Titelbild Osteuropa 11/2008

Aus Osteuropa 11/2008

Neue Fronten nach dem Krieg
Russland, der Westen und die Zukunft im Südkaukasus

Egbert Jahn

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Abstract in English

Abstract

Der Krieg zwischen Georgien und Russland im August 2008 hat die Lage im Kaukasus drastisch verändert und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen belastet. Russlands militärischer Erfolg könnte sich als Pyrrhussieg erweisen. Georgiens Westorientierung dürfte endgültig sein. Durch die neue strategische Lage ist Armenien geopolitisch isoliert. Es muss sich außenpolitisch neu orientieren. Dies bringt Bewegung in den Konflikt um Bergkarabach. Sollte Georgien in die NATO aufgenommen werden und der Westen auf der territorialen Integrität Georgiens beharren, müsste von einer rechtswidrigen Präsenz russländischer Truppen auf NATO-Gebiet gesprochen werden. Eine Entschärfung der Lage ist nur dadurch zu erreichen, dass Russland die Unabhängigkeit des Kosovo und der Westen jene Südossetiens und Abchasiens anerkennen.

(Osteuropa 11/2008, S. 5–18)

Volltext

Der Krieg zwischen Georgien und Russland im August 2008 hat die Lage im Kaukasus drastisch verändert und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen belastet. Russlands militärischer Erfolg könnte sich als Pyrrhussieg erweisen. Georgiens Westorientierung dürfte endgültig sein. Durch die neue strategische Lage ist Armenien geopolitisch isoliert. Es muss sich außenpolitisch neu orientieren. Dies bringt Bewegung in den Konflikt um Bergkarabach. Sollte Georgien in die NATO aufgenommen werden und der Westen auf der territorialen Integrität Georgiens beharren, müsste von einer rechtswidrigen Präsenz russländischer Truppen auf NATO-Gebiet gesprochen werden. Eine Entschärfung der Lage ist nur dadurch zu erreichen, dass Russland die Unabhängigkeit des Kosovo und der Westen jene Südossetiens und Abchasiens anerkennen. Russland hatte schon lange vor der absehbaren Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch die meisten westlichen Staaten, die sogleich nach der förmlichen Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen Parlaments am 17. Februar 2008 erfolgte, davor gewarnt, dass es seinerseits mit einer Anerkennung Südossetiens und Abchasiens reagieren könne. Während die westliche Anerkennung der Separation Kosovos völkerrechtswidrig sei, sei hingegen eine Anerkennung Südossetiens und Abchasiens mit dem Völkerrecht vereinbar. Dennoch zögerte Russland in den folgenden Monaten, diesen Schritt zu gehen. Erst nach dem Angriff Georgiens auf Südossetien am 7. August ging Russland zum militärischen Gegenangriff über, erkannte die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an und ließ sich von ihnen zu einer stärkeren Truppenpräsenz in beiden Gebieten einladen, nachdem die EU einen Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien vermittelt hatte. Nun stellen sich fünf Fragen. Wollen die westlichen Staaten ein teilweise von russländischen Truppen besetztes Land in die NATO aufnehmen? Werden der Westen und Russland längerfristig bereit sein, wechselseitig die Unabhängigkeit „ihrer“ De-facto-Staaten Kosovo, Südossetien und Abchasien anzuerkennen? Werden beide Seiten willens sein zu verhindern, dass diese drei Anerkennungsakte zu Präzedenzfällen für die anderen De-facto-Staaten in Europa und in der Welt werden? Und welche Folgen hat die neue Lage für das nunmehr endgültig geopolitisch isolierte Armenien? Das Auftauen der „eingefrorenen Konflikte“ Eingefrorene Konflikte sind kriegsträchtig. (1) Das hat sich wieder einmal in dem Fünftagekrieg vom 7.–12. August dieses Jahres zwischen Georgien und Russland unter Beteiligung südossetischer und abchasischer bewaffneter Verbände gezeigt. Der Krieg hat den Konflikt nicht gelöst, aber die Konfliktlage drastisch verändert und eine neue Frontlinie zwischen dem Westen und Russland geschaffen. Der Westen hat politisch-moralisch eindeutiger als zuvor Partei für Georgien ergriffen und sich dessen Anspruch auf Wiederherstellung der territorialen Integrität zu eigen gemacht. Am 3. April in Bukarest hatte die NATO Georgien eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, es aber auf Betreiben Frankreichs und Deutschlands noch abgelehnt, Georgien und die Ukraine sogleich in den Aktionsplan zur Vorbereitung der Mitgliedschaft (MAP) aufzunehmen. Im Dezember dürften hierzu heftige Debatten im NATO-Rat anstehen. US-Außenministerin Condoleezza Rice plädiert nun für die Aufnahme Georgiens in die NATO, nach dem Vorbild des Umgangs mit der Bundesrepublik Deutschland, die seinerzeit trotz eines Gebietskonflikts – mit der DDR – in die NATO aufgenommen worden war. (2) Dieser Vergleich ist in zweifacher Hinsicht abwegig: Erstens hatte Bonn nicht zweimal vergeblich versucht, Pankow und Leipzig militärisch zu erobern. Zweitens streben die Abchasen und die Südosseten nicht nach einer Wiedervereinigung mit Tiflis wie die Ostberliner und Sachsen mit Bonn. Saakaschwili erklärte auf die Frage, ob die Südosseten und Abchasen nach diesem Krieg überhaupt noch etwas mit Georgien zu tun haben wollen, eindeutig: "Es geht nicht darum, ob sie zu uns zurückkommen, sondern darum, dass wir zu ihnen kommen; diese Gebiete gehören alle zu Georgien." (3) Russland hat nach dem Krieg die Unabhängigkeit der De-facto-Staaten Abchasien und Südossetien anerkannt und sogleich militärische Beistandspakte mit beiden Staaten abgeschlossen, die es ihm erlauben, mit je 3800 Mann und schweren Waffen militärisch stärker in den beiden Territorien präsent zu sein. Sollte Georgien in naher Zukunft in die NATO aufgenommen