Titelbild Osteuropa 6/2007

Aus Osteuropa 6/2007

Nicht-Literatur ohne Moral
Warum Varlam Šalamov nicht gelesen wurde

Ulrich Schmid

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Abstract in English

Abstract

Varlam Šalamov (1907–1982) ist zweifellos einer der wichtigsten Schriftsteller, die den Gulag literarisch verarbeitet haben. Im Gegensatz zu Aleksandr Solženicyn konnte er aber weder Rußland noch im Westen eine Breitenwirkung entfalten. Gründe sind seine anspruchsvolle Poetik, sein moralischer Nihilismus, seine provozierende Revision des russischen Literaturkanons und sein politisches Verhalten nach der Rehabilitierung. Erst in den letzten Jahren wird Šalamov als Autor erkennbar, der in seinen Texten avantgardistische und realistische Darstellungstechniken zu einer anspruchsvollen und widersprüchlichen literarischen Einheit gefügt hat.

(Osteuropa 6/2007, S. 87–106)

Volltext

Die Erscheinungsdaten der ersten Übersetzungen von Varlam Šalamovs Erzählungen aus Kolyma markieren einen europäischen Literaturskandal ersten Ranges: In Deutschland wurde zwar bereits 1967 eine Auswahl von Šalamov-Texten publiziert. Allerdings blieb der federführende kleine Kölner Verlag blind für das künstlerische Potential dieses Werks und brachte es nicht einmal fertig, den Namen des Autors richtig wiederzugeben. Durch ihren Titel Artikel 58. Die Aufzeichnungen des Häftlings Schalanow [sic!] reiht sich diese Publikation in die lange Serie der damals populären faktographischen Berichte aus dem Gulag ein. Dieser unzuverlässige Text wurde aus dem Deutschen weiterübersetzt und erschien 1968 auf Afrikaans und 1969 auf Französisch. Erst 1975 kam es – im Windschatten von Solženicyns stürmischem Erfolg auf dem europäischen Buchmarkt – zu einer Neuauflage dieser Ausgabe unter dem Titel Kolyma. Insel im Archipel. Diese Formulierung nähert sich zwar dem Originaltitel an, gibt dem Leser aber immer noch das ebenso deutliche wie falsche Signal, daß es sich hier gewissermaßen um ein Ergänzungskapitel zu Solženicyns Opus magnum Archipel GULAG handle. Es dauerte dann noch einmal acht Jahre, bis der Ullstein-Verlag 1983 eine umfassendere, aber bei weitem noch nicht vollständige Fassung der Geschichten aus Kolyma veröffentlichte. Aufmerksamer war der französische Buchmarkt: 1969 erschien neben der genannten Übersetzung aus dem Deutschen auch eine Ausgabe mit einer korrekten Titelei (Récits de Kolyma). Die Übersetzung erfolgte dieses Mal direkt aus dem Russischen. Die Textauswahl beschränkte sich auf 27 Erzählungen, hauptsächlich aus dem Zyklus Artist Lopaty (Der Spatenkünstler). Bei dieser Ausgabe gab es allerdings auch einen politischen Hintergedanken: Verantwortlich für die Auswahl zeichneten die französischen Trotzkisten Maurice Nadeau und Jean-Jacques Marie, die Šalamov aufgrund seiner Verurteilung wegen konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit für ihren Kampf gegen das Sowjetregime vereinnahmen konnten. Allerdings bedauerte Nadeau selbst, daß die Veröffentlichung der Erzählungen aus Kolyma in Frankreich nur „wenig Aufsehen [peu de bruit]“ erregt habe. Erst in den Jahren 1980–1982 folgte unter dem verkürzten Titel Kolyma eine dreibändige Ausgabe, die allerdings die einzelnen Texte ohne Rücksicht auf den Autorwillen neu bündelte. In den 1990er Jahren publizierten vor allem die Verlage Gallimard und Verdier neue Šalamov-Ausgaben – hier wurden auch die Briefe berücksichtigt. Noch zögerlicher verlief die Šalamov-Rezeption in anderen Sprachgebieten: Die erste italienische Ausgabe der Erzählungen aus Kolyma erschien 1978 in Rom. Im angelsächsischen Raum machte Robert Conquest 1978 in seinem Buch Kolyma. The Arctic Death Camps auf Šalamov aufmerksam. Erst 1980 veröffentlichte John Glad in New York eine Textauswahl mit dem Titel Kolyma Tales, die 1994 in erweiterter Form noch einmal aufgelegt wurde. Das späte Interesse in den USA ist um so erstaunlicher, als die meisten Originaltexte bereits während der Jahre 1966–1976 in der New Yorker Exilzeitschrift Novyj žurnal erschienen waren. Einen Spezialfall stellt die Rezeption in Rußland dar. Der achte Band der Kratkaja Literaturnaja Ėncyklopedija aus dem Jahre 1975 verzeichnete Varlam Šalamov in erster Linie als Vertreter einer philosophischen Naturlyrik. Darüber hinaus findet nur seine Prosa aus den 1930er Jahren Erwähnung, die sich durch „erhöhte Emotionalität und Lakonismus“ auszeichne. Zu Lebzeiten konnte Šalamov in der Sowjetunion nur fünf Gedichtbände veröffentlichen, in denen die Lagerthematik allerdings nicht explizit vorkommt. Die Erzählungen aus Kolyma zirkulierten im Samizdat und wurden im Tamizdat herausgegeben (London 1978 und Paris 1982). 1987 und vor allem 1988 zeigten sich die ersten Risse in der Mauer des offiziellen Schweigens: In verschiedenen Zeitschriften – Znamja, Moskva, Družba narodov, Sel’skaja molodež’, Na Severe Dal’nem, Avrora, Junost’ – erschienen jeweils einzelne Texte aus den Erzählungen aus Kolyma – bezeichnenderweise ohne jeden Kommentar. 