Titelbild Osteuropa 8-10/2008

Aus Osteuropa 8-10/2008

Formen der Erinnerung
Juden in Polens kollektivem Gedächtnis

Katrin Steffen

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Abstract

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten über drei Millionen Juden in Polen. In der Schoa wurden fast alle umgebracht. Das Kommunistische Regime unterband, dass an die Juden als besondere Opfergruppe des Holocaust erinnert wurde. Das hat sich seit 1990 zwar geändert. Doch die Erinnerung an die Juden polarisiert die polnische Gesellschaft noch immer. Das zeigen die Debatten über Jedwabne und die antisemitischen Pogrome in der Nachkriegszeit. Es existiert eine Opferkonkurrenz zwischen Juden und Polen. Im polnischen Gedächtnis wirkt ein mythisch-symbolisches Bild „des Juden“ weiter. Zugleich entsteht an den ehemaligen Orten jüdischen Lebens ein virtuelles Judentum.

(Osteuropa 8-10/2008, S. 367–386)

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Disputed Memory

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„Unser Gedächtnis ist ein Ort, an dem es keine Juden gibt.“ So charakterisierte die Kulturanthropologin und Ethnologin Joanna Tokarska-Bakir im Januar 2001 das kollektive Erinnern der polnischen Gesellschaft an den Zweiten Weltkrieg. 2008 bestätigte Barbara Engelking-Boni dieses Urteil für die polnische Historiographie: Die Geschichtsschreibung zur nationalsozialistischen Okkupation in Polen hat eine 60jährige Tradition, es gibt Muster für Kategorisierungen und Prinzipien der Chronologie. In den meisten Fällen ist dort kein Platz für die Juden. Der Holocaust ist noch immer nicht zu einem Teil der Geschichte Polens geworden. Joanna Tokarska-Bakir fällte ihr Urteil, unmittelbar nachdem das Buch Sąsiedzi (Nachbarn) von Jan Tomasz Gross erschienen war. In diesem Buch rekonstruiert Gross, wie die polnischen Einwohner des Städtchens Jedwabne 1941 ihre jüdischen Mitbürger ermordeten. Indem er den Polen eine Mitverantwortung an der Shoah zuwies, löste er die intensivste und emotionalste Debatte über das polnisch-jüdische Verhältnis im Zweiten Weltkrieg in der gesamten Nachkriegszeit aus. Barbara Engelking-Boni äußerte sich nun in einer Diskussion über Jan Tomasz Gross’ neues Buch Strach (Angst). Es handelt vom Antisemitismus in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese öffentliche Debatte Anfang 2008 war jedoch nicht so intensiv wie die Jedwabne-Debatte von 2001 bis 2003. Das Thema der polnisch-jüdischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg war während des Ost-West-Konflikts insofern eingefroren, als es in Polen öffentlich nicht behandelt werden konnte. In den 1980er Jahren taute es oberflächlich auf, doch erst die Jedwabne-Debatte rückte es ins Zentrum der Gesellschaft. Unterdessen liegen der Krieg und der Holocaust drei Generationen zurück. Doch die Jedwabne-Debatte erfasste und erschütterte nahezu die gesamte Gesellschaft. Die einen begrüßten sie als ein Eingeständnis polnischer Schuld und empfanden sie als Katharsis. Die anderen brandmarkten sie als antipolnisch und befürchteten, sie werde Polens Ansehen in der Welt verschlechtern. Sie wollten sich dagegen verteidigen. Diese Teilung der Gesellschaft vertiefte sich in anderen Fragen der Aufarbeitung der Vergangenheit und ist in der Debatte über das Buch Angst erneut zutage getreten. In dieser Spaltung spiegelt sich auch eine gespaltene Realität wider. Einerseits treffen die genannten Urteile von Joanna Tokarska-Bakir und Barbara Engelking-Boni zu. Sie basieren auf der spezifischen, polnischen Nations- und Staatsbildung. Anderseits ist die jüdische Bevölkerung in der polnischen Erinnerungskultur in drei Formen sehr wohl präsent. Wenn konstatiert wird, dass Juden als eigenständige Opfergruppe des Holocaust nicht existierten, sind sie als Verdrängtes dennoch vorhanden; zweitens ist das Bild des mythisch-symbolischen Juden präsent, das für das stereotypisierte Selbstbild der Polen bedeutsam ist, und zum