werden, ergäbe sich die brisante Situation, dass russländische Truppen nach westlicher Ansicht widerrechtlich auf NATO-Boden stationiert wären, die NATO wiederum nach Russlands Ansicht widerrechtlich zwei unabhängige, souveräne Staaten und Bündnispartner Russlands in ihrer Existenz bedrohen würde. Die NATO und Russland hätten damit nicht nur eine neue gemeinsame Grenze wie in der Beringstraße, in Nordnorwegen, mit Polen und den baltischen Staaten, sondern sie hätten dann einen offenen Streit um einige tausend qkm Gebiet. Georgien könnte dann versucht sein, die NATO in einen Krieg mit Russland zu verwickeln. Zu Recht meinte Der Spiegel: "Es ist die Zeit für eine geschickte Diplomatie, denn der Konflikt um das kleine Georgien kann 20 Jahre Annäherung zwischen Russland und dem Westen entwerten oder auslöschen." (4) Vor dem Fünftagekrieg war die Situation offener. Russland hatte im Prinzip noch die territoriale Integrität Georgiens anerkannt, obwohl es faktisch die Sezession Abchasiens und Südossetiens ermöglicht und abgesichert hatte. Die USA hatten zwar durch Ausbilder und Materiallieferungen die Modernisierung der georgischen Streitkräfte betrieben und die NATO-Mitgliedschaft Georgiens befürwortet, aber viele europäische Regierungen, vor allem die der größeren Länder, warnten wegen des absehbaren Konflikts mit Russland vor einer neuen NATO-Osterweiterung, die wegen der „eingefrorenen Konflikte“ in Georgien und auch wegen der unsicheren Lage im russländischen Nordkaukasus viel stärker russländische Sicherheitsinteressen beeinträchtigen würde als die früheren Osterweiterungen. Nach dem Fünftagekrieg und der Anerkennung der beiden De-facto-Staaten durch Russland als unabhängige Staaten, einem Schritt, dem sich bislang nur Nicaragua angeschlossen hat, während sich Russlands Bündnispartner in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit reserviert verhalten, haben sich die Kompromissmöglichkeiten drastisch verringert. Die Fronten zwischen den Konfliktparteien haben sich verfestigt. Georgien trat gleich nach dem Krieg, am 14. August, aus dem postsowjetischen Bündnis GUS aus. Es ist kaum noch vorstellbar, dass ein intaktes, ökonomisch und militärisch wieder erstarktes Russland seine Anerkennung Südossetiens und Abchasiens revidiert und seine Truppenpräsenz südlich des Kaukasuskammes beendet. Sollten die USA auch unter dem neuen Präsidenten Barack Obama nachdrücklich die Aufnahme Georgiens in die NATO betreiben, so dürfte der Widerstand Deutschlands, Frankreichs und anderer einflussreicher europäischer NATO-Mitglieder schwächer als zuvor sein, es sei denn, bei der Aufarbeitung des Krieges setzt sich jene Erkenntnis durch, die von der OSZE und westlichen Geheimdiensten bereits vertreten wurde, dass es nämlich der georgische Präsident Micheil Saakaschwili gewesen sei, der am 7. August um 22.30 Uhr den Krieg mit einem Bombardement und später einem Einmarsch in Südossetiens Hauptstadt Zchinwali vom Zaun gebrochen habe, und dass seine Behauptung, umfangreiche russländische Panzerverbände seien zuvor durch den Roki-Tunnel in Südossetien eingerückt, schlicht falsch gewesen sei. (5) Zu Beginn des Krieges, um 23 Uhr, ließ Saakaschwili vollmundig verkünden, die georgischen Truppen verfolgten das Ziel der „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Südossetien“. (6) Seit seinem Amtsantritt im Jahre 2004 hatte er wiederholt von einer militärischen Rückeroberung Abchasiens und Südossetiens gesprochen. Während des Krieges und in seiner Nachfolge verschlechterte sich das politische Klima zwischen dem Westen und Russland drastisch. In Öffentlichkeit und Politik war viel von einem neuen „Kalten Krieg“ die Rede.(7) Russland wurde erneut als imperialistischer, expansionistischer und kriegerisch aggressiver Staat dargestellt, der nun auch die Ukraine und die baltischen Länder bedrohe, in denen eine angebliche Drangsalierung großer russischer Minderheiten als Vorwand für eine Intervention dienen könnte. Russland zögerte nicht, mit harten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gegenmaßnahmen zu drohen, sollte der Westen die „Aggression und den Genozid Georgiens“ gegen seine russländischen Staatsangehörigen in Südossetien und Abchasien durch Sanktionen unterstützen. Bekanntlich hatten in den letzten Jahren über 90 Prozent der Abchasen und Südosseten die russländische Staatsangehörigkeit erhalten. Vornehmlich Politiker aus den neuen EU- und NATO-Mitgliedstaaten forderten die unverzügliche Aufnahme der Ukraine in die NATO, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung dies nicht begrüßen würde und viele ukrainische Politiker eher bemüht waren, Russland zu besänftigen. Die Kontroverse über eine Beurteilung der russländischen Intervention in Georgien trug sogar maßgeblich zum Platzen der Regierungskoalition zwischen den Parteien des Staatspräsidenten Viktor Juščenko und der Ministerpräsidentin Julija Tymošenko am 3. September bei und stürzte damit die ukrainische Demokratie erneut in eine Krise. Der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Senator John McCain ließ sich sogar zur Forderung hinreißen, die USA sollten Tschetschenien als unabhängigen Staat anerkennen, und Russland solle aus der Gruppe der führenden Wirtschaftsstaaten G 8 ausgeschlossen werden und keinen Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO erhalten. Mit dem Ausruf „Wir sind alle Georgier“ beschwor er einen Schulterschluss mit Georgien. Alle drei Seiten, Russland mit seinen neuen Verbündeten, Georgien und die westlichen Staaten, stellten nicht nur den Beginn und Verlauf des Krieges, sondern auch seine Vorgeschichte völlig