Kollision im Rospuda-Tal
Polen: Natur und Verkehr im Widerstreit
Helen Byron, Małgorzata Górska
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Abstract
Der Ausbau der Via Baltica, die Warschau mit Helsinki verbindet, ist in Polen umstritten. Umweltschützer protestieren gegen die Pläne der Regierung, die Via Baltica durch mehrere Naturschutzgebiete zu führen. Lärm und Verschmutzung durch Verkehr würden den Tieren, Pflanzen und Lebensräumen großen Schaden zufügen. Der Streit um den Verlauf der Via Baltica ist ein Präzedenzfall. Er wird zeigen, ob verkehrs- und umweltpolitische Interessen vereinbar sind und ob die EU stark genug ist, Umweltrecht auch gegen Widerstand durchzusetzen.
(Osteuropa 4-5/2008, S. 359372)
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Head-on collision in the Rospuda Valley
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Die Via Baltica, auch Europastraße 67, führt von Helsinki über Estland, Lettland und Litauen nach Warschau. Der Teil, der durch Polen führt, ist als einziger Streckenabschnitt noch nicht vollständig ausgebaut. Um die Via Baltica zu vollenden, müssten die jetzige Schnellstraße Nr. 8 verbreitert und einige Teilstrecken neu gebaut werden. Die Via Baltica ist Teil der Transeuropäischen Netze im Bereich Verkehr (TEN-V), eines Netzes aus Straßen, Bahngleisen, Wasserwegen und Flugbahnen, dessen Ausbau die Europäische Union seit 1990 fördert. Bis 2020 soll das TEN-V auf 89 500 km Straße, 94 000 km Zugstrecke, 11 250 km Binnenwasserstraße, 210 Binnenhäfen, 294 Seehäfen und 366 Flughäfen ausgedehnt werden. Neben der Via Baltica wird in Polen auch an einer Zugstrecke, Rail Baltica, gearbeitet. Rail Baltica ist eines der 30 wichtigsten Vorhaben des TEN-V. Auch sie verbindet Warschau und Helsinki, verläuft aber nicht exakt parallel zur Via Baltica, die Teil des weiter gefassten TEN-V-Netzwerks ist, d.h. die Europäische Kommission stufte sie nicht als Priorität ein. Unglücklicherweise besitzt sie für die polnische Regierung jedoch eine große Bedeutung. Als Projekt des erweiterten TEN-V-Netzwerks unterstützt die EU den Ausbau der Via Baltica in Polen mit Geldern aus dem Kohäsionsfonds. Polen präsentierte seinen Vorschlag für das TEN-V bereits im Jahre 2004, als es der EU beitrat. Nach diesem Plan sollte die Via Baltica entlang der polnischen Straße Nr. 8 über die Provinzhauptstadt Białystok im Nordosten des Landes führen. Dort gibt es Gebiete mit einer sehr empfindlichen Tier- und Pflanzenwelt, die unter Naturschutz gestellt werden müssten. Die Regierung nahm bei der Vorbereitung der TEN-V-Pläne jedoch kaum Notiz von Umweltgutachten. Die Erwartung der EU-Generaldirektion Umwelt und einiger NGOs, dass die polnischen Behörden weitere Studien über die Auswirkungen der Autobahn auf die Umwelt durchführen würden, wurde enttäuscht. Die Natur der Region Podlachien In der Region Podlachien in Nordostpolen liegen einige wichtige Gebiete mit wildlebenden Tieren, so der Augustów-Urwald, der Urwald von Knyszyn sowie der weltbekannte Nationalpark des Biebrza-Flusstals, die sich alle auf der Route der bereits existierenden Straße Nr. 8 befinden. Alle drei Gebiete sind nach EU-Naturschutzrecht Besondere Schutzgebiete (Special Protection Areas, SPA) für Vögel und wurden als Naturschutzgebiete (Special Areas of Conservation, SAC) zum Schutz der Habitate und anderer Arten