dritten existiert die jüdische Geschichte in folklorisierter Form im öffentlichen Raum. Dass die jüdische Bevölkerung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg als eigenständige Opfergruppe des Holocaust aus dem polnischen Gedächtnis herausfiel, hat viele Ursachen. Von 1949 bis etwa 1980 herrschte eine Art „amtlicher Erinnerung“ vor, die von den staatssozialistischen Machthabern definiert wurde. Sie bestand in zunehmendem Maße aus Elementen des traditionellen historischen Kanons der Nationalgeschichte. Während in der offiziellen Ideologie Internationalismus und Völkerfreundschaft verkündet wurden, stellte sich der Nationalismus der Kommunisten, der ihre Macht stabilisieren sollte, ganz im Gegenteil als überaus traditionell und fremdenfeindlich dar. Das Nachdenken über die eigene Geschichte, offene und öffentliche Selbstverständigungsdebatten über Polonität, Patriotismus und die Nation sowie Diskussionen über den Holocaust oder die Minderheiten in Polen wurden so verhindert. Für derartige Themen war eher im privaten Rahmen Raum. Hier existierte ein Gegengedächtnis. Insofern sollte nicht nur von einer monolithischen, offiziellen Erinnerungskultur in Polen ausgegangen werden. In der privaten Erinnerung waren Juden durchaus präsent. Öffentlich hingegen wurde über sie geschwiegen. Dies änderte sich in vollem Umfang erst nach 1989, als Tabus fielen und weiße Flecken der Vergangenheit gefüllt wurden. Damit ging überall in Osteuropa und Ostmitteleuropa, so auch in Polen, eine Pluralisierung des historischen Gedächtnisses einher. Über diese politischen Rahmenbedingungen hinaus waren zahlreiche andere Faktoren wirksam, die verhinderten, dass die Ermordung der jüdischen Bevölkerung öffentlich betrauert wurde. Die Reduktion der Geschichte Der Historiker Marcin Kula benennt als einen der Faktoren die Distanz, die Juden und Polen in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg getrennt habe: Juden und Polen hätten wenig voneinander gewusst, daher hätten die Polen die Juden auch nicht beweinen können. Zudem falle es schwer, an Menschen zu erinnern, die man negativ beurteile, so dass auch die negativen Stereotypen über die Juden in Polen ein Grund gewesen seien, sie zu vergessen. Auch wenn dieses Argument zunächst plausibel erscheint – ganz so wenig wussten beide Seiten nicht voneinander, zumal viele der über drei Millionen Juden – vor allem die polnischsprachigen, aber nicht nur sie – der polnischen Geschichte und Kultur ein tief verwurzeltes und ehrliches Interesse entgegenbrachten, welches aber kaum auf Gegenseitigkeit beruhte oder auf viel Gegenliebe stieß. Nicht wenige von ihnen bedienten sich als Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler oder Lehrer der polnischen Sprache. Und auch in vielen jiddischsprachigen Familien sorgten die Eltern dafür, dass ihre Kinder zumindest von einer scharfen Sprachentrennung nicht mehr betroffen sein sollten: Issac Bashevis Singer erinnert sich, dass es unter den Ehefrauen der jiddischen Schriftsteller und dem Großteil der sogenannten Jiddischisten ungeschriebenes Gesetz war, ihre Kinder dazu zu erziehen, Polnisch zu sprechen. Nach solchen Interessen und Kontakten zwischen Juden und Polen haben die Geschichtswissenschaft und die Öffentlichkeit bislang viel zu selten gefragt. Im Vordergrund stehen bis heute die trennenden Elemente – nicht zuletzt, weil im heutigen Diskurs über die polnisch-jüdischen Beziehungen in Polen und anderswo die Ereignisse des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Holocaust, dominieren. Auf diese Weise wird das Erbe von fast tausend Jahren Nachbarschaft von Juden und Polen auf knapp hundert Jahre reduziert, in denen Ausgrenzung, Misstrauen, Feindschaft und Verzweiflung überwogen. Dass die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Polen-Litauen und Polen nicht nur aus Exil, Verfolgung und Isolation bestand oder gar auf eine „Ghettogeschichte“ reduziert werden darf, sondern ebenso eine Geschichte