gegensätzlich dar. Russland und Georgien bezeichneten sich gegenseitig als Aggressoren. Erst rund einen Monat später, als sich auch in Georgien oppositionelle Kritik an der Kriegspolitik des Präsidenten Saakaschwili bemerkbar machte, begannen manche westliche Politiker die Situation differenzierter zu betrachten. Der Kern des Abchasien- und des Südossetienkonflikts ist nach wie vor die Frage, ob die territoriale Integrität des international anerkannten Staates Georgien oder das Selbstbestimmungsrecht des abchasischen und des südossetischen Volkes Vorrang haben soll. (8) Nur noch einmal zur Erinnerung: Abchasien hat eine Fläche von 8700 qkm und ca. 230 000 Einwohner, Südossetien 3900 qkm und ca. 70 000 Einwohner. Südossetien strebt eine Vereinigung mit Nordossetien und damit mit Russland an, denn Nordossetien ist eines der nationalen Föderationssubjekte Russlands. Südossetien ist mit Nordossetien aber nur durch schwer überwindbare Pässe des hohen Kaukasusgebirges sowie durch den Roki-Tunnel verbunden. Abchasien strebt eher nach dauerhafter Unabhängigkeit, auch wenn es völlig von Russland abhängig ist und fast alle seine Bürger wie die Südosseten auch die russländische Staatsangehörigkeit besitzen. Abchasien hat eine lange Küste am Schwarzen Meer, die früher ein beliebtes Touristengebiet war, besitzt also eher als Südossetien Voraussetzungen für eine dauerhafte Unabhängigkeit. In Abchasien leben nach der Vertreibung und Flucht der meisten Georgier außer den Abchasen auch noch viele Armenier, Griechen, Russen und andere ethnische Gruppen, die sich im Unabhängigkeitskrieg 1992–1994 mit den Abchasen gegen die Georgier verbündet hatten. Nach dem Waffenstillstand vom 14. Mai 1994 wurde eine aus 1500 russländischen Soldaten bestehende Friedenstruppe der GUS in Abchasien stationiert. Der Waffenstillstand wurde außerdem von 121 Personen der United Nations Observer Mission in Georgia (UNOMIG) überwacht. Im Juli 2006 eroberten georgische Truppen das obere Kodori-Tal und installierten in dem Ort Čchalta eine eigene Regierung für Abchasien. Demgegenüber wurden in Südossetien nach dem Waffenstillstand vom 24. Juni 1992 eine Friedenstruppe aus Russen, Georgiern, Süd- und Nordosseten und eine Gemeinsame Kontrollkommission gebildet, was faktisch zur Entstehung georgisch kontrollierter Enklaven in einem Land führte, das großteils von Russland und der von ihm gestützten südossetischen Regierung unter Eduard Kokoity beherrscht wurde. Der Waffenstillstand wurde zusätzlich von der OSZE durch lediglich sechs Mann überwacht. Die Georgier bildeten im Mai 2007 in dem Dorf Kurta eine eigene südossetische Regierung unter Dmitrij Sanakoev. An beiden Grenzen der De-facto-Staaten kam es wiederholt zu Schießereien, die mehrere Menschenleben kosteten. Seit im vorigen Jahr absehbar wurde, dass der Westen eine Unabhängigkeitserklärung Kosovos anerkennen würde, veränderte sich die Konfliktsituation in Georgien in mehreren Schritten und bereitete einen neuen Krieg vor. Territoriale Integrität oder Status quo nach dem Waffenstillstand 1992 Noch am 15. April 2008 bekräftigte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Stimme Russlands in seiner Resolution 1808 „das Bekenntnis aller Mitgliedstaaten zur Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit Georgiens innerhalb seiner international anerkannten Grenzen“ und seine Absicht, eine Regelung des georgisch-abchasischen Konflikts „mit ausschließlich friedlichen Mitteln und im Rahmen der Resolutionen des Sicherheitsrates“ zu fördern. (9) Russland änderte seine Haltung erst, nachdem Georgien Südossetiens Hauptstadt bombardiert und dabei viele Zivilisten und auch russländische Soldaten der Friedenstruppe getötet hatte. Russland sprach nun von einem georgischen Genozid an seinen Staatsangehörigen in Südossetien, dem gleich zu Beginn 2000 Menschen zum Opfer gefallen seien. Zehntausende Südosseten seien in wenigen Stunden nach Russland geflüchtet. Zur Unterbindung des Völkermords und der Aggression seien anschließend russländische Truppen in voller Übereinstimmung mit Artikel 51 der VN-Charta nach Südossetien und weiter nach Kerngeorgien in die Städte Gori, Poti und in den georgischen Truppenstandort Senaki vorgerückt. Russland habe damit seine Bürger vor weiterem Völkermord geschützt und eine Pufferzone jenseits der Grenzen Südossetiens und Abchasiens eingerichtet. Erst Wochen nach Kriegsende korrigierten Moskauer Ermittler die Zahl der Toten auf 134. (10) Auf Vermittlung der EU wurde dann am 12. August ein neuer Waffenstillstand vereinbart. Vorher vertrieben unter dem Schutz russländischer Truppen südossetische Bewaffnete die noch in einigen südossetischen Dörfern lebenden Georgier und brachten viele von ihnen um. Außerdem besetzten abchasische Truppen am 12. August das obere Kodori-Tal, aus dem die georgischen Truppen und Zivilisten nach Kämpfen an der abchasisch-georgischen Grenze geflüchtet waren. Russland erklärte sich bereit, seine Truppen bis zum Oktober aus der Pufferzone abzuziehen, sofern eine Beobachtergruppe der EU dafür sorge, dass Georgien dort keinen neuen überraschenden Angriffskrieg gegen Südossetien oder Abchasien vorbereite. Am 26. August schließlich sprach der russländische Präsident Dmitrij Medvedev nach Beschlüssen der Duma und des Föderationsrats die Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden Kleinstaaten mit der Begründung aus, dass der Überfall der georgischen Führung auf Zchinwali, die Hauptstadt Südossetiens, „Hunderten friedlichen Mitbürgern den Tod gebracht“ und Abchasien das gleiche Schicksal gedroht habe, nämlich ein Völkermord wie in Südossetien. "In