vorgeschlagen. Gemeinsam bilden die speziellen Schutzgebiete und die Naturschutzgebiete das Europäische Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000. Der Augustów-Urwald Der Augustów-Urwald erstreckt sich auf einer Fläche von 1000 km². Er ist ein Wald mit einem besonders hohen Anteil alter Bäume, viele Kiefern sind älter als 200 Jahre. Der älteste Baum ist eine 360jährige Eiche. Etwa 85 Prozent sind Nadelwald mit einigen Lichtungen, die häufig als Weideland verwendet werden. Außerdem gibt es einige gut erhaltene Sumpfgebiete, in denen Nadelbäume wachsen. Der Augustów-Urwald ist Brutgebiet und Lebensraum von mindestens 42 Arten besonders geschützter Brutvögel. Für acht dieser Arten – Schwarzstorch, Wespenbussard, Schreiadler, Auerhahn, Grauspecht, Weißrückenspecht, Dreizehenspecht und Zwergschnäpper – ist das Gebiet eine der wichtigsten Brutstätten in Polen. In dem Gebiet leben außerdem viele Kraniche. Auch seltene Raubvogelarten wie Schlangenadler, Rotmilan und Seeadler brüten hier. Der Wald ist Heimat von fünf geschützten Säugetierarten, darunter Wölfe mit einer Population von 26 bis 28 Tieren (fünf Prozent der polnischen Population), 16 Luchse (acht Prozent der nationalen Population), Otter, Biber und die Teichfledermaus. Die lokale Elchpopulation mit etwa 150 Tieren ist nicht unbedeutend. Fast ein Fünftel des Waldterritoriums besteht aus geschützten Habitaten. Es handelt sich um 24 verschiedene Habitate, von denen acht zur höchsten Schutzgebietsstufe der EU gehören und wie etwa das Moorwaldgebiet als sogenannte „prioritäre Habitate“ ausgewiesen sind. Das Rospuda-Flusstal Das Rospuda-Flusstal im Nordwesten des Waldes enthält grundwassergespeiste (durchsickernde) Moore mit hydrologischen Bedingungen, die vollkommen unberührt sind, in großen offenen Sumpfgebieten (6,3 km2) enden und von Segge und Moos bewachsen sind. Es ist der letzte Sumpf in der europäischen Klimazone, der so gut erhalten ist. Er ist nahezu unberührt. Kein Graben durchzieht ihn, keine Infrastruktur entstellt ihn. Der Großteil des Torfmoorgebiets ist von geschützten Vegetationstypen bedeckt und ist der wichtigste polnische Lebensraum für zwei Pflanzenarten, die nach der Habitat-Richtlinie streng geschützt sind: das zur Familie der Orchideen gehörende Sumpf-Glanzkraut (Liparis loeselii) und die Moor-Steinbrech (Saxifraga hirculus). Zusätzlich gibt es 75 Pflanzenarten, die nach der polnischen Gesetzgebung geschützt sind. Auch ist das Rospuda-Tal das einzige Gebiet in Polen, wo die Einknollige Honigorchis (Herminium monorchis) wächst. Zahlreiche seltene und geschützte Vogelarten brüten in dem Tal oder im nahegelegenen Wald, so der Kranich, das Haselhuhn, der Seeadler, die Rohrweihe, der Raufußkauz, der Auerhahn, das Tüpfelsumpfhuhn, der Wespenbussard und der Schreiadler. Das Biebrza-Flusstal Das Sumpfgebiet des Biebrza-Flusstals ist das größte Moortal in Ostmittel- und Westeuropa und ist völlig unberührt. Die Biebrza mit zahlreichen Flusswindungen und alten Flussbetten in verschiedenen Sukzessionstadien ist von anthropogenen Eingriffen nahezu völlig unberührt. Das Flusstal wird regelmäßig und anhaltend überflutet. In weiten Bereichen kommt es zu aktiver Torfbildung. Die Sumpfgebiete erstrecken sich über viele Kilometer. Dank ihrer starken Sättigung mit Wasser waren sie über Jahrhunderte schwer zugänglich und wurden nur