Dichtung und Wahrheit

Ulrich Schmid, 10.1.2023

Die Neujahrsansprachen von Vladimir Putin und Volodymyr Zelens’kyj

Die Neujahrsansprachen des russischen und des ukrainischen Präsidenten könnten unterschiedlicher nicht sein. Vladimir Putin steht während seiner Rede vor einer Kohorte Offiziere und Soldaten, die an der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine teilnehmen. Viele sind mit Orden ausgezeichnet worden, einige tragen das blau-weiß-gestreifte T-Shirt der Luftlandetruppen unter der Uniformjacke. Diese auffällige Präsenz darf man als Reverenz des Präsidenten an die Luftlandetruppen deuten, die in den ersten Kriegstagen schwere Verluste erlitten, als sie versuchten, den Flughafen Hostomel einzunehmen. Pikant ist natürlich, dass Vladimir Putin selbst an dieser Katastrophe schuld war: Er ging davon aus, dass es zu keinen ernsthaften Kämpfen kommen werde: Die Luftlandetruppen hätten das Hinterland des Angriffs militärisch sichern sollen, waren aber nicht für eine eigentliche Angriffsmission ausgerüstet.

Die Auswahl der Armeeangehörigen soll das gesamte Volk der Russländischen Föderation repräsentieren: Frauen und Männer sind anwesend, auch Soldaten mit zentralasiatischen oder kaukasischen Gesichtszügen. Der Präsident steht zwar in Zivil, aber deutlich in seiner Funktion als Oberbefehlshaber vor den Vertretern seiner Armee. Es gibt kaum Bewegung in dem neun Minuten dauernden Clip. Sowohl Putin als auch die hinter ihm stehenden Armeeangehörigen gestikulieren nicht und ändern auch ihren Blick nicht. Putins Kopf fügt sich auf gleicher Höhe in die Menge der Köpfe hinter ihm ein – damit ist die Komposition des Bildes auf das Thema der Isokephalie gestimmt: Der Präsident wird als Verkörperung des Widerstandswillens des russländischen Staatsvolkes dargestellt. Diese Integration zeigt sich auch im immer intimeren Crescendo der direkten Ansprache der Zuhörerschaft, das in einer fünffachen Beschwörung der Freundschaft zwischen Herrscher und Beherrschten gipfelt: „Sehr geehrte Bürger Russlands! Liebe Freunde! […] Liebe Kameraden! […] Liebe Freunde! […] Liebe Freunde! […] Liebe Freunde! […] liebe Freunde!“

Der anbiedernde Impetus kompensiert die inhaltliche Leere der Neujahrsbotschaft. Bereits zuvor hatte Putin die Absage der alljährlichen „Direkten Linie“ mit Journalisten und der von der Verfassung vorgeschriebenen Rede an die Föderale Versammlung mit dem Argument verteidigt, es sei schon alles gesagt und er wolle sich nicht wiederholen. Es gibt in der Tat auch keinen neuen Gedanken in der Neujahrsansprache. Die einzelnen Elemente der Rede sind Versatzstücke aus der patriotischen offiziösen Ideologie, die von den Staatsmedien spätestens seit 2012 ad nauseam in die Gesellschaft eingespielt wird. Gleich zu Beginn nennt Putin das Schlüsselwort „Souveränität“ und betont die „Konsolidierung der russländischen Gesellschaft“. Damit knüpft er an die hochtrabenden Formulierungen aus der Nationalen Sicherheitsstrategie 2021 an, in der der Begriff „Souveränität“ 18 Mal vorkommt, zuerst prominent ganz zu Beginn der „Allgemeinen Voraussetzungen“:

„Der von der Russländischen Föderation konsequent verfolgte Kurs der Verstärkung der Verteidigungsbereitschaft, der inneren Einheit und politischen Stabilität, der Modernisierung der Wirtschaft und der Entwicklung des Industriepotenzials gewährleistete die Verstärkung der souveränen Staatlichkeit Russlands als eines Landes, das eine selbständige Außen- und Innenpolitik durchführen und externen Druckversuchen effizient widerstehen kann.“[1]

Putin rekurriert im Weiteren implizit auf die Russländische Verfassung, die 2020 revidiert wurde und die weit über die Organisation der staatlichen Instanzen hinaus geht. „Der Schutz der Heimat ist heilige Pflicht gegenüber unseren Ahnen und unseren Nachkommen. Die moralische und historische Wahrheit ist auf unserer Seite.“ So paraphrasiert Putin den neuen Artikel 67.1 Absatz 3: „Die Russländische Föderation ehrt das Andenken der Verteidiger des Vaterlandes, sie gewährleistet die Verteidigung der historischen Wahrheit.“

Schließlich bezieht sich Putin auf die Primakov-Doktrin, wenn er sagt: „Und unser Kampf für uns selbst, für unsere Interessen, für unsere Zukunft dient zweifellos anderen Staaten als inspirierendes Beispiel für ihr Streben nach einer multipolaren Weltordnung.“ Evgenij Primakov hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschiedene Funktionen in den sicherheitspolitischen und geheimdienstlichen Gremien Russlands inne und war Ende der 1990er Jahre Ministerpräsident. Er formulierte die Grundsätze der postsowjetischen Außenpolitik Russlands. Die wichtigsten Elemente waren dabei das Insistieren auf Russlands Großmachtstatus und die Etablierung eines multipolaren Mächtesystems in der Welt.[2] Putin setzte seit dem Jahr 2000 alles daran, diesen Grundsätzen auch realpolitisch und militärisch Nachachtung zu verschaffen.