Anbetracht der freien Willensäußerung des ossetischen und des abchasischen Volkes, nach Bestimmungen der UNO-Charta und der Deklaration über die Prinzipien des internationalen Rechts von 1970 sowie der Helsinki-Schlussakte von 1975 und anderen grundlegenden internationalen Dokumenten" habe Russland nun die Unabhängigkeit der beiden Staaten anerkannt. (11) Schon am 17. September schloss Russland Verträge über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand mit diesen Staaten ab, die kurz darauf von der Staatsduma ratifiziert wurden. Trotz der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens beharrt Russland weiterhin darauf, dass die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch mittlerweile 51 Staaten völkerrechtswidrig sei. Offenbar um den Westen nicht zusätzlich zu brüskieren, stimmte Russland am 9. Oktober einer Verlängerung des Mandats von UNOMIG bis zum 15. Februar 2009 zu und erklärte auch die OSZE-Mission der sechs Beobachter in Südossetien nicht für beendet. Aus der Sicht Georgiens hatte Russland schon seit Monaten die Annexion Südossetiens und Georgiens vorbereitet, nachdem es schon in den Jahren zuvor widerrechtlich den meisten Südosseten und Abchasen die russländische Staatsangehörigkeit verliehen habe. Nach dem Bukarester Beschluss über die zukünftige Aufnahme Georgiens in die NATO hatte Russland das Wirtschaftsembargo gegen Abchasien und Südossetien aufgehoben und im Mai Soldaten zur Instandsetzung der Eisenbahnlinie an der Küste, die früher Russland mit Georgien verbunden hatte, nach Abchasien entsandt. Russland versicherte, dass diese Soldaten unbewaffnet gewesen seien, so dass es sich um keine Verletzung des Waffenstillstandsabkommens gehandelt habe. Schließlich führte Russland nördlich des Kaukasuskammes umfangreiche Militärmanöver durch. Gleichzeitig fanden in Georgien ebenfalls große Manöver unter Beteiligung von 1000 US-amerikanischen Soldaten statt. Beide Seiten bereiteten sich offenbar seit April auf einen Krieg vor. Nach georgischer Darstellung drangen am 7. August unter Verletzung des Waffenstillstandsabkommens von 1992 umfangreiche, schwer bewaffnete Truppenverbände durch den Roki-Tunnel nach Südossetien, also in Georgien ein – also sei Russland der Aggressor. Nach Darstellung der OSZE erfolgte der russländische Truppeneinmarsch erst viele Stunden nach dem georgischen Angriff auf Zchinwali. Viele westliche Regierungen schlossen sich der georgischen Auffassung an, dass Russland der Aggressor gewesen sei. Andere drückten sich vorsichtiger aus und erklärten, Russland habe eine Provokation begangen. Die tatsächlichen Vorgänge sind viel komplexer und müssen in einem größeren politischen Zusammenhang gesehen werden. Präzedenzfall Kosovo und schleichende Annexion Südossetiens Während der Auflösung der Sowjetunion hatten die autonomen Territorien Abchasien und Südossetien mehr Selbständigkeit verlangt. Georgien beseitigte die Autonomie mit Waffengewalt und versuchte, einen ethnonationalen Einheitsstaat herzustellen. Das wiederum provozierte die Unabhängigkeitsbestrebungen Abchasiens und Südossetiens. Russland unterstützte diese militärisch effektiv, aber politisch zurückhaltend, indem es weiterhin die territoriale Integrität Georgiens betonte. Moskau schuf sich damit ein Instrument des permanenten Druckes auf Georgien. Tatsächlich gelang es 1993, in der Regierungszeit Eduard Schewardnadses, Georgien auf diese Weise zur Mitgliedschaft in der GUS und zum Wohlverhalten gegenüber Russland zu drängen, was auch die Präsenz russländischer Truppen in Georgien beinhaltete. Die georgische Rosenrevolution im Oktober 2003 unter der Führung Micheil Saakaschwilis und mit starker Unterstützung aus den USA brachte das prekäre Gleichgewicht zwischen faktischer wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher (Verleihung der russländischen Staatsangehörigkeit) Integration Südossetiens und Abchasiens in die russländische Machtsphäre einerseits und Anerkennung der territorialen Integrität Georgiens anderseits ins Wanken. Der innenpolitische Umsturz hatte nicht nur eine demokratische und wirtschaftspolitische Seite, sondern auch eine nationalpolitische. Saakaschwili betonte oft, dass er die Einheit Georgiens wiederherstellen wolle, notfalls auch mit militärischer Gewalt. Die Beseitigung der Autonomie Adschariens im Mai 2004 zeigte seine Entschlossenheit. Die Einladung zahlreicher US-amerika¬nischer Berater zur Modernisierung der georgischen Streitkräfte und die offene Bewerbung um eine Mitgliedschaft in der NATO machten deutlich, dass die russländische Erpressung Georgiens nicht mehr funktionierte und Russlands Einfluss in Georgien endgültig verloren zu gehen drohte. Dies bestärkte Russland in seinem Vorhaben, wenigstens seine minimale Machtposition südlich des Kaukasuskammes in Südossetien und Abchasien zu erhalten und auszubauen. Die US-amerikanische Bereitschaft, die NATO-Grenze an die schwache Südflanke Russlands im Kaukasus vorzuschieben und gleichzeitig das Prinzip der Nichtanerkennung separatistischer Bewegungen wie der der Kosovo-Albaner aufzugeben, wenn es der Machtausweitung der USA und des Westens dienlich schien, setzten offenbar einen Kurswechsel in Moskau in Gang. Insbesondere die USA schienen zu einer wechselseitigen Anerkennung herkömmlicher Macht- und Einflusssphären nicht bereit und förderten das Bestreben von GUS-Staaten, dem westlichen Militärbündnis beizutreten. Präsident Putin warnte 2007 mehrmals, eine Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos könne eine Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zur Folge haben. Dennoch hielt sich Russland auch