extensiv genutzt. Waldgruppen wie Sumpfnadelwälder, Moorerlenwälder und Sümpfe mit Segge- und Schilfgrasbewachsung sind die natürlichen Habitate im Tal. Mindestens 48 nach EU-Richtlinien geschützte Vogelarten brüten im Biebrza-Tal. Für 21 Arten ist das Biebrza-Tal eines der wichtigsten Brutgebiete in Polen. Für den Seggenrohrsänger und den Schelladler ist es die wichtigste Brutstätte in Polen und sogar in der gesamten EU. Die Feuchtgebiete sind Lebensraum von sechs nach der Habitat-Richtlinie geschützten Säugetierarten. Hier leben etwa 20 Wölfe, Luchse, die das Gebiet erst kürzlich besiedelt haben, Otter, Biber, Teichfledermäuse und Mopsfledermäuse. Das Gebiet ernährt mit etwa 500 Tieren die größte polnische Elchpopulation. Weitere 16 geschützte Tier- und Pflanzenarten sind hier nachgewiesen. Es gibt 15 Arten von durch EU-Richtlinien geschützten Habitaten, darunter sind vier Habitate mit besonderer Priorität: wertvolle Übergangsmoore und Schwingrasen bedecken über 6000 ha, Pfeifengraswiesen und Sumpfnadelwälder. Das Biebrza-Tal ist ein sogenanntes Ramsar-Gebiet und als der größte polnische Nationalpark (Biebrza Nationalpark) gesetzlich geschützt. Der Knyszyn-Urwald Der Knyszyn-Urwald ist ein zerklüftetes Waldgebiet, in dem viele Teile ihren ursprünglichen Charakter bewahrt haben. Charakteristisch sind die vielen Quellen, saubere Ströme und Flüsse. Das Gebiet ist sehr mannigfaltig, mit Höhenunterschieden von bis zu 80 Metern. Flusstäler, die zum großen Teil trocken gefallen sind, bedecken Niedrig- und Übergangsmoore. Im Wassereinzugsgebiet haben sich in Becken Übergangsmoore und, weniger zahlreich, erhöhte Torfmoore gebildet. Nadel- und Mischwaldgebiete mit einem hohen Anteil an Fichten dominieren den Wald. Abgeholzte Gebiete sind bedeckt von Ackerland, Fluren und Weiden sowie von menschlichen Siedlungen. Mindestens 43 gemäß EU-Richtlinien geschützte Vogelarten brüten im speziellen Schutzgebiet des Knyszyn-Waldes. Für zehn von ihnen – wie den Wespenbussard, den Schreiadler, das Haselhuhn, das Birkhuhn, den Schwarzspecht und den Zwergschnäpper – ist das Besondere Schutzgebiet des Knyszyn-Wald eines der wichtigsten Brutstätten in Polen. Der Wald ist außerdem Lebensraum von sieben nach der Habitat-Richtlinie geschützten Säugetierarten: Neben 40–45 Wölfen und acht Luchsen gibt es hier eine 20–25 Tiere starke Herde wilder Wisents. Außerdem leben auch hier wieder Otter, Biber, Teichfledermäuse und Mopsfledermäuse. Ein Viertel des Gebiets bedecken geschützte zwölf Habitate, von denen vier höchste Priorität genießen. Der Knyszyn-Wald ist mit dem Augustów- und dem Białowieża-Wald das größte zusammenhängende Waldgebiet Nordostpolens und von enormer Bedeutung für die Aufrechterhaltung überlebensfähiger Luchs- und Wolfpopulationen in den Tiefebenen Polens und Ostmitteleuropas. Verkehr vor Naturschutz Obwohl der besondere ökologische Wert dieser Gebiete seit Jahrzehnten bekannt war, nahmen die polnischen Behörden den Augustów-Urwald und den Knyszyn-Urwald bis Herbst 2007 nicht in die Liste der nach der Habitat-Richtlinie zu schützenden Gebiete auf. Doch es geht nicht allein um diese Gebiete. Grundsätzlich herrscht in Polen Skepsis gegenüber den europäischen Naturschutzgebieten. 