1989 lag die Mauer bereits in Trümmern: Die erste in Rußland gedruckte Ausgabe der Erzählungen aus Kolyma erschien in Magadan in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. Im gleichen Jahr brachte die Biblioteka Ogonek eine Broschüre mit den Očerki prestupnogo mira heraus (150 000 Exemplare). Der Moskauer Verlag Sovremennik verfolgte eine vorsichtigere Strategie: 1989 veröffentlichte er in einer Auflage von 200 000 Exemplaren eine Textauswahl unter dem unverfänglicheren, einem Teilzyklus entlehnten Titel Levyj bereg (Das linke Ufer), 1991 folgte eine Ausgabe mit dem Titel Kolymskie rasskazy (100 000 Exemplare). In Moskau hatte der Verlag Sovetskij pisatel’ bereits 1990 unter dem Originaltitel eine Auflage von 100 000 gedruckt, gleichzeitig erschien auch in Čeljabinsk eine enstprechende Ausgabe mit einer Auflage von 50 000. Nach diesem Publikationsboom wurde es im Laufe der 1990er Jahre wieder stiller um Šalamov. Das Interesse der russischen Leser für die stalinistische Lagerthematik brannte wie ein Strohfeuer und erlosch bald. Die Šalamov-Rezeption beschränkte sich danach auf Versuche, das verstreut erschienene und philologisch ungesicherte literarische Erbe zu sichern: 1992 erschien eine zweibändige, 1998 eine vierbändige, 2006 eine sechsbändige Werkausgabe. Wenn man die Präsenz der Erzählungen aus Kolyma in den verschiedenen Ländern vergleicht, fällt der Umstand auf, daß die Erstpublikation zwar jeweils relativ früh erfolgte, aber nicht dauerhaft die Aufmerksamkeit des breiten Publikums auf sich ziehen konnte. Šalamovs Scheitern ist gewiß nicht auf den falschen Zeitpunkt der Publikation zurückzuführen. Die 1970er Jahre standen ganz im Zeichen des Kalten Kriegs, Aleksandr Solženicyn hatte in seinem Archipel GULAG eine ebenso schockierende wie wirkmächtige Sichtung der stalinistischen Arbeitslager vorgenommen. Auf diesen Erfolgszug konnten dann auch Autoren wie Andrej Amalrik oder Aleksandr Zinov’ev aufspringen. Varlam Šalamov nicht. Šalamovs Problem bestand darin, daß er sich gar nicht auf dem Bahnhof eingefunden hatte. Er hatte kein Auge für politische Fahrpläne oder internationale Verbindungen. Ebensowenig wollte er sein Publikum in den Wartesälen aktueller literarischer Trends abholen. Er war ein Zurückgekehrter, der einen Reisebericht über eine Welt verfaßte, die niemand kennenlernen sollte. Mehr noch: Er hielt es schon für schädlich, wenn die Menschen überhaupt von der Existenz dieser Welt erfahren. In diesem Sinne müßte man sagen, daß Šalamovs ausgebliebene Rezeption aus seiner eigenen Sicht einen Erfolg darstellte. Neue Prosa als beabsichtigte Zumutung für den Leser Šalamovs Poetik ist also gerade nicht auf einfache Lesbarkeit angelegt. Seine Texte geben dem Leser, der den Gulag nicht aus eigener Erfahrung kennt, wenig Anknüpfungspunkte. Die kurzen Prosastücke gehen medias in res, die Figuren werden nicht eingeführt, eine Handlung fehlt in der Regel, vieles bleibt ungesagt und muß sogar erraten werden. Šalamovs Lagertexte unterscheiden sich deutlich von Solženicyns Bearbeitung dieses Themas. Der Untertitel des Archipel GULAG lautet: „Versuch einer künstlerischen Untersuchung“. Solženicyn geht auf eine ästhetische Distanz zum Beschriebenen, die ihm gleichzeitig auch erlaubt, seine moralische Entrüstung über den Gegenstand seiner Darstellung zu artikulieren. Ganz anders geht Šalamov vor: Er verringert den Abstand zwischen Erzähler und Text, zwischen Autor und Held auf ein Minimum und erreicht so maximale Authentizität. Gleichzeitig schließt ein solches Erzählverfahren eine moralische Bewertung des Geschilderten aus. Wenn die Gesichtskreise von Erzähler und Protagonist zusammenfallen, dann ist auch keine ästhetische Verfremdung des Dargestellten möglich – genau diese Verfremdung stellt aber die unabdingbare Voraussetzung für moralisierendes Erzählen dar. Šalamov geht der emotionalen Komplizenschaft mit dem Leser konsequent aus dem Weg. In Šalamovs Lagerprosa fehlt jede Anklage. Grausamkeiten und Demütigungen werden kaum direkt beschrieben, sondern nur als gewöhnliche Begebenheiten registriert. Oft bedarf es sogar einer erhöhten Aufmerksamkeit, damit der Leser einen Vorfall überhaupt in seiner ganzen Tragweite wahrnehmen kann. Šalamov schildert etwa einen Mord unter Lagerinsassen als einfache Abfolge von Bewegungen. Weder das Messer noch der Angriff werden explizit erwähnt: Saška […] bückte sich kurz und zog etwas aus dem Schaft seiner Filzstiefel. Darauf streckte er die Hand zu Garkunov aus, und Garkunov stöhnte kurz und begann auf die Seite zu sinken. Šalamov weigerte sich auch, seine Texte zu überarbeiten. Er beharrte auf der Authentizität des ersten Entwurfs: Man kann nichts verbessern. Man kann etwas nur einmal erraten. Alle Korrekturen zerstören das Authentische; dabei verflüchtigt sich der „Gegenwärtigkeitseffekt“. […] Die erste Variante ist die aufrichtigste und besitzt eine besondere Anmut. Aus diesem Grund sprach sich Šalamov auch gegen das Schreiben aus der Erinnerung oder gar auf der Grundlage von Notizen aus. Unmittelbare Präsenz galt ihm als einzig legitimes Schreibmotiv: Deshalb muß der Schriftsteller nichts aufschreiben, memorieren oder beobachten, es reicht, dabei zu sein – zu sehen, zu hören und zu verstehen. Dieses Programm des „automatischen Schreibens“ (écriture automatique) hat indes seinen Preis. Besonders in Šalamovs autobiographischer Prosa Četvertaja Vologda (Das vierte Vologda) gibt es sehr viele und teilweise sogar wörtliche Wiederholungen derselben Themen. Gleichwohl blieb Šalamov für Änderungsvorschläge von Freunden taub. Er weigerte sich, Doppelungen oder Widersprüche in seinen Texten auszumerzen. