNUM zur Stimmung in Slov’jans’k im Februar 2014: „Man hat versucht, unseren so reichen Urlaubsort, der früher von Bedeutung für die ganze Sowjetunion war, der privaten Hand zu überlassen, was teilweise gelungen ist. Sie wollten Schiefergas abbauen, wodurch unsere einzigartigen natürlichen Ressourcen und die Zukunft unserer Region zerstört worden wären. Wir hatten schon Erfahrung mit Zusammenschlüssen, denn wir hatten ja bereits Kundgebungen dagegen abgehalten. Zudem hatte ich bereits Erfahrungen im Kampf gegen die Strafverfolgungsbehörden und das korrupte Milieu.“ Narodnyj mėr Slavjanska: „My ne dumali, čto dojdet do vojny, tak kak nadejalis’ na pomošč’ Rossii. Regnum, 20.10.2014, <https://regnum.ru/article/1858546>.
[51] Strelkov, Davnen’ko ne zachodil [Fn. 38]. – Später legte sich Ponomarev eine eigene „Prätorianergarde“ von etwa 30 bewaffneten einheimischen Männern zu. Girkins Einheit bekam nach dessen eigener Aussage Zuwachs durch Freiwillige aus Russland sowie einige Anti-Majdan-Enthusiasten aus anderen Teilen der Ukraine.
[52] Ob diese Aktivitäten von Russlands Gazprom-Konzern gefördert wurden, bleibt spekulativ: Die Proteste waren in seinem Sinne, da Fracking im großen Maßstab Gazprom Marktanteile gekostet hätte. Nicht nachzuweisen, aber auch nicht unwahrscheinlich ist, dass ein Teil der Demonstranten in Slov’jans’k – zumeist ältere Menschen – für ihre Teilnahme an den Anti-Fracking-Protesten bezahlt wurde und dass die Organisatoren mit Medvedčuks Bewegung Ukrainische Wahl in Verbindung standen, die Gelder aus Russland erhielt. Dass Geld an ein Organisationsteam geflossen sei, suggerierte der damalige Gouverneur von Donec’k in einer Pressekonferenz am 1. April 2013. Doneckij gubernator: Mitingami protiv dobyči slancevogo gaza zanimajutsja 12 čelovek (Ukraina). Regnum, 1.4.2013, <https://regnum.ru/news/1643188>. Für die These spricht auch die Beobachtung eines Experten aus Kiew im Interview mit Radio Svoboda, dass die Anti-Fracking-Proteste vom selben Netzwerk organisiert worden seien wie die Proteste gegen die ukrainische Regierung in Slov’jans’k im Frühjahr 2014. Na Donbasse protesty protiv slancevogo gaza i ukrainskoj vlasti organizovyvaly te že struktury – ėkspert. Radio Svoboda, Donbass.Realii, 28.7.2016, <www.radiosvoboda.org/a/27886861.html>.
[53] Narodnyj mėr Slavjanska, „My ne dumali“ [Fn. 50].
Volltext als Datei (PDF, 432 kB)