nach diesem Schritt des Westens im Februar mit einer postwendenden Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens, Südossetiens und Transnistriens zurück, sei es, weil es die relative Isolation des westlichen Alleinganges in den Vereinten Nationen und die Gemeinsamkeit in dieser Frage mit China, Indien und vielen anderen Staaten ausnutzen wollte, sei es im Wissen, dass Russland viel weniger Zustimmung zu seinem eigenen Vorgehen im Kaukasus mobilisieren konnte als der Westen bei seinem Vorgehen im Kosovo. Schließlich ist die Angst vor einer Präzedenzfall-Wirkung der Anerkennung Kosovos für Taiwan, Tibet und Sinkiang, für Kaschmir, für das Baskenland und Katalonien und Dutzende anderer separationswilliger Gebiete weit verbreitet. Nicht zuletzt musste eine Anerkennung der südkaukasischen Separatisten die politisch-moralische, wenn auch nicht die militärische Position gegenüber den Separatisten in Russland selbst schwächen. Dennoch betrieb Russland im Frühjahr und Sommer die weitere faktische Integration Abchasiens und Südossetiens in die russländische Machtsphäre durch die Aufhebung des Embargos gegen die beiden De-facto-Staaten und den Ausbau der Eisenbahnlinie. Ob es Georgien durch die Militärmanöver im Nordkaukasus zu einer Aggression gegen die beiden De-facto-Staaten provozieren wollte, um einen besseren Vorwand für die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zu erhalten, ist bis heute ungeklärt. Umgekehrt musste Georgien befürchten, dass Russland eine schleichende Einverleibung der separierten Gebiete eines Tages durch deren Anerkennung abschließen werde. Es zog Truppen an den Grenzen zu Abchasien und Südossetien zusammen und schickte mehrmals in Israel gebaute Drohnen, also unbemannte Aufklärungsflugzeuge, in den Luftraum über Abchasien, wo mindestens drei, nach abchasischen Angaben sieben von ihnen abgeschossen wurden, offenbar durch russländische Kampfflugzeuge. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen erklärte beides, die Entsendung der Drohnen durch Georgien und deren Abschuss, für Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen und gegen VN-Resolutionen. (12) Die Spannungen im Frühjahr verstärkten sich zusätzlich durch bewaffnete Zwischenfälle in den De-facto-Staaten und an ihren Grenzen. Es spricht viel dafür, dass Georgien hoffte, in einem Blitzkrieg wie seinerseits Kroatien in der Krajina erst das schwächere Südossetien und dann das stärkere Abchasien zu überrumpeln und Russland vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das konnte es zweifellos nicht ohne stillschweigende Rückendeckung der USA tun. Zwar erklärte Außenministerin Condoleezza Rice nach dem Krieg, sie hätte Saakaschwili von einem Krieg abgeraten (13), aber der ungewöhnlich einflussreiche Vizepräsident Richard Cheney und Präsidentschaftskandidat John McCain unterhielten durch ihre Berater Joseph R. Wood und Randy Scheunemann enge Kontakte zu Saakaschwili. Unvorstellbar ist auch, dass die vielen US-Militärberater nichts von den Kriegsvorbereitungen bemerkten. Zweifellos gab der Krieg in Georgien McCain die Gelegenheit, die sicherheits- und außenpolitische Kompetenz seines Wettbewerbers Barack Obama nochmals zu bestreiten und ihm eine zu sanfte Haltung gegenüber den Feinden der Freiheit und der USA vorzuwerfen. Zeitweise verschaffte der Georgienkrieg McCain tatsächlich drei bis vier Prozentpunkte in der öffentlichen Meinung. (14) Ob Saakaschwili umgekehrt die verbleibende Amtszeit George W. Bushs und Cheneys und den Wahlkampf in den USA nutzen wollte, um entweder einen raschen militärischen Erfolg oder zumindest eine Situation herbeizuführen, in der Georgien als Opfer der imperialen Aggression und Expansion Russlands erscheinen musste, um Georgien den Weg in die NATO zu bahnen, muss vorerst ebenfalls Gegenstand von Spekulationen bleiben. Unklar bleibt auch, ob Saakaschwili wirklich annimmt, eine Mitgliedschaft Georgiens in der NATO verschaffe größere Chancen, Druck auf Russland zur Räumung Südossetiens und Abchasiens auszuüben. Realistischerweise ist eine NATO-Mitgliedschaft nur mit einem endgültigen Verlust Abchasiens und Südossetiens für Georgien verknüpft, denn die USA und die gesamte NATO können keinerlei Interesse daran haben, sich durch Georgien in eine militärische Konfrontation oder gar einen Krieg um Südossetien und Abchasien ziehen zu lassen. Die abenteuerliche und zugleich militärisch dilettantische Politik Saakaschwilis bleibt rätselhaft. Sein Vorgänger Eduard Schewardnadse kritisierte seinen Amtsnachfolger sarkastisch: "Er hätte nie einmarschieren dürfen, und wenn, hätte er es wenigstens richtig machen und den Roki-Tunnel, durch den die Russen kamen, vorher sprengen müssen – ein schwerer Fehler." (15) Doch selbst das hätte keineswegs mit Sicherheit geholfen, um das rasche Vordringen russländischer Truppen vom Westen Georgiens her zur Befreiung Südossetiens von georgischen Truppen zu verhindern. Ein Alleingang Saakaschwilis ohne Rückendeckung von wesentlichen Teilen der US-Regierung scheint unwahrscheinlich. Sonst hätten die USA nicht im August uneingeschränkt Partei für Georgien ergriffen. Unterschätzten die Regierungen Georgiens und der USA fahrlässig die militärische Fähigkeit und politische Entschlossenheit Russlands, seine Positionen in der Konfliktregion zu verteidigen und, begünstigt durch den georgischen Angriff vom 7. August, auszubauen? Oder kalkulierten sie die militärische Niederlage Georgiens ein, um Russland zur Expansion zu provozieren, wohl wissend, dass dessen Kriegführung wie in Tschetschenien mit Greueltaten an der Zivilbevölkerung verknüpft sein würde? Sollte