Prorussisch! Oder nicht ganz?
Zum ThemenschwerpunktAbstract
Russlands Großangriff auf die Ukraine hat dem Thema „prorussische Bewegungen und Einstellungen“ Brisanz verliehen. Der Krieg legt nahe, jede Aktivität, die sich positiv auf Russland bezieht, als das Werk des Kreml anzusehen. Antiwestliche Opposition oder Äußerungen russischsprachiger Bevölkerungsgruppen stehen unter Verdacht. Der Tagesspiegel berichtete im Oktober 2024 aus Moldova von „Strippenziehern eines prorussischen Netzwerkes“ und „aus Moskau gesteuerten Netzwerken“. In den politischen Debatten der Länder im postsowjetischen Raum ist die Spaltung zwischen prowestlicher und prorussischer Orientierung die zentrale Konfliktlinie. Der folgende Schwerpunkt ist der Versuch, sich diesem Schwarz-Weiß-Denken zu entziehen, zu differenzieren und die Kontingenz mancher Pro-Russland-Position sichtbar zu machen. Die Studien blicken auf lokale Kontexte, ökonomische Hintergründe und die Grauzonen prorussischer Orientierung. Aleksandr Osipian und Alexandr Voronovici rekonstruieren, wie sich das Selbstbild des Donbass vom industriellen Mustergebiet zum Labor für die Russische Welt verschoben hat. Das Autorenduo Volodymyr Ishchenko & Don Kalb blickt auf die postsozialistischen Klassenverhältnisse in der Ukraine, nicht zuletzt auf die Spaltung zwischen transnational verbundener urbaner Mittelklasse und orientierungslosen Industriearbeitern, die von Bedeutung ist, um die politische Konfliktlage vor dem Krieg zu verstehen. Aliaksei Bratachkin beleuchtet das lange Zeit ambivalente Verhältnis von Belarus zu Russland. Durch Diktatur und Krieg rücken die beiden Staaten zusammen. Petru Negură & Lilian Negura erklären die ambivalente öffentliche Meinung in Moldova zu Russlands Angriffskrieg. Andrey Makarychev zeigt, wie Künstler in Estland ein hybrides Selbstverständnis entwickelt haben und sich einer Zuordnung zu den Polen „russisch“ oder „estnisch“ entziehen. Filipp Semyonov macht eine Repolitisierung der „russischen Frage“ in Kasachstan aus. Die Beiträge werfen Schlaglichter. Sie sollen eine Diskussion über die Chancen und Grenzen des Begriffs „prorussisch“ anregen. Medien verwenden den Begriff inflationär: für politische Organisationen, separatistische bewaffnete Kräfte, diffuse antiwestliche Demonstrationen, nationalistische Positionen oder kollektive Selbstidentifizierung. Der Begriff schillert in seiner Vielseitigkeit, ist allgegenwärtig und vage zugleich. Das Nachdenken über diesen Begriff kann helfen, Konfliktkonstellationen im post-sowjetischen Raum besser zu verstehen. Der Schwerpunkt basiert auf dem Workshop „Pro-Russian, or Not Quite? Local Agency and Moscow Patronage in Political Movements and Russian-Speaking Milieus in the Post-Soviet Space from 1991 until Today“, den wir während unseres Fellowships am Imre Kertész Kolleg an der Universität Jena entwickelten. Unser besonderer Dank gilt Joachim von Puttkamer und Daniela Gruber. Das Imre Kertész Kolleg übernahm die Organisation und Ausrichtung der Veranstaltung, die dank der großzügigen Förderung durch die Fritz Thyssen Stiftung Ende Mai 2024 in Jena stattfinden konnte.
Alexandr Voronovici, Jan Zofka
(Osteuropa 5/2025, S. 9394)