Direktverbindung?
EditorialAbstract in English
(Osteuropa 5/2025, S. 34)
Volltext
Sie werden Putinversteher, Russlandfreunde oder Kremladepten genannt, gelegentlich als „fünfte Kolonne“ oder Kollaborateure bezeichnet, als prorussisch, russlandnah oder russlandorientiert beschrieben. Gemeint sind der US-Präsident, deutsche Parteipolitiker, ostmitteleuropäische Regierungschefs, die bewusst oder unbewusst, naiv oder zynisch, mit Wort und Tat, den Interessen des Moskauer Regimes und dessen imperialer Politik in die Hände spielen würden.
Besonders brisant ist die Frage in den postsowjetischen Staaten, auf die sich der Moskauer Machtanspruch in besonderer Weise richtet. Dies gilt für die Ukraine, gegen die Russland seit 2014 einen zunächst verdeckten und seit Februar 2022 einen offenen, unerbittlichen Angriffskrieg führt, der Züge eines Auslöschungskriegs trägt; für Belarus, dessen Langzeitdiktator seine jahrzehntelange Schaukelpolitik im Jahr 2020 aufgegeben hat, als eine nach Europa schauende Oppositionsbewegung seine Macht herausforderte; für Moldova, das bereits Anfang der 1990er Jahre mit bewaffneten Separatisten konfrontiert war, die von Moskau unterstützt den de-facto-Staat Transnistrien errichteten. Und das gilt auch für Estland, das sich schon vor zwanzig Jahren unter den Schutzschirm der NATO begeben hat und sich in seiner geopolitischen Lage besonders davor fürchtet, dass die im Land lebende russische Minderheit von Moskau als Vorwand für eine „Spezialoperation“ zum angeblichen Schutz dieser Gruppe genommen wird.
Wer eine Direktverbindung zwischen Moskau und diesen Personen oder Gruppen unterstellt, macht es sich zu leicht und überschätzt die Macht Russlands. Zu fragen ist, welche Welt- und Geschichtsbilder es sind, mit denen sich Wähler ansprechen lassen. Wie diese Vorstellungen historisch entstanden sind und mit welchen Interessen sie sich verknüpfen. Wie der innergesellschaftliche Wettbewerb um eine Ausrichtung nach West oder Ost sich auf die Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau auswirkte – und umgekehrt. In welchem Verhältnis die politische und ökonomische Ordnung zur außenpolitischen Orientierung steht.
Pauschale Antworten kann es nicht geben. Die Beiträge des Schwerpunkts „Russlands Freunde“, die aus einem Workshop am Imre Kertész Kolleg an der Universität Jena entstanden sind, senken erste Sonden in das oft verminte Terrain. Die Ansätze könnten unterschiedlicher kaum sein: von qualitativer Umfrageforschung über Textanalyse bis zur von Gramsci inspirierten neomarxistischen Deutung. Ganz gleich wie man zu ihren Prämissen und Ergebnissen steht, eines zeigen alle: Es bedarf einer vielgestaltigen Osteuropaforschung, die Geschichts-, Sprach- und Sachkenntnis mit klarer Sprache und analytischer Schärfe verbindet. Ohne Waffen ist dem aggressiven Moskauer Imperialismus nicht beizukommen. Doch der freie Geist der Wissenschaft darf darüber nicht aufgegeben werden. Andernfalls wählt man eine andere Art der Direktverbindung nach Moskau.
Berlin, im Juni 2025 Manfred Sapper, Volker Weichsel