2007 verklagte die Europäische Kommission Polen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen unzureichender Ausweisung von EU-Vogel- und Naturschutzgebieten für das Schutzgebietsnetz Natura-2000-Gebiete, wie es nach den Vogelschutz- und Habitatrichtlinien erforderlich wäre. Nach diesen Richtlinien müssen Natura-2000-Gebiete geschützt werden und dürfen nicht an Wert verlieren. Besonders wenn Projekte geplant werden, die Natura-2000-Gebiete beeinflussen könnten, muss zunächst eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen werden. In diesen Umweltverträglichkeitsprüfungen muss nachgewiesen werden, dass es keine andere, weniger schädliche Lösung für das Projekt gibt als die geplante oder dass das Projekt im „zwingenden, übergeordneten öffentlichen Interesse“ unbedingt erforderlich ist und dass Ausgleichsmaßnahmen ergriffen werden. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, ist jede Zustimmung zu einem geplanten Projekt ein Bruch von EU-Recht. Projekte dürfen nur dann weiter verfolgt werden, wenn sie die Integrität der Natura 2000-Schutzgebiete nicht gefährden. Wenn die Umweltverträglichkeitsprüfung dagegen ergibt, dass das Projekt negative Auswirkungen auf die Integrität der Natura 2000-Schutzgebiete haben würde, darf das Projekt nur sehr eingeschränkt fortgeführt werden. Zu den negativen Auswirkungen gehört bereits der Einfluss auf die Population einer Schlüsselspezies, für die das Gebiet ausgewiesen wurde. Nach dem Regierungswechsel im Oktober 2007 änderte das Umweltministerium seine Haltung, und es erklärte seine Absicht, bis zum Juni 2008 die besonderen Schutzgebiete vollständig auszuweisen und die Habitat-Richtlinien bis Ende 2008 umzusetzen. Die Augustów-Umgehungsstraße Seit den 1990er Jahren wird darüber diskutiert, eine Umgehungsstraße für die 30 000 Einwohner-Stadt Augustów zu bauen, um den starken Verkehr auf der Straße Nr. 8 aus der Innenstadt zu verlagern. Damals legte die polnische Straßenbehörde eine Planungsalternative vor. Eine Variante sah eine Straßenführung um das Rospuda-Tal vor, nach der zweiten Planung (mit vier Varianten) führte die Straße durch das Tal. Auf dieser Planungsgrundlage entschieden sich die regionalen Behörden für die Route durch das Tal. Die Variante um das Tal wurde aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen abgelehnt. Sie hätte es erfordert, eine größere Anzahl von Häusern zu zerstören und privates Land anzukaufen. Die Kreise Nowinka und Augustów sowie die Stadt Augustów übernahmen den Entwurf 1999 und 2000. Anfang 2004 begann die polnische Straßenbehörde mit der detaillierten Planung. Die neue vierspurige Straße von 17,1 km Länge schließt eine 517 Meter lange Brücke über die Sümpfe des Rospuda-Tals ein. Sechs Kilometer der Straße sowie die Brücke liegen im Natura 2000-Gebiet des Augustów-Urwaldes. Durch den Ausbau der Straße Nr. 8 zu einer Autobahn wird der Verkehr voraussichtlich enorm ansteigen. Dies würde sich negativ auf die Tiere und Lebensräume im Natura 2000-Gebiet auswirken. Lärm und Verschmutzung würden die Qualität der Lebensräume beeinträchtigen und die Tierpopulationen zurückdrängen. Besonders betroffen wären große Vögel, die mehr Raum brauchen als kleine. Der Anteil von Tieren wie Füchsen und Raben, die an der Straße Nahrung suchen, würde steigen und die Natur aus dem Gleichgewicht bringen. Tiere könnten bei Kollisionen mit Autos und Lastwagen zu Tode kommen. Der Straßenbau würde der Verlauf von über- und unterirdischen Flüssen beeinflussen