dadurch der politisch-moralische Druck auf die zögerlichen europäischen Staaten erhöht werden, Georgien und dann auch die Ukraine in die NATO aufzunehmen? Letzteres mit dem Argument, dass nach der „Annexion“ Südossetiens und Abchasiens die der Krim folgen könnte. Nach dem Krieg wurde klar, dass Russland die Zahl der Opfer des georgischen Angriffs auf Südossetien maßlos übertrieben hatte. Russlands Truppen ließen sich selbst Gewalttaten an der georgischen Zivilbevölkerung zuschulden kommen und duldeten, dass südossetische Milizen in ihrem Rücken grausame Gewaltakte an Georgiern verübten und die übrigen aus dem Land vertrieben. Russland gestattete nicht, den militärisch-politischen Status quo ante wiederherzustellen. Vielmehr beseitigte es die vorher noch vorhandenen georgischen Machtpositionen in Abchasien und Südossetien. Die beiden De-facto-Staaten lassen auch mit russländischer Unterstützung keinen Zugang der EU-Beobachtergruppe auf ihr Territorium zu. In den Ausführungsbestimmungen zum Sechs-Punkte-Plan vom 8. September gab die EU nach russländischer Auffassung eine Sicherheitsgarantie gegen eine neuerliche Anwendung von Gewalt gegen Abchasien und Südossetien ab. (16) Ost-West-Konfrontation oder Frontbegradigung Waren vor dem August 2008 noch Kompromisse im Konflikt zwischen Georgien einerseits und Abchasien, Südossetien sowie auch Russland denkbar, hat sich die internationale Situation im Kaukasus durch den Krieg drastisch verändert. Russland kann und wird nicht mehr von der Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden Kleinstaaten abrücken und seine militärischen Sicherheitsgarantien zurücknehmen. Der Westen beharrt weiterhin auf der territorialen Integrität Georgiens. Allerdings müsste allen Vertretern dieser Position klar sein, dass eine gewaltsame Wiedervereinigung Georgiens, sollte Russland zu schwach werden, Abchasien und Südossetien zu verteidigen, nur um den Preis des Völkermords und der Vertreibung der Abchasen und Südosseten aus ihren Siedlungsgebieten möglich wäre. Würde Georgien ohne eine Regelung des Streits um die beiden De-facto-Staaten in die NATO aufgenommen werden, so würde ein höchst gefährlicher Dauerkonflikt mit Russland institutionalisiert. Gleichzeitig würde dieser Konflikt innerhalb der NATO-Strukturen ausgetragen: zwischen denjenigen Staaten und politischen Kräften, die Russlands Machtsphäre einschränken wollen, und denjenigen Staaten und politischen Kräften, welche die Kooperation mit Russland für unerlässlich halten, um eine stabile europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu schaffen. Unvermeidlich würde auch die Konsensbildung bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU sowie die Ausgestaltung der Europäischen Nachbarschaftspolitik wahrscheinlich nicht nur erschwert, sondern grundsätzlich torpediert, es sei denn, Deutschland, Frankreich und andere EU-Staaten gäben ihre bisherigen sicherheits- und energiepolitischen Vorstellungen für die Europäische Union gänzlich auf und ließen sich auf eine harsche Konfrontationspolitik mit Russland ein. Nach der wechselseitigen Droh- und Konfrontationsrhetorik der ersten Wochen hat sich die Lage im November 2008 beruhigt. Die EU hat eine relativ große Beobachtergruppe von 225 Personen nach Georgien entsandt. Diese hat ein Mandat für Gesamtgeorgien; gleichzeitig hat die EU aber hingenommen, dass die Beobachter keinen Zutritt in Südossetien und Abchasien erhalten. Russland hat seinerseits bisher nicht an den Mandaten von UNOMIG beiderseits der abchasisch-kerngeorgischen und der OSZE beiderseits der südossetisch-kerngeorgischen Grenze gerüttelt. Alle Konfliktparteien in der Region scheinen auf den neuen US-Präsidenten und auf eventuelle Kurskorrekturen in der US-amerikanischen Kaukasuspolitik zu warten. Zwar ist die Kritik an der abenteuerlichen Russland- und Kriegspolitik des Präsidenten Saakaschwili in Georgien gewachsen, aber ein Macht- und Kurswechsel scheint dort nicht anzustehen. Zur Konfrontations- und zur Stillhaltepolitik aufgrund des neuen politisch-militäri¬schen Status quo gibt es eine Alternative: eine einvernehmliche Frontbegradigung zwischen Georgien und Russland, die die Möglichkeit eröffnet, die gesamte Kaukasus-Region zu befrieden und dort auch eine Konfliktlösung für den dritten, in vieler Hinsicht den gefährlichsten der drei „eingefrorenen Konflikte“ zu suchen. Der Konflikt um Bergkarabach, das zwar mit 4400 qkm und mit ehemals 190 000 Einwohnern (1991) kleiner als Abchasien ist, ist höchst brisant. Die Konfliktparteien Armenien und Karabach auf der einen und Aserbaidschan auf der anderen Seite sind militärisch etwa gleich stark. Ein neuerlicher Krieg wäre ein anderer als der zwischen Georgien und Russland, der durch asymmetrische militärische Machtverhältnisse bestimmt war. Er wäre mit größter Wahrscheinlichkeit langwierig und verlustreich und würde bald von beiden Seiten mit barbarischen Mitteln geführt werden. Zudem würde lange unklar bleiben, ob und wie Russland sich für eine Verteidigung Bergkarabachs und Armeniens im Falle eines kriegerischen Versuchs Aserbaidschans, seine territoriale Integrität wiederherzustellen, engagieren würde. Auffallend ist, dass sich alle Parteien im Bergkarabach-Konflikt während des Augustkrieges in Wort und Tat klug zurückhielten. Nach der westlichen Anerkennung Kosovos drohte Russland nie mit der Anerkennung Bergkarabachs, nur mit der von Abchasien und Südossetien. Moskau sieht offenbar auch heute keinen Grund, die drei Fälle der Anerkennung von De-facto-Staaten als Präzedenzfälle für Bergkarabach oder Transnistrien zu werten. Aserbaidschan honorierte Russlands