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich hier Einflüsse aus der LEF-Poetik feststellen. Viktor Šklovskij und Osip Brik traten für eine Literatur des Fakts ein, die ganz von der Subjektivität des Autors gereinigt sein und sich den neuen Medien Fotografie und Kino annähern sollte. Šalamov selbst gehörte in den 1920er Jahren zum Kreis des Jungen Lef um Osip Brik und kannte auch Sergej Tretjakov persönlich. Literatur gewinnt also bei Šalamov einen besonderen Status. Sie ist nicht mehr ein sorgfältig komponiertes Kunstwerk, sondern das Resultat eines qualvollen Aneignungsprozesses, in dem ein Moment des Lebens direkt verkörpert wird. Literatur ist bei Šalamov keine semiotische Repräsentation von etwas, das nicht vorhanden ist. Šalamov macht in seinen Texten keinen Unterschied zwischen Leben und Literatur. Das Geschilderte ist unmittelbar präsent. Es gibt auch keine unterschiedlichen sprachlichen Ausdrucksvarianten für diese Präsenz des Dargestellten: Jede Umformulierung wäre gleichzeitig eine Manipulation am Gegenstand. Es ist nur konsequent, daß Šalamov vor dem Hintergrund seine Texte sogar aus dem Bereich der Literatur ausgrenzte: Wenn man mich fragt, was ich überhaupt schreibe, dann antworte ich: Ich schreibe keine Erinnerungen. In den Erzählungen aus Kolyma gibt es keine Erinnerungen. Ich schreibe aber auch keine Erzählungen, oder genauer: Ich versuche, keine Erzählungen zu schreiben, sondern etwas, was schon keine Literatur mehr ist. Keine dokumentarische Prosa, sondern Prosa, die als Dokument durchlitten wurde. Šalamov traf den anvisierten Status seines Schreibens sehr genau, indem er sie als „einzigartiges Phänomen einer nichtliterarischen Literatur“ bezeichnete. Für diese dokumentarische Literatur verwendete Šalamov immer wieder die Bezeichnung „neue Prosa“. Die wesentlichen Grundzüge seiner Poetik definierte er in einem manifestartigen Text: In der neuen Prosa – nach Hiroshima, nach der Vernichtung in Auschwitz und auf der Serpentine in Kolyma, nach den Kriegen und Revolutionen – wird alles Didaktische abgelehnt. Die Kunst hat das Recht auf die Predigt eingebüßt. Niemand kann irgend jemanden belehren, niemand hat ein Recht, jemanden zu belehren. Die Kunst veredelt die Menschen nicht, sie macht sie nicht besser. Die Kunst ist eine Weise zu leben, aber keine Weise, das Leben zu erkennen. […] In der heutigen Zeit ist das Beschreiben zu wenig. Die neue Prosa ist das Ereignis, der Kampf selbst, und nicht seine Beschreibung. D.h. sie ist ein Dokument, eine direkte Teilnahme des Autors an den Ereignissen des Lebens. Eine Prosa, die als Dokument durchlebt wurde. Den Effekt der Präsenz, der Authentizität gibt es nur im Dokument. Briefe stehen höher als fiktionale Prosa. Der Tod des Romans, der Novelle, der Erzählung – der Tod des Romans der Charaktere und der Beschreibungen. Alles Ausgedachte, alles „Erdichtete“ – Menschen, Charaktere – all das wird abgelehnt. In Šalamovs Konzeption der „neuen Prosa“ verschiebt sich auch die Beziehung zwischen dem Autor und dem Text. Der Autor steht seinem Text nicht als autonomer Schöpfer gegenüber, sondern ist darin gefangen: Es gibt die Ansicht, daß der Schriftsteller sein Material nicht zu gut, nicht allzu gut und nahe kennen soll. Daß er dem Leser in der Sprache jener Leser erzählen muß, in deren Namen er sein Material untersucht. Daß die Auffassung vom Gesehenen sich nicht zu weit vom Sittenkodex, vom Gesichtskreis der Leser entfernen darf. […] Nach dieser Ansicht ist der Schriftsteller immer ein wenig Tourist, ein wenig Ausländer, ein wenig mehr Literat und Meister als nötig. […] Die neue Prosa verwirft dieses touristische Prinzip. Der Schriftsteller ist nicht Beobachter, nicht Zuschauer, sondern ein Teilnehmer am Drama des Lebens, ein Teilnehmer nicht im Gewand des Dichters, nicht in der Rolle des Dichters. Er ist Pluto, der der Hölle entsteigt, und nicht Orpheus, der in die Hölle hinabsteigt. Schreiben ist mithin eine höchst dämonische Angelegenheit, die den Autor innerlich nachhaltig beschädigt. In einem privaten Brief aus dem Jahr 1975 ging Šalamov sogar noch einen Schritt weiter: Gedichte sind eine Gabe des Teufels, nicht Gottes, jener, der Andere […], eben er ist unser Meister. Gar nicht Christus, überhaupt nicht […] Der Antichrist hat die Bibel, den Koran und das Neue Testament diktiert. Vor dem Hintergrund dieser Konzeption verliert die Literatur jeden moralischen Anspruch. Im Gegenteil: Es wäre besser für die Literatur abzusterben, weil dann auch die Präsenz der Lagererfahrung aufgehoben wäre. Šalamov faßte seinen Gedanken in eine erschreckende Formel: „Gott ist tot, weshalb soll dann die Kunst leben?“ Mit dieser radikalen Position untergrub Šalamov letztlich die Legitimationsgrundlage seines eigenen Schreibens. In einer späten Aufzeichnung ging er mit sich selbst scharf ins Gericht: Wozu schreibe ich meine Erzählungen? 1. Ich glaube nicht an die Literatur. Ich glaube nicht, daß sie den Menschen besser machen kann. 2. Ich glaube nicht, daß man etwas abwenden kann, sich vor der Wiederholung eines Ereignisses schützen kann. Die Geschichte wiederholt sich. Und jedes Verbrechen aus dem Jahr 1937 kann sich ebenfalls wiederholen. 3. Weshalb also schreibe ich überhaupt? Ich schreibe, damit jeder sein Leben […] ebenso erzählen kann, wenn er meine Prosa liest, die sehr weit von jeder Lüge entfernt ist. Šalamov stellt nicht nur der Sinn der Autorschaft radikal in Frage, sondern attackiert auch die Position des Lesers: Die Erzählungen aus Kolyma sollen wie „Ohrfeigen“ wirken. Šalamov bietet seinem Leser keinen Ort mit einer Außenperspektive auf den Gulag an. Der Gulag ist eine eigene Welt, in der es nur ein Innen gibt. In dieser radikalen Beschränkung liegt einerseits die literarische Überzeugungskraft von Šalamovs Texten, gleichzeitig mag sie den tieferen Grund für seine schwierige Rezeption darstellen: Šalamovs Gulag-Darstellung fordert nicht zu moralischer Empörung auf, sondern zum Eintreten in die hoffnungslose und grausame Lagerwelt. Der Leser ist Zeuge einer unerhörten Grausamkeit. Genau dadurch wird er aber auch zum Voyeur, der sich durch sein Sehen moralisch kompromittiert. Šalamov eröffnet seine Erzählungen aus Kolyma mit einem rätselhaften Text, der als realisierte Metapher seiner eigenen Poetik gelesen werden