und sie verschmutzen. Wegen ernsthafter Zweifel, ob das Projekt mit dem EU-Naturschutzrecht im Einklang stand, reichten mehrere polnische NGOs Anfang 2006 eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein. Diese enthielt Belege dafür, dass sich der Straßenbau negativ auf das Natura-2000-Gebiet Augustów-Urwald auswirken würde, und dokumentierte, dass alternative Routen und entsprechende Vorschläge von NGOs nicht ernsthaft erwogen worden waren. Die NGOs zeigten außerdem, dass sechs weitere Straßenbauprojekte in Verbindung mit der Straße Nr. 8 ähnlich schädliche Folgen für die Natur bedeuten und EU-Naturschutzrecht verletzen würden. Bei den Vorhaben handelt es sich um die Renovierung von drei Straßenabschnitten, den Bau einer neuen Umgehungsstraße um Wasilków, einer Straße, die das Biebrza-Tal schneiden und einer, die durch den Augustów-Urwald führen soll. Nachdem die Wojewodschaft Podlachien und das Umweltministerium die Umweltprüfung für die Augustów-Umgehungsstraße abgesegnet und die Baugenehmigung erteilt hatten, begannen im Februar 2007 die Bauarbeiten. Sie wurden von zahlreichen Protesten im ganzen Land begleitet. Die Gegner des Vorhabens hielten Mahnwachen in Warschau und anderen großen Städten. Sie schickten offene Briefe an die Behörden und überreichten dem Präsidenten eine Petition mit mehr als 150 000 Unterschriften. Sogar vor einigen polnischen Botschaften im Ausland versammelten sich Demonstranten. Die Proteste gipfelten darin, dass über 100 Umweltschützer bei Temperaturen von Minus 27 C° für drei Wochen im Augustów-Urwald ihre Zelte aufschlugen, um die Baustellen zu blockieren. Die Zeltstadt war an manchen Tagen von bis zu 300 Menschen, darunter auch Prominenten, bevölkert. Die Demonstranten bauten ihre Zelte erst im März zu Beginn der Brutzeit ab. Als die Bauarbeiten nach Ende der Schonzeit am 1. August fortgesetzt werden sollten, versammelten sich wieder so viele Gegner des Ausbaus im Rospuda-Tal, dass der Bau nicht fortgesetzt werden konnte. Internationale Reaktionen 2003 stellte das Ständige Komitee der Berner Konvention fest, Flora und Fauna des Augustów-Waldes, des Biebrza-Tales und des Knyszyn-Waldes seien von internationaler Bedeutung. Daher solle Polen eine Umweltverträglichkeitsprüfung über den Ausbau der Via Baltica vornehmen, die den EU-Richtlinien entspreche. Eine Entscheidung über weitere Baumaßnahmen sei erst auf Grundlage der Umweltverträglichkeitsprüfung zu fällen. Die Straßenbehörde beauftragte 2005 die internationale Beratungsagentur Scott Wilson mit der Untersuchung. Im November 2007 stellte ein Experte der Agentur eine Strategie zur Entwicklung der Via Baltica vor. Einen Monat später nahm ein Steuerungskomitee, in dem auch NGOs vertreten sind, den Bericht an. Unter vier Routen empfiehlt der Bericht, die Via Baltica durch Łomża zu führen, anstatt entlang der Straße Nr. 8, um die drei Natura 2000-Gebiete nicht zu beeinflussen. Der Bericht müsste nun eigentlich der Öffentlichkeit präsentiert werden, damit NGOs und Betroffene Kommentare einreichen können. Die Straßenbehörde und das Infrastrukturministerium müssten ihre Entscheidungen auf Grundlage des Berichts überdenken. Doch bis Mitte Mai 2008 passierte nichts. Das Verfahren ist ins Stocken geraten. Das lässt Zweifel aufkommen, ob die Regierung diesen Vorschlag zum Ausgangspunkt weiterer Planungen für die Via Baltica machen möchte. 