Zurückhaltung in diesem Streitfall, indem es Russlands Vorgehen in Georgien nicht kritisierte und sich nicht wie die Ukraine offen mit Tiflis solidarisierte. (17) Umgekehrt sah auch Armenien in den drei einseitigen Anerkennungen von De-facto-Staaten keinen Anlass, ebenfalls einseitig Bergkarabach anzuerkennen, wohl wissend, dass es damit einen Krieg mit Aserbaidschan und erheblichen Widerstand von Seiten der Türkei, der USA und der EU riskieren würde. (18) Seltsamerweise wird in den Medien nicht registriert, dass sich die geopolitische Lage Armeniens durch den Augustkrieg drastisch verändert hat. Russland hat keinen direkten Zugang zu Armenien mehr, der nicht durch Aserbaidschan oder Georgien unterbunden werden könnte. Hilfslieferungen ziviler wie militärischer Art von Russland an Armenien müssten im Spannungs- oder Kriegsfall über den Iran erfolgen. Es ist deswegen offenbar kein Zufall, dass Armenien und die Türkei auf der politisch-symbolischen Ebene Kooperationsbereitschaft demonstrierten, indem erstmals ein türkischer Staatspräsident Armenien besuchte. Präsident Abdullah Gül nutzte ein Qualifikationsspiel zur Fußball-WM zu einer Visite in Jerewan. Betrachtet man die strategische Gesamtsituation im Südkaukasus, so muss Russland als der eigentliche Verlierer des Augustkrieges angesehen werden. Es hat zwar seine Machtposition in Abchasien und Südossetien ausgebaut, aber damit jedes Druckmittel auf Georgien verloren, dessen Westorientierung endgültig ist. Auch eine georgische Regierung nach Saakaschwili kann zwar kooperative Elemente einer neuen Russlandpolitik entwickeln, aber nur auf der Basis einer grundsätzlichen formellen oder auch vorerst nur wenig formellen Einbindung Georgiens in den Westen. Dadurch ist Armenien geopolitisch isoliert und hat längerfristig keine andere Wahl mehr, als die Bindungen an Russland zu lockern und ein Einvernehmen mit dem Westen, der Türkei und in irgendeiner Form auch mit Aserbaidschan anzustreben. Damit ist ein stärkeres Konfliktmanagement der EU und der USA im Bergkarabach-Konflikt gefordert, das sowohl die wichtigsten fundamentalen und unverzichtbaren Interessen Armeniens als auch Aserbaidschans berücksichtigt. Ein bloßes Abwarten und Hoffen auf ewigen Winter im „eingefrorenen“ Bergkarabach-Konflikt wäre nicht nur für die unmittelbaren Konfliktparteien, sondern auch für die EU und die USA fatal. Wechselseitige Anerkennung der einseitigen Anerkennungen Welche Konfliktregulierung ist nunmehr in Georgien für die Kaukasus-Region sowie für die angespannten Russland-NATO-Beziehungen denkbar, vorausgesetzt, die Konfliktparteien spekulieren nicht auf einseitige Gewinne in begrenzter Konfrontation mit gelegentlichen Kleinkriegen wie dem Augustkrieg, ferner vorausgesetzt, die Konfliktparteien lassen sich nicht zum Nichtstun und Abwarten verführen, weil der Status quo nicht änderbar sei. Seit 1999 hatte der Westen an der Fiktion festgehalten, dass ein demokratisches Kosovo in ein demokratisches Serbien reintegrierbar sei, bis er diese Fiktion Ende 2007 aufgab und bald danach die Anerkennung des unabhängigen Staates Kosovo vollzog. Bislang haben sich nur oder auch immerhin 51 von 192 Staaten zu diesem Schritt entschlossen, Russland aber nicht. Russland war bislang die einzige Hoffnung Serbiens, die Unabhängigkeit Kosovos noch vereiteln zu können. Die Volksrepublik China kann in dieser Sache kaum ein Rückhalt sein, auch wenn sie vermutlich noch lange die Aufnahme des Kosovo in die Vereinten Nationen verhindern wird, zumindest solange Kosovo nicht von Serbien anerkannt worden ist. Abchasien und Südossetien wurden bisher nur von Russland und Nicaragua anerkannt; vermutlich werden vorerst nur wenige andere Staaten diesem Beispiel folgen. Die lange Nichtanerkennung von Staaten, die sich von anderen Staaten abspalteten, hat Tradition. Aber meist folgte dann irgendwann doch die Anerkennung, falls nicht noch eine kriegerische Wiedervereinigung stattfand. Eine friedliche Wiedervereinigung war bisher wohl nur noch bei gespaltenen Staaten einer Ethnonation möglich, nicht aber von getrennten Nationalstaaten. Eine Wiedervereinigung Zyperns in der Form einer binationalen Föderation wäre offenbar ein Novum in der bisherigen Geschichte, ist aber wohl auch nur unter dem Schirm einer gemeinsamen EU-Mitgliedschaft möglich. Das Beharren auf territorialer Integrität Serbiens und Georgiens trotz effektiver Abspaltung und De-facto-Staatlichkeit Kosovos, Abchasiens und Südossetiens mag sich auf starke völkerrechtliche Argumente stützen, ist aber politisch und faktisch ein Programm für fürchterlichen ethnonationalen Krieg und Völkermord. Das spricht dafür, in diesen Fällen nicht die Politik der vorherrschenden völkerrechtlichen Situation anzupassen, sondern umgekehrt die notwendigen völkerrechtlichen Akte zur Anerkennung der faktischen politischen Separation zu vollziehen. Es ist völlig unrealistisch, dass dies heute oder morgen geschieht. Aber das Übermorgen muss schon heute vorbereitet werden. Russland und die NATO sollten sich darauf einstellen, dass sie eines Tages ihre einseitigen Anerkennungen Kosovos, Abchasiens und Südossetiens durch wechselseitige Anerkennungen ablösen, was nur möglich ist, wenn der Westen sowohl Serbien als auch Georgien die Anerkennung der drei De-facto-Staaten attraktiv macht, z.B. durch ökonomische Vergünstigungen und die Aufnahme in die EU und NATO. Russland könnte eine Frontbegradigung im Kaukasus, also die Aufnahme von Kerngeorgien in die NATO und längerfristig auch in die EU nur akzeptieren, wenn die NATO-Russland-Kooperation auf eine solidere institutionelle Basis als bisher