kann. Die Erzählung Po snegu (Durch den Schnee) beschreibt eine Gruppe von Lagergefangenen, die eine metertief zugeschneite Schneepiste flachtreten müssen, damit dort Transporte durchgeführt werden können. Der Text erhebt sich aber am Ende über eine faktographische Schilderung von Häftlingsarbeit und gibt sich als uneigentliche Rede zu erkennen: Aber auf den Traktoren und Pferden fahren nicht die Schriftsteller, sondern die Leser. Die Zumutung dieses Satzes liegt darin, daß der Leser in die Rolle des Ausbeuters des Autors gedrängt wird. Der Autor ist der Leidende, der Leser ist der Peiniger. Die schmerzliche Erfahrung des Lagers wird in einem buchstäblichen Sinne vorgespurt durch den Autor, damit der Leser genau diese Erfahrung unter den vorteilhaften Bedingungen der in der Literatur sublimierten Wirklichkeit nachvollziehen kann. Der letzte Satz macht auch deutlich, daß die weiße Schneefläche als semantischer Nullraum interpretiert werden kann. Der Autor stapft mit großer Mühe durch diese beschwerliche Sinnlosigkeit, damit der Leser nachher dieser Spur folgen kann. Die Schneefläche wird erkennbar als Metapher einer unbeschriebenen Seite, die erst noch mit Sinn angefüllt werden muß. Die Kommunikation zwischen Autor und Leser wird damit als höchst problematischer Vorgang beschrieben, der den Leser in eine moralisch fragwürdige Situation manövriert. Deshalb kommt Šalamov auch zum Schluß, daß seine neue Prosa zum „unausweichlichen Bruch zwischen Leser und Autor“ führt. Šalamovs Poetik schließt also von allem Anfang an eine erschwerte Rezeption ein: Eine ästhetische Anverwandlung des Gelesenen ist ohnehin ausgeschlossen, vielmehr zielt die „neue Prosa“ auf eine prekäre Lektüre, die für den Leser doppelt quälend ist: Er muß die Leiden des Erzählers nachvollziehen und leidet selbst unter seiner Rolle als untätiger Zuschauer. Moralischer Nihilismus Es ist in Šalamovs Literaturkonzeption nur konsequent, daß er mit dem Sinn seiner Literatur auch den Sinn seines (Über)lebens in Frage stellt. Ich bin ein Muslim, […] den die Ärzte den Klauen des Todes entrissen haben. Ich erblicke allerdings in meiner Unsterblichkeit einen Nutzen weder für den Staat noch für mich selbst. Die Skala unserer Begriffe hat sich verändert, sie befinden sich jenseits von Gut und Böse. Das Retten eines Lebens kann oder kann nicht etwas Gutes sein. Bis heute habe ich für mich dieses Problem noch nicht gelöst. Der Tod hat in Šalamovs Werk jeden Schrecken verloren, weil das Leben viel schrecklicher ist. Diese eigentümliche Axiologie spiegelt sich auch in den Erzählungen aus Kolyma. Der Tod ist ein banales Ereignis, das nur noch nach seinen Umständen beurteilt wird. So reduziert ein Protagonist seine Ansprüche an das Leben auf ein Minimum an Menschenwürde bei seinem unausweichlichen Tod: Es gab einen geheimen, leidenschaftlichen Wunsch, eine letzte Sturheit – den Wunsch, irgendwo im Krankenhaus zu sterben, auf der Pritsche, im Bett, wenn andere Menschen es sehen, und sei es dienstlich, aber nicht draußen, nicht in der Kälte, nicht unter den Stiefeln des Konvois, nicht in der Baracke unter Schimpfen, im Schmutz und in der völligen Gleichgültigkeit aller. Ein Häftling, der am Abend ohne Vorankündigung zur Erschießung geführt wird, geht sehenden Auges in den Tod und bedauert nur, an diesem Tag noch Energie in den Überlebenskampf gesteckt zu haben: Dugaev tat es leid, daß er vergeblich gearbeitet hatte, sich vergeblich abgemüht hatte an diesem letzten, heutigen Tag. Aus dieser Perspektive erscheint der eigene Tod als letztes Druckmittel, über das der Häftling noch verfügt: Denkt nur, wie leicht er diejenigen, die ihn hierher geschleppt haben, ein Schnippchen schlagen kann, wenn er sofort stirbt – er unterschlägt bei ihnen zehn ganze Jahre. Šalamovs moralische Desillusionierung stellte sich indes erst nach seiner zweiten Haftzeit ein. Seine erste Lagerstrafe nahm er noch als Gelegenheit für eine moralische Selbsterforschung wahr. In seinem „Antiroman“ Višera berichtete Šalamov voller Stolz von dieser Zeit: Das Hauptgefühl nach zweieinhalb Jahren Lager und Arbeit in der Katorga war, daß ich in moralischer Hinsicht stärker als andere war. 1936 publizierte Šalamov in der Zeitschrift Oktjabr’ einen bemerkenswerten Text, der in seiner knappen und prägnanten Sprache auf die Erzählungen aus Kolyma vorausweist, aber noch über ein moralisches Pathos verfügt. Die drei Tode des Doktor Austino schildert die Geschichte eines Arztes, der in einem Gefängnis auf seine Erschießung wartet. Bei der grausamen Gattin des Gefängnisdirektors, die bei der Folterung der Gefangenen selbst Hand anlegte, haben vorzeitige Wehen eingesetzt; es wird dringend ein Arzt benötigt, um die Frau und ihr Baby zu retten. Der Arzt zögert, entschließt sich aber schließlich doch zur Hilfe. Nach dem medizinischen Einsatz kehrt er ins Gefängnis zurück und verbringt die Nacht vor seiner Hinrichtung hungrig, weil er bereits von der Liste der zu verteilenden Essensrationen gestrichen worden ist. Šalamov hat in dieser Erzählung selbstverständlich jeden Hinweis darauf getilgt, daß sich diese an Tragik und Zynismus kaum zu überbietende Begebenheit in der Sowjetunion abspielen könnte. Der Name des Arztes und die Tatsache, daß sich im Büro des Gefängnisdirektors eine Dantebüste befindet, dürfen als vorsichtige Signale dafür interpretiert werden, daß die Begebenheit im faschistischen Italien stattfindet. Gerade die Zurückhaltung bei der genauen Lokalisierung der Handlung zeigt aber, daß hier ein allgemeingültiges ethisches Problem verhandelt wird, das nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden ist. Bemerkenswert an dieser