2006 prüfte die Europäische Kommission die Pläne zum Ausbau der Straße Nr. 8 in Polen. Da sie die Frage nicht in Gesprächen mit polnischen Regierungsvertretern klären konnte, eröffnete sie im Dezember 2006 ein Verfahren gegen das Land. Sie forderte die Regierung auf, den Ausbau der Via Baltica einzustellen, da die Projekte gegen europäisches Naturschutzrecht verstießen. Polen gab den Vertragspartnern im Februar 2007 jedoch grünes Licht, mit der Abholzung für die Augustów- und Wasilków-Umgehungsstraße zu beginnen. Dies veranlasste die Europäische Kommission, Polen eine „letzte schriftliche Warnung“ zu schicken, worin sie den Ausbau der Via Baltica zwar grundsätzlich begrüßte, jedoch erklärte, der Schaden, der durch die Straßenführung verursacht werde, sei nicht zu rechtfertigen. Da die Abholzung unmittelbar bevorstand, wurde Polen nicht wie üblich zwei Monate, sondern nur eine Woche Zeit gegeben, darauf zu reagieren. Dies zeigt, dass die Angelegenheit hohe Priorität für die EU-Kommission besaß. Warschau ließ sich auch von der zweiten Warnung nicht beeindrucken. Die Bauarbeiten begannen. Besorgt um die Natura 2000-Gebiete bei Augustów sowie über die Folgen der von Polen vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen in einem anderen Natura-2000-Gebiet, brachte die Kommission den Fall im März 2007 vor den Europäischen Gerichtshof. Dieser sollte Polen auffordern, die Ausgleichsmaßnahmen auszusetzen, bis das Gericht den Fall beurteilt habe. Im April 2007 sprach der Europäische Gerichtshof eine solche Verfügung aus. Dies war ein Präzedenzfall. Noch nie zuvor hatte der Europäische Gerichtshof auf diese Weise zum Schutz eines Natura-2000-Gebietes eingegriffen. Trotzdem gaben Investor und Baufirma bekannt, dass sie nach der Brutzeit, im August 2007, im Rospuda-Tal mit dem Bau beginnen würden. Lettland, Litauen und die Slowakei stellten sich auf die polnische Seite. Die Kommission wandte sich aber mit einem Eilantrag an den Europäischen Gerichtshof: Dieser solle Polen verbieten, mit dem Straßenbau im Rospuda-Tal zu beginnen. Nun erst erklärte Polens Regierung, die Bauarbeiten auszusetzen, bis der Gerichtshof den Fall entschieden habe. Der Streit um den Verlauf der Via Baltica erregte auch die Aufmerksamkeit des Europäischen Parlaments. 2005 besuchte eine Delegation des Europäischen Parlaments Nordostpolen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Nachdem polnische NGOs eine Petition an das Europaparlament gerichtet hatten, beschloss der Petitionsausschuss, den Fall zu prüfen. Im September 2007 legte der Ausschuss einen Bericht vor, der eine alternative Route für die Via Baltica vorschlug und die polnische Regierung aufforderte, keine Baumaßnahmen oder Abholzungen im Rospuda-Tal oder anderen geschützten Gebieten zu genehmigen. Zudem riet er, das Projekt nur mit EU-Geldern zu fördern, wenn es einer Umweltverträglichkeitsprüfung standhalte. Die neue polnische Regierung und der „Runde Tisch von Rospuda“ Im Herbst 2007 kam es in Polen zum Regierungswechsel. Nachdem das regionale Verwaltungsgericht in Warschau Beschwerden von NGOs und dem polnischen Ombudsmann geprüft hatte, hob es die Baugenehmigung aus umweltpolitischen Erwägungen am 10. Dezember 2007 auf. Der Umweltminister lud alle Beteiligten zu einem Gespräch am Runden Tisch ein, um die strittigen Fragen zu