In der Neujahrsansprache positioniert Putin Russland als Vorkämpfer für eine multipolare Weltordnung, die sich vor allem gegen die US-amerikanische Dominanz richtet. Damit versucht Putin, zumindest vor dem heimischen Publikum die Allianz Russlands mit Staaten wie China oder Indien zu unterstreichen. Allerdings verschweigt er dabei die kritischen Töne, die von den Präsidenten Xi und Modi auf dem Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand an die Adresse Putins geäußert wurden.

Nach dem rituellen Bedienen der Ideologie wechselt Putin die sprachliche Ebene. Er verwendet im zweiten Teil der Ansprache Wörter, die nicht aus dem politischen, sondern dem privaten Vokabular stammen. Er spricht von „Barmherzigkeit“, „Einfühlsamkeit“, „zärtlichen Gefühlen“ und sogar von „Liebe“. Der fast schon intime Ton von Putins Neujahrsansprache gehört literaturwissenschaftlich gesehen zum romantisch-lyrischen Genre. Putin wird damit zum Barden der russländischen Souveränität, die nur durch emotionale Mobilisierung erreicht werden kann.

Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj präsentiert sich nicht wie Putin in Anzug und Krawatte, sondern im bereits ikonisch gewordenen Militärlook. Er steht auf einer Straße in Kiew, im Hintergrund weht unscharf eine beleuchtete ukrainische Flagge. Anders als Putin, der lange Sätze formuliert, setzt Zelens’kyj auf kurze Hauptsätze, die oft auch nur aus einem einzigen Wort bestehen. Zelens’kyj lässt einzelne Stationen des Krieges Revue passieren. Er spricht eine eingeschworene Gemeinschaft an, die dasselbe Schicksal erlitten hat. Deshalb muss er den Gegenstand des gemeinschaftlichen Gedenkens auch nicht im Detail ausführen. Es reicht, wenn er einzelne Stichwörter nennt: „Kramators’k. Der Bahnhof. Das Stofftier.“ „Mariupol’. Das Theater. Der Schriftzug ,Kinder'.“ „Odessa. Das Hochhaus. Das kleine Mädchen. Drei Monate alt.“ „Vil’njans’k. Die Geburtsstation. Der Säugling. Zwei Tage alt.“

Auf diese Aufzählung folgt eine Liste mit den wichtigsten Kampfschauplätzen, wo die ukrainische Armee Siege verbuchen konnte: „Die Verteidigung von Kiew. Charkiv. Mykolajiv. Čornobajivka. Die Schlangeninsel. HIMARS. Die Antonivkabrücke. „Baumwolle“. Die Krimbrücke. „Neptun“. Der Kreuzer „Moskva“. Russisches Kriegsschiff. Izjum, Balaklija und Kup’jans’k. Cherson.“ Anschließend dekliniert Zelens’kyj die ukrainischen Regionen im Kriegsgebiet durch und erinnert in jedem Fall an die entscheidenden Ereignisse. Die einzelnen Namen werden durch kurze Videoeinspielungen ergänzt. Gerade die verwackelten Aufnahmen von privaten Handys erhöhen den Eindruck dramatischer Authentizität.

Im Gegensatz zum romantischen Lyriker Putin bedient Zelens’kyj das heroisch-epische Genre. Seine detaillierte Auflistung der wichtigsten Orte der militärischen Auseinandersetzung unter Nennung einzelner Waffen geht zurück auf den berühmten Schiffskatalog in Homers Illias. Vor der Schlacht um Troja schaltet Homer in seinen Bericht einen langen Katalog ein, in dem er die Anzahl der griechischen Schiffe, den Heerführer und die Herkunftsorte der Soldaten nennt. Der textuelle Aufwand vergrößert beim Leser den Eindruck der griechischen Streitmacht. Homer hat sogar einige Anführer erfunden, um sie später effektvoll im Kampf sterben zu lassen.[3]

Auch Zelens’kyj betreibt einen beträchtlichen sprachlichen Aufwand, um die Leistungen der ukrainischen Armee angemessen darzustellen. Er verlässt sich wie Homer auf die emphatische Kraft des Katalogs, wenn er einzelne Verteidigungsaktivitäten aufzählt. Seine Neujahrsansprache mündet in die Beschwörung der ukrainischen Einheit, die durch das mutige Leadership des Präsidenten garantiert wird: „Wir sind bereit, [für die ukrainische Freiheit] zu kämpfen. Darum ist jeder von uns hier. Ich bin hier. Wir sind hier. Ihr seid hier. Alle sind hier. Wir alle – sind die Ukraine.“ Zelens’kyj konstatiert damit eine Tatsache, die sich bereits seit der Annexion der Krim durch Russland und der Destabilisierung der Ostukraine im Jahr 2014 beobachten lässt: Jede neue Eskalationsstufe der russländischen Aggression stärkt das ukrainische Nationalprojekt und trägt es weiter nach Osten.

Ulrich Schmid (1965), Dr. phil., Slavist, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, Universität St. Gallen


[1] Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii o strategii nacional’noj bezopasnosti (2.7.2021), <http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202107030001>.

[2] Marek Delong: The Concept of Russian Federation Foreign and Security Policy by Eugene Primakov, in: International Security, 12/2020, S. 307–318.

[3] Wolfgang Kullmann: Poesie, Mythos und Realität im Schiffskatalog der „Ilias“, in: Hermes, 1/2009, S. 1–20.