Erzählung ist ein moralischer Absolutismus, der sich später bei Šalamov überhaupt nicht mehr finden läßt. Der Arzt leistet seiner Peinigerin Hilfe, obwohl er sich im klaren darüber ist, daß er sich dadurch nicht selbst retten kann. Noch für die himmelschreienden Bedingungen eines tyrannischen Unrechtssystems bestätigt Šalamov in diesem frühen Text die absolute Notwendigkeit der Wahrung humaner Verhaltensgrundsätze. Diese durchaus utopische Haltung macht später einem moralischen Nihilismus Platz. Šalamov selbst bezeichnete in einem Brief aus dem Jahr 1971 seine frühen Erzählungen als „Lappalien“ (pustjaki). Die Kolyma-Erfahrung ist stärker als alle ethischen Prinzipien, die sich letztlich als Luxus der Freien erweisen. Šalamov ließ keinen Zweifel daran, daß er jeden Glauben an humanistische Ideale verloren hatte. In seinen Schlußfolgerungen ging er sehr weit: Die menschliche Moral ging nicht nur unter den extremen Bedingungen des Gulag zugrunde, sondern hatte überhaupt aufgehört zu existieren. Das Lager war für Šalamov nicht der Gegensatz zum „freien Leben“, sondern ein getreues Abbild. Der einzige Unterschied zwischen dem Lager und der übrigen Welt bestand für ihn darin, daß die menschliche Natur in der Gefangenschaft leichter erkennbar ist. Es gibt keine Fassaden des gesellschaftlichen Anstands mehr. Aufseher und Häftlinge teilen eine Schicksalsgemeinschaft, in der nur noch tierische Instinkte zählen. In einer Erzählung aus dem Jahr 1959 findet sich eine ernüchternde Aufzählung aller Verfehlungen, zu denen der Mensch fähig ist: Die moralischen Schranken sind irgendwo zur Seite gewichen. Es zeigt, sich daß man niederträchtig sein und doch leben kann. Man kann lügen – und leben. Man kann versprechen – und das Versprechen nicht halten und doch leben. Man kann das Geld der Freunde vertrinken. Man kann um Almosen flehen und leben! Betteln und leben! Es zeigt sich, daß ein Mensch, nachdem er eine Gemeinheit begangen hat, nicht stirbt. […] Er ist moralisch zerstört. Seine Vorstellungen über die Moral haben sich geändert, und er merkt es selbst nicht. Šalamov beschränkte sich in seinen Erzählungen aus Kolyma darauf, den ethischen Bankrott des Menschen zu konstatieren. Er verurteilte diese Depravierung nicht, er glaubte nicht, daß sie umkehrbar ist, er bot auch keinen Ausweg an. Damit stellte sich Šalamov in einen bewußten Gegensatz zum moralischen Pathos, mit dem sich in den 1960er Jahren Autoren wie Evgenij Evtušenko oder Aleksandr Solženicyn profiliert hatten. Evtušenko hatte die Stellung des Dichters radikal aufgewertet und behauptete, daß „ein Dichter in Rußland mehr als ein Dichter“ sei. Er gerierte sich als Sprachrohr des Volkes und vollzog eine Gratwanderung zwischen Dissidenz und Anpassung. Solženicyn sprach vom Schriftsteller als einer „zweiten Regierung“ und untermauerte diesen Anspruch durch sein mutiges Auftreten gegenüber der Sowjetführung. Auf unterschiedliche Weise forderten beide Autoren für sich die Position eines „Gewissens der Nation“. Evtušenko und Solženicyn konnten durchaus an romantische Dichterkonzeptionen (poeta vates) anknüpfen und trafen mit ihren moralischen Anklagen im In- und Ausland den Nerv der Zeit. Šalamovs prinzipieller Verzicht auf solch publikumswirksame Wortmeldungen reduzierte seine Chancen auf breite Aufmerksamkeit erheblich. Gegen die Höhenkammliteratur Ein weiterer Grund für Šalamovs Nichtrezeption mag in seiner eigenwilligen Revision des russischen Literaturkanons liegen. Šalamov teilte keineswegs die durchaus konservativen Geschmackspräferenzen der russischen Intelligencija. Er war ein begeisterter Fan von Arthur Conan Doyle. Darüber hinaus schätzte er vor allem Alexandre Dumas, Rudyard Kipling und Jack London. Gegenüber diesem Pantheon von Autoren, die gemeinhin der Trivialliteratur zugerechnet werden, wertete er die russischen Klassiker deutlich ab: Žukovskij, Puškin, Lermontov, Gogol’, Tolstoj, Dostoevskij – das ist alles Schullektüre, und darauf gibt es kein Embargo. Die schwierige Zugänglichkeit wird hier nachgerade zum Qualitätskriterium: Die Höhenkammliteratur des 19. Jahrhunderts ist allein durch die Tatsache diskreditiert, daß sie in jedem Schulbuch vorkommt. Wirklich wertvoll ist aus Šalamovs Sicht jene Literatur, über die ein „Embargo“ verhängt wurde. Das trifft in besonderem Maß für die von Šalamov so geschätzte englische und französische Unterhaltungsliteratur zu. Dazu kommen weltanschauliche Bedenken. Dostoevskijs und Tolstojs Romane erschienen Šalamov als Überbleibsel einer Welt, die sich noch mit der Frage Gottes beschäftigen konnte. Für ihn selbst aber waren alle literarischen Erörterungen der russischen Klassiker eitel: Den Glauben an Gott verlor ich vor langer Zeit, als ich sechs Jahre alt war. Deshalb haben mich später Kirillovs Hysterie und Ivan Karamazovs Qualen wenig berührt. Und überhaupt hingen mir die zahlreichen unnötigen und vor allem schlecht geschriebenen Gleichnisse Tolstojs zum Hals heraus. Gott war bereits tot für mich. Daß alle diese Probleme mit Dostoevskij galvanisiert waren, änderte nichts zum Besseren. Eine grundsätzliche Absage an die moralisierende Tradition der russischen Literatur findet sich in der Erzählung Galina Pavlovna Zybalova. Der Erzähler weigert sich, der Titelheldin bei der Entscheidung der Frage zu helfen, ob sie sich für ihren Mann oder ihren Liebhaber entscheiden soll: Das Unglück der russischen Literatur, Galina Pavlovna, liegt darin, daß sie sich in fremde Angelegenheiten einmischt, fremde Schicksale lenkt, sich zu Fragen äußert, von denen sie nichts versteht. Sie hat keinerlei Recht, ihre Nase in moralische Probleme zu stecken und zu urteilen, weil