diskutieren. Im Januar und Februar 2008 trafen die Minister für Umwelt und Infrastruktur mit Vertretern der polnischen Straßenbehörde, kommunaler und regionaler Behörden, Repräsentanten von NGOs, Kommunalpolitikern und Umweltexperten dreimal zusammen. Die Teilnehmer des Runden Tisch einigten sich darauf, zusätzlich zu der Umweltverträglichkeitsprüfung für die gesamte Via Baltica eine spezielle Untersuchung für die Augustów-Umgehungsstraße in Auftrag zu geben. Darin sollen drei mögliche Routen untersucht werden: eine, die das Natura 2000-Gebiet komplett umgeht, eine, die nur einen kleinen Teil des Naturschutzgebietes schneidet sowie die dritte, ursprünglich geplante Variante mitten durch die Sümpfe im Natura 2000-Gebiet des Rospuda-Tals. Der Bericht soll im Oktober 2008 fertig gestellt werden und als Entscheidungsgrundlage für die Straßenführung dienen. Besorgniserregend aber ist, dass die Bauarbeiten trotz allem an der von der Straßenbehörde bevorzugten Route im Natura 2000-Gebiet weitergehen. Möglicherweise könnten damit Fakten geschaffen werden. Sollte der Bau des Streckenabschnitts bis an die Grenze des Natura 2000-Gebiets bald abgeschlossen sein, könnte dies in die Entscheidung über die beste Route einfließen. Obwohl die Aussichten recht gut sind, den Verlauf der Umgehungsstraße um Augustów nach umweltpolitischen Überlegungen auszurichten, fürchten Umwelt-NGOs, dass die polnischen Behörden an den ursprünglichen Plänen für die Via Baltica festhalten. Neben der Strecke durch das Rospuda-Tal sind elf weitere Straßenbauprojekte geplant, an deren Umsetzung gearbeitet wird, darunter eine Umgehungsstraße um Sztabin, die wahrscheinlich das Natura-2000-Gebiet der Biebrza-Moore beeinflussen wird. Anfang 2008 begann die Abholzung im Natura 2000-Gebiet des Knyszyn-Waldes, um die Białystok–Katrynka-Straße auszubauen. Ausblick Die NGOs hoffen, dass die polnischen Behörden dem Beschluss des Runden Tisches folgen werden, eine alternative Route für die Augustów-Umgehungsstraße auszuwählen. Darüber hinaus sollen sie auf der Grundlage der Umweltverträglichkeitsprüfung eine Grundsatzentscheidung über die Via Baltica fällen, die im Einklang mit den Umweltschutzrichtlinien der EU steht. Der Fall der Via Baltica demonstriert, in welchem Maße die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof entschlossen sind, sich für Naturschutz einzusetzen. Außerdem wird sich an der Auseinandersetzung über die Straßenführung erweisen, ob die EU-Institutionen über Mittel verfügen, europäisches Naturschutzrecht gegen den Widerstand eines Mitgliedslandes durchzusetzen. Verkehr und Umweltschutz stehen nicht zwingend im Widerspruch. Die EU-Naturschutzrichtlinien regen dazu an, mehrere Alternativen abzuwägen, und bieten Planungssicherheit. Mit der Einrichtung der Rail-Baltica hat Polen gezeigt, dass der Ausbau von Verkehrswegen und Naturschutz einander nicht ausschließen. Doch gibt es in Europa auch viele Beispiele, wo dem Verkehr Vorfahrt vor der Natur eingeräumt wurde. Wenn der Naturschutz aber etwa beim Ausbau des TEN-V-Netzwerks auf Dauer hinter verkehrspolitischen Interessen zurückstehen muss, geraten die Natura 2000-Schutzgebiete in Gefahr. Die EU wird so ihr Versprechen, dem Artensterben Einhalt zu gebieten, nicht einlösen können. Aus dem Englischen von Hannah Beitzer, Passau
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