gestellt würde, was sicher nicht einfach ist. Ein Plädoyer für die Anerkennung der erwähnten drei De-facto-Staaten muss eine Antwort auf das Bedürfnis finden, dass diese Anerkennung nicht der Anerkennung anderer De-facto-Staaten, vor allem aber der Förderung weiterer separatistischer Bestrebungen Vorschub leisten soll. Eine Politik der wechselseitigen Anerkennung der drei De-facto-Staaten ist nur durchführbar, wenn gleichzeitig mit einer erfolgreichen Wiedervereinigung Zyperns ein wichtiger Gegenimpuls gegen ausufernden Separatismus geschaffen wird, fernerhin ernsthaftere und nachhaltigere, gemeinsame Anstrengungen Russlands und der NATO in Hinblick auf Kompromisse im Bergkarabach- und im Transnistrien-Konflikt unternommen werden. Schließlich fehlt es noch immer an einer glaubwürdigen und tatkräftigen Alternative zum nationalen Separatismus in den Staaten, in denen die Machtverhältnisse zwar keine Bildung von De-facto-Staaten erlauben, wohl aber periodische oder auch permanente gewaltsame Unruhen und ethnonational motivierten Terrorismus, in Europa vom Baskenland bis Tschetschenien, in der übrigen Welt von Palästina über Kaschmir bis Tibet. (1) Zu den „eingefrorenen Konflikten“ im Kaukasus siehe Uwe Halbach: Eingefrorene Konflikte im Südkaukasus in: Minderheiten in Europa. Ansprüche, Rechte Konflikte [= Osteuropa, 11/2007], S. 83–94. (2) Wandel durch Bestürzung. Angela Merkels Haltung zu Georgien hat sich verändert, in: Der Spiegel, 35/2008 (25.8.), S. 26. (3) „Wir kapitulieren nie“. Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili, 40, über die russische Militärintervention und die Hilfe der USA und Israels, in: Der Spiegel, 34/2008 (18.8.), S. 86. (4) Wandel durch Bestürzung [Fn. 2], S. 22. (5) Chronik einer Tragödie. Wer trägt Schuld am Krieg in Georgien? In: Der Spiegel, 35/2008 (25.8.), S. 130; vgl. auch Kalter Frieden, in: Der Spiegel, Nr. 36, 1.9.2008, S. 21, 23. (6) Chronik einer Tragödie [Fn. 5], S. 130. (7) Exemplarisch sei an die Talkshows im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen erinnert: Am 28. August fragte Maybrit Illner im ZDF: „Moskaus Muskelspiele – Droht ein neuer Kalter Krieg?“ Am 31. August zog eine Gesprächsrunde bei Anne Will in der ARD nach und widmete sich mit Verve dem selben Thema: Anne Meiritz: Kalter Krieg im Talkshow-Sessel, in: . – Zur Behandlung in der Presse: Gemma Pörzgen: Deutungskonflikt. Der Georgienkrieg in deutschen Printmedien, in diesem Heft, S. 79–95. (8) Zur Geschichte dieser Konflikte vgl. Egbert Jahn: Neue Perspektiven für die „eingefrorenen Konflikte“ im Südkaukasus durch die „Europäische Nachbarschaftspolitik“? In: ders.: Politische Streitfragen. Wiesbaden 2008, S. 200–216. – Laura Sigwart: Der Südossetien- Konflikt. Eskalation nach der Rosenrevolution, in: Osteuropa, 7/2007, S. 81–89. – Stuart J. Kaufman: Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War. Ithaca, NY/London 2001, S. 85–128. – Abkhazia: Ways Forward. International Crisis Group Europe Report 179/2007. – Bruno Coppieters, David Darchiashvili, Natella Akaba (Hg.): Federal Practice. Exploring Alternatives for Georgia and Abchazia. Brussels 2000. –Julian Birch: The Georgian/South Ossetian territorial and boundary dispute, in: John F.R. Wright, Suzanne Goldberg, Richard Schofield et al. (Hg.): Transcaucasian boundaries. London 1995. – Georgia’s South Ossetia Conflict: Make Haste Slowly. International Crisis Group Europe Report 183/2007. – Aleksandr Kokeev: Der Kampf um das Goldene Vlies. Frankfurt 1993 [= HSFK-Report 8/1993]. (9) S/res/1808(2008); . (10) Wettlauf zum Tunnel. Die Nato und westliche Geheimdienste waren von Anfang an überzeugt, dass Staatschef Saakaschwili den Kaukasus- Krieg begann […], in: Der Spiegel, 38/2008 (15.9.), S. 132. (11) Dmitry Medvedev: Why I had to Recognise Georgia’s Breakaway Regions, in: Financial Times, 26.8.2008; (12) Report of the Secretary-General on the situation in Abkhazia, Georgia, 23 July 2008, S/2008/631; , Punkt 16. (13) Putins Kalter Krieg, in: Der Spiegel, 34/2008 (18.8.), S. 85. (14) Kalter Frieden, in: Der Spiegel, 36/2008 (1.9.), S. 24. – Markus Kaim: „We are all Geor¬gians“. Perzeptionen des russisch-georgischen Krieges in den USA, in: Hans-Henning Schröder (Hg.): Die Kaukasus-Krise. Internationale Perzeptionen und Konsequenzen für deutsche und europäische Politik. Berlin 2008 [= SWP-Studie S 25], S. 29–32. (15) Wandel durch Bestürzung [Fn. 2], S. 26. (16) Dmitrij Medvedev i Nikolja Sarkozi soglasovali dopolnitel’nye punkty k utverždennomu 12 avgusta 2008 goda planu uregulirovanija gruzino-južnoosetinskogo konflikta; =2008&Submit.x=10&Submit.y=8&value_from=&value_to=&date=&stype=&dayRequired=no&day_enable=true#>. (17) Zajavlenija Prezidenta Il’chama Alieva i Prem’er-ministra Turciii Redžepa Tajiba Erdogana dlja pressy, 20.8.2008; . (18) Vgl. auch den Artikel des Ex-Außenministers von Armenien, Vartan Oskanian: The Caucasus moment, in: International Herald Tribune, 24.8.2008; . EGBERT JAHN (1941), Dr. phil., Prof. em. für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Universität Mannheim Von Egbert Jahn erschien zuletzt in Osteuropa: Ethnische, religiöse und nationale Minderheiten. Begriffe und Statusoptionen, in: Minderheiten in Europa. Ansprüche, Rechte Konflikte. Berlin 2007 [= Osteuropa, 11/2007], S. 7–26. – Ausdehnung und Überdehnung. Von der Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau zum Ende der europäischen Integrationsfähigkeit, in: Inklusion, Exklusion, Illusion. Konturen Europas: Die EU und ihre Nachbarn. Berlin 2007 [= Osteuropa, 2–3/2007], S. 33–55.

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