sie nichts weiß und auch nichts wissen will. In einem Brief aus dem Jahr 1968 unterstrich Šalamov die Wichtigkeit der veränderten Rezeptionsbedingungen der russischen Literatur: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt sich in der russischen Literatur der moralische, deskriptive Anti-Puškin-Roman, der vor unseren Augen gestorben ist. Keine Versuche können ihn vor dem Tod dieser Gattung retten. Es wird allerdings so lange keine literarischen Siege geben, bis das künstlerische Prinzip der Beschreibung verurteilt ist. Was kann ein Schriftsteller einen Menschen lehren, der den Krieg, die Revolution, das Konzentrationslager durchlebt hat und die Flamme der [Atombombenexplosion von] Alamogordo gesehen hat? Auch den Kanon des 20. Jahrhunderts ließ Šalamov nicht ohne weiteres gelten. Mit Bunin verband ihn zwar eine höchst kritische Sicht auf das russische Bauerntum, das bei beiden Autoren gerade nicht als Dostoevskijs „Gottesträgervolk“ auftrat. Gleichzeitig versuchte er aber auch, über Bunins ästhetisierende Poetik hinauszukommen: Was Bunin angeht: Auch wenn ein Kriegsgericht mich 1943 dafür verurteilt hat, daß ich Bunin einen russischen Klassiker genannt habe, so denke ich nicht, daß die russische Literatur mit Bunin aufgehört hat. In Šalamovs unvollendetem Stück Večernie besedy (Abendliche Gespräche) tritt Bunin in einer stalinistischen Militäruniform als Wächter im Butyrka-Gefängnis auf. Šalamov wirft Bunin in diesem Motiv vor, er habe Stalin seine Verbrechen wegen des Siegs über Hitlerdeutschland verziehen. Besonders negativ äußerte sich Šalamov über Esenin, der ihm als Dichteridol der Verbrecherwelt äußerst suspekt war. Šalamov hob den Mutterkult, die Apologie der Gewalt, das Fluchen, die Misogynie und das Heraustreten aus der Gesellschaft als Hauptmerkmale von Esenins Dichtung hervor. Mit seiner scharfen Kritik verstieß Šalamov natürlich gegen das positive Esenin-Bild der russischen Intelligencija, die in ihm einen jung verstorbenen Märtyrer sah. Auch von der ornamentalen Prosa der Avantgarde grenzte sich Šalamov radikal ab. In einem Brief aus dem Jahr 1971 erinnerte er sich, wie er aus Isaak Babel’s Erzählungen alles Überflüssige herausstrich: Ich nahm einmal einen Bleistift und strich aus Babel’s Erzählungen alle seine Schönheiten, seine Brände, die der Auferstehung gleichen, heraus, und schaute, was übrigbleibt. Von Babel’ blieb nicht viel übrig. In seinen Memoiren fand Šalamov noch schärfere Worte über Babel’: Ich kopierte und strich all diese „Feuersbrünste wie Sonntage“ und „Mädchen, die Schnürstiefeln glichen“ und alle übrigen Schönheiten heraus. Alles war in diesen Verzierungen, mehr nicht. […] Babel’ war der Liebling der Snobs. In den 1960er Jahren las Šalamov Bulgakov. Dabei stellte er sich gegen die allgemeine Wertschätzung und nahm den Roman Meister und Margarita vor allem als Kreuzung aus Sowjetsatire und historischer Religionskritik wahr: Michail Bulgakovs Meister und Margarita ist ein satirischer Roman von durchschnittlichem Niveau, eine Groteske mit Seitenblick auf Il’f und Petrov. Eine Promenadenmischung zwischen Renan oder Strauß und Il’f und Petrov. Bulgakov ist überhaupt kein Philosoph. Auch Boris Pasternak, mit dem Šalamov in den 1950er Jahren eine Freundschaft verband, erhielt für sein literarisches Schaffen kritische Bemerkungen. Zwar schrieb er noch 1969, Pasternak sei der „authentischste Dichter“ gewesen. Damit meinte Šalamov allerdings vor allem Pasternaks durch und durch literarisierte Existenz. Für Pasternak war die Literatur jenes Medium, in dem sich die Zukunft ankündigte. Besonders befremdend war für Šalamov Pasternaks Lebensphilosophie. In Doktor Živago heißt es etwa an einer Stelle: O, wie süß ist es zu existieren! Wie süß ist es auf der Welt zu leben und das Leben zu lieben! O, wie es einen immerzu danach verlangt, dem Leben selbst, der Existenz selbst, danke zu sagen, es ihnen ins Gesicht zu sagen. In Šalamovs Ohren mußte eine solche Hymne an das Leben wie barer Hohn klingen. Für ihn war ja nicht einmal klar, ob das Überleben an sich einen eigenen Wert darstellte. Auch die Form des Romans konnte aus Šalamovs Sicht der darzustellenden Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden: Doktor Živago ist der letzte russische Roman. Doktor Živago ist der Bankrott des klassischen Romans, der Bankrott von Tolstojs literarischem Vermächtnis. Doktor Živago wurde nach Tolstojs schriftstellerischen Rezepten verfaßt, aber es ist ein Roman-Monolog entstanden, ohne „Charaktere“ und die übrigen Attribute des Romans des 19. Jahrhunderts. Šalamov las Doktor Živago im Manuskript und kommentierte den Roman Anfang 1954 minutiös in einem langen Brief an den Autor. Vorsichtig meldete er auch hier seine Zweifel an der Möglichkeit eines Romans an. Er notierte anerkennend viele poetische Details, wies aber auch auf die Konstruiertheit der negativen Charaktere hin. Die intensive Korrespondenz brach allerdings bald ab, weil Šalamov in Pasternaks Geliebter Ol’ga Ivinskaja eine Gefahr für Pasternaks Poesie sah. Šalamovs Verhältnis zu Solženicyn war anfänglich von freundlicher Sympathie geprägt, schlug aber Mitte der 1960er Jahre in offene Verachtung um. Šalamov lehnte Solženicyns konservative Sprachexperimente ab und stellte sich auf die Position, daß die Lektüre des Wörterbuchs von Vladimir Dal’ für die Lagerprosa nichts bringen könne – es sei höchstens als „Doping“ zulässig. Berühmt geworden ist auch Šalamovs Kritik an Solženicyns Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič. Zwar anerkannte Šalamov die innovative Aussagekraft dieser Erzählung, er monierte aber etwa das Auftauchen einer Katze, die im Lager schon längst gegessen worden wäre, oder das Essen der Suppe mit Löffeln, wo doch die Häftlinge die dünne Suppe immer über den Tellerrand geschlürft hätten. Hinter diesen scheinbaren Details ortete Šalamov einen tiefgreifenden Verstoß gegen seine Poetik der Wahrhaftigkeit: Die literarische Darstellung des Gulag duldete aus seiner Sicht keinerlei Abweichung von der Realität. Ein vernichtendes Urteil über Solženicyn fällte Šalamov im Jahr 1971: Solženicyns Tätigkeit ist die Tätigkeit eines Geschäftemachers, die eng auf den persönlichen Erfolg ausgerichtet ist – mit allen provozierenden Accessoires einer solchen Tätigkeit. In einer Notiz ging Šalamov noch weiter und bezeichnete ihn als „Graphomanen“, der „nicht würdig sei, eine Frage wie Kolyma zu berühren“. Später hielt Šalamov in einem Brief abschließend fest: „Solženicyn kennt das Lager nicht und versteht es nicht.“ Šalamov verstieß mit seiner eigenwilligen Reformulierung des russischen Literaturkanons gegen eine Reihe von Tabus. Den Klassikern des 19. Jahrhunderts sprach er jegliche Aktualität ab; auch die russischen Nobelpreisträger erschienen ihm nicht als preiswürdig: Das Nobelpreiskomitee verstrickt sich in Rückzugsgefechte und verteidigt Bunins, Pasternaks, Šolochovs und Solženicyns Prosa. Diese vier Autoren bilden eine Einheit, und diese Einheit macht dem Nobelpreiskomitee keine Ehre. Von diesen vier Autoren scheint nur Pasternak den Preis verdientermaßen bekommen zu haben, aber auch ihm wurde der Preis verliehen für Doktor Živago und nicht für seine Gedichte. Doktor Živago ist der Versuch eines Modernisten, einen realistischen Roman zu verfassen. Indem Šalamov Bunin, Pasternak, Šolochov und Solženicyn in einen Topf warf, machte er sich bei allen Lesergruppen unbeliebt: Er konnte nicht mehr auf das Einverständnis der emigrierten Russen zählen, er stieß die Dissidenten im eigenen Land vor den Kopf und katapultierte sich schließlich auch aus dem offiziellen sowjetischen Literaturbetrieb. Selbstkritik 1972 veröffentlichte Šalamov in der Literaturnaja gazeta einen offenen Brief, in dem er die Veröffentlichung der Erzählungen aus Kolyma im Westen verurteilte. Dabei bediente er sich eines prekären stalinistischen Vokabulars: Die führenden Emigrationszeitschriften Posev und Novyj Žurnal bezeichnete er als „übelriechende Postillen“, die sich „schlangenhafter Praktiken“ bedienten. Darüber hinaus versicherte er der Partei und dem Volk seine uneingeschränkte Loyalität und bedauerte, daß er wegen seiner schwachen Gesundheit nicht an der „gesellschaftlichen Arbeit“ teilnehmen könne. Am empörendsten war allerdings Šalamovs Behauptung, die Problematik seiner Erzählungen aus Kolyma sei „schon lange nicht mehr aktuell“. Zu diesem Schritt hatte ihm der Chefredakteur der Zeitschrift Junost’ Boris Polevoj geraten. Polevoj (1908–1981) war als sozrealistischer Kriegsschriftsteller bekannt geworden und gehörte zu den hochdekorierten Literaturfunktionären der Brežnev-Ära. Der Philosoph Julij Šrejder berichtet in seinen Erinnerungen an Šalamov, daß der Brief an die Literaturnaja gazeta ohne Druck von außen zustande gekommen sei. Šalamov sei sogar stolz gewesen, daß der Brief publiziert wurde, und habe sich dadurch bessere Publikationschancen erhofft. In der Tat klagte Šalamov immer wieder über Hindernisse im offiziellen Literaturbetrieb. Im August 1963 schrieb er etwa an Solženicyn: Erinnern Sie sich daran, daß Sie bei unserem ersten Treffen in der Zeitschrift Novyj Mir davon gesprochen haben, es sei Zeit für einen guten Sammelband. Ein solcher Sammelband ist zur Zeit unmöglich. Alle Kolyma-Gedichte wurden auf Anordnung des Redakteurs herausgenommen. Alles übrige, mit Ausnahme von zwei, drei Gedichten, wurde geglättet und beschnitten. Es gibt eine private Aufzeichnung vom Februar 1972, in der Šalamov die Beweggründe für seinen Brief an die Literaturnaja gazeta erklärt. Darin schließt er explizit aus, daß man ihn zu diesem Schritt gezwungen habe. Šalamov hatte keine Angst vor Repressionen. Vor dem Hintergrund der Qualen im Lager verblaßten alle Strafmaßnahmen, die von der Sowjetregierung in jenen Jahren gegen unbotmäßige Schriftsteller verhängt wurden: Es ist lächerlich zu denken, daß man von mir irgendeine Unterschrift verlangen kann. Mit der Pistole auf der Brust. Meine Erklärung, ihre Sprache, ihr Stil gehören mir selbst. Ich weiß sehr gut, daß ich nicht mit irgendwelchen „Sanktionen“ belegt werde für irgendeine „Tätigkeit“, sei sie nun in Anführungszeichen oder nicht. Dafür gibt es hundert Gründe. Erstens bin ich ein kranker Mann. Zweitens verhält sich der Staat mit Achtung und Verständnis gegenüber einem Mann, der viele Jahre im Gefängnis gesessen hat, und gibt ihm Rabatt. Drittens ist meine Reputation auch wohlbekannt. Während zwanzig Jahren habe ich keine einzige Erklärung an den Staat unterschrieben oder geschrieben. Es lohnt sich nicht, sich mit mir – dazu noch mit meinen 65 Jahren – in Verbindung zu setzen. Viertens, und das ist das Wichtigste, bin ich für den Staat eine so kleine Größe, daß sich der Staat durch meine Probleme nicht ablenken läßt. Und das ist völlig vernünftig so, denn mit meinen Problemen werde ich selbst fertig. Warum wurde diese Erklärung gemacht? Ich habe genug von meiner Vereinnahmung für die „Menschheit“ und von der ununterbrochenen Spekulation mit meinem Namen: Man hält mich auf der Straße an, drückt mir die Hand und so weiter. Wenn es um die Zeitung Time gegangen wäre, hätte ich eine besondere Sprache gefunden. Aber für Posev gibt es keine andere Sprache als die Beschimpfung. Mein Brief ist so geschrieben und Posev verdient keine andere Sprache. Künstlerisch habe ich meine Antwort auf dieses Problem bereits in der 1957 geschriebenen Erzählung Neobraščennyj (Der Unbekehrte) gegeben. Man hat nichts gemerkt, das hat mich dazu veranlaßt, diese Probleme anders zu erklären. In der Tat findet sich die Erklärung für Šalamovs seltsames Verhalten in der genannten Erzählung. Der Ich-Erzähler darf ein Praktikum in der Krankenstation des Lagers absolvieren und sich satt essen. Die Ärztin gibt ihm zunächst einen Band mit Blok-Gedichten und später ein Neues Testament. Darüber hinaus verspricht sie ihm Literatur von „dort“, aus dem Ausland. Während ihn Blok unmittelbar anspricht, bleibt er gegenüber dem Evangelium gleichgültig. Darauf entläßt ihn die tiefgläubige Ärztin aus dem Krankendienst und schickt ihn zu den gewöhnlichen Lagerarbeiten zurück. Ebenso wie der „Unbekehrte“ sein eigenes Glück durch seine Ehrlichkeit verspielt – der „religiöse Ausweg“ erscheint ihm „allzu zufällig und allzu unirdisch“ –, kappte Šalamov bewußt die Fäden zum Erfolg im Ausland. Dieser „Ausweg“ erschien ihm ebenfalls zu einfach. Er wollte keinen billigen Applaus im Westen, sondern eine Publikation in Rußland. Letztlich bestand sein Ziel darin, durch seine Erzählungen die Lagererfahrung überhaupt in den Zustand der Sagbarkeit zu überführen. Dieses Ziel hatte aber nur in Rußland selbst einen Sinn. Die Erzählung Der Unbekehrte bietet noch eine zweite Sinndimension. Der eigentlichen Handlung geht ein kurzer Abschnitt voraus, in dem vom tragischen Schicksal eines entlassenen Lagerinsassen berichtet wird, der die Freiheit nicht aushält und Selbstmord begeht. Er hinterläßt eine Aufzeichnung mit den Worten „Die Dummköpfe lassen mich nicht leben“. Vor dem Hintergrund dieses Motivs kann Šalamovs offener Brief durchaus als symbolischer Selbstmord betrachtet werden. Durch diese Handlung entzog er sich allen Erwartungen, die vor allem von den sowjetischen Dissidenten auf ihn gerichtet wurden. Für weitere gesellschaftspolitische Aktivitäten, die sich gegen das Regime richteten, war er danach in der Tat „tot“. Šalamovs Brief darf nicht als isoliertes Ereignis betrachtet werden. Beide Seiten erhofften sich einen Gewinn: Sowohl die sowjetischen Literaturfunktionäre als auch Šalamov meinten, daß es eine politische Linie gebe, auf der sich der immer noch gültige „sozialistische Realismus“ mit der „neuen Prosa“ treffen könne. Eine solche Linie existierte freilich nicht. Es zeugt von der beinahe grenzenlosen Naivität beider Seiten, daß man dennoch dieser Illusion nachhing. Ein besonders groteskes Beispiel für dieses Mißverständnis bietet ein Poem, das gewissermaßen als Belohnung für die öffentliche Abbitte zwei Monate später in der Zeitschrift Junost’ erschien. Šalamov besingt hier in ebenso konformen wie kläglichen Versen den mit sowjetischer Hilfe erfolgten Bau des Assuanstaudamms: Auch wenn der Koran am Fuß des Assuan vergraben ist – Für die Welt ist Assuan wichtiger als der Koran. Wichtiger als die Pyramiden, wichtiger als der Tadj-Mahal sind der Beton, der Granit und das Leuchten seiner Glut. Hier ist das Licht der Zukunft, das Emblem der Freundschaft der Nationen, Hier ist der Nil selbst ein Dichter – ein Dichter der Meliorierung. […] Hier ist der Genius zweier Kulturen – der sowjetischen und arabischen, Hier ist die Kraft zweier Naturen in ihrer brüderlichen Anstrengung. Dieses Gedicht markiert sowohl den poetischen wie auch den moralischen Tiefpunkt von Šalamovs schöpferischer Biographie. Šalamov selbst behauptete nie, daß er immer standhaft geblieben sei. Auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, nicht zu zerbrechen, antwortete er: „Es gibt hier kein Geheimnis. Jeder kann zerbrechen.“ Gegenüber Boris Polevoj empfand Šalamov durchaus eine Art Minderwertigkeitskomplex. In einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1972 beklagte er seine Unfähigkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen: „Polevoj und ich sind gleich alt. Im Alter von 65 Jahren leitet er eine große Zeitschrift, und ich bin ein Invalide.“ Šalamov sah sein Lebensprojekt in Gefahr: Für die Publikation seiner Erzählungen aus Kolyma in Rußland war er sogar bereit, der Sowjetführung in die Hände zu spielen. Šalamovs politische Ansichten waren nicht selten naiv und möglicherweise auch durch historische Halbkenntnisse geprägt. So schrieb er etwa die Aufhebung der Leibeigenschaft fälschlicherweise dem reaktionären Zaren Nikolaj I. zu, lobte Chruščev für sein entschiedenes Vorgehen in der Kubakrise, oder bezeichnete Aleksandr Tvardovskij als „Stalinisten reinsten Wassers“. Varlam Šalamov war ein Rigorist, der an sich selbst genau dieselben strengen Maßstäbe anlegte wie an andere. Er wollte nicht, daß sein persönliches Schicksal für irgendwelche Zwecke vereinnahmt wurde. Seine Erzählungen aus Kolyma sollten nicht als Kampfinstrument in politischen Auseinandersetzungen dienen. Ebenso lehnte Šalamov es ab, sich einer der rivalisierenden literarischen Gruppen der russischen Literatur anzuschließen. Erst in jüngster Zeit wird Šalamovs Werk nicht mehr als politischer Protest gegen das stalinistische Lagersystem gelesen und in seinem radikalen künstlerischen Anspruch ernst genommen. Šalamovs Konzeption einer „neuen Prosa“ war seiner Zeit weit voraus. Deshalb sollte man die Erzählungen aus Kolyma heute nicht als Dokument einer vergangenen Epoche, sondern als literarische Bewältigung eines hochaktuellen Problems deuten: Šalamov versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wie das gleichzeitig Unsagbare und Unsägliche – der Kältetod der menschlichen Seele – trotzdem in Sprache überführt werden kann.

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