der jüdischen Heimat in Polen, jüdischer Aneignung und Anwesenheit und spezifischer Arten jüdischer Modernität im östlichen Europa war, gerät in dieser Betrachtung allzu leicht in Vergessenheit. Seit die Juden nach dem Beginn der Judenverfolgungen im westlichen Teil Europas am Ende des 11. Jahrhunderts im östlichen Teil des Kontinents, vor allem in Polen, Aufnahme und Schutz gefunden hatten, ist diese Geschichte von dem Versuch geprägt, staatsbürgerliche Gleichheit zu erlangen und gleichzeitig kulturelle Differenz zu bewahren. Täglich galt es, einen Kompromiss zwischen jüdischen Vorschriften und Vorstellungen auf der einen und staatlichen Normen und Praktiken auf der anderen Seite zu finden. Die Lebensrealität der Juden in Polen war also das Ergebnis kulturellen, politischen, ökonomischen und rechtlichen Aushandelns zwischen Juden und anderen ethnischen und konfessionellen Bevölkerungsgruppen. Dieses Aushandeln verlief weder paradiesisch, noch bestand es nur aus Konflikten. Es variierte je nach Situation. Juden und Nichtjuden lebten nebeneinander in klar abgrenzten Strukturen. Die jeweiligen Gruppen verfügten über ihre eigene Verwaltung und Autonomie. Gleichzeitig gab es Räume, in denen sich die Gruppen begegneten, sei es in der Schänke beim jüdischen Schankwirt oder beim Handel auf dem Markt. Dieses Aushandeln und diese Begegnungen fanden überall dort statt, wo verschiedene religiöse, nationale, ethnische oder anders konturierte Gruppen, in einem Raum aufeinandertreffen. Sie bilden einen wichtigen und dauerhaften Teil polnisch-jüdischer Geschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Geschichte fast nur noch als Vernichtungsgeschichte wahrgenommen. „Auschwitz“ ist dafür weltweit zur Chiffre geworden. Dieses Symbol weist längst über einen deutsch-polnisch-jüdischen Erinnerungsrahmen hinaus. Die vermeintlich Fremden der Nation oder das Recht auf Heimat Ein weiterer Grund, weshalb Juden im kollektiven polnischen Gedächtnis in Vergessenheit gerieten, hängt mit der Geschichte der polnischen Nationsbildung zusammen, während derer sich die Vorstellung von einer Nation ohne eigenen Staat herausbildete. Der Wunsch, den Staat wiederzuerrichten, wurde so wirkungsmächtig, dass die nationale Ideen die Oberhand über andere politische Ideen wie liberale gewannen. Im späten 19. Jahrhundert hatte die Vorstellung vom exklusiven, ethnisch homogenen Nationalstaat bereits die Dominanz über die Idee eines republikanischen Gemeinwesen aller Bürger gleich welcher National und Religion gewonnen. Die nationale Selbstidentifizierung nahm Formen an, die mit einer starken Abgrenzung vom Anderen, der als Fremder behandelt wurden, einherging. Antisemitismus, dessen Wurzeln bis zum christlichen Antijudaismus zurückreichen, wurde ein wichtiger Bestandteil der Mentalität der polnischen Gesellschaft. Dass die Konstruktion der Nation politisch und kulturell mit einer Feindschaft gegen die Juden einhergehen kann, ist kein polnisches Spezifikum. Jede Nation strebt nach Homogenität. Dass es sich dabei um eine fiktionale Homogenität handelt, weil jedem Kollektiv antagonistische und plurale Elemente immanent sind, blieb außer Acht. In ihrer Vorstellung von der Nation machte die Mehrheitsgesellschaft die Juden häufig zum „Fremdkörper“ schlechthin, zum „inneren Feind“, der das „gesunde“ nationale und soziale Gewebe aushöhle und verderbe. Während der Teilungen Polens setzte sich ein romantisch-messianisches Geschichtsverständnis durch, wonach das Leiden des geteilten polnischen Volkes eine moralische Auszeichnung sei. Das daraus resultierende moralische Überlegenheitsgefühl beeinflusste das Verhältnis zu den Juden ebenfalls negativ. Ebenso bedeutsam für dieses Verhältnis war die Religion. Die römisch-katholische Konfession galt in der Teilungszeit als Bewahrerin des Nationalen und spielte in der Nationalstaatsbildung eine wichtige Rolle. Die religiöse Identität der Juden hatte sie bereits vor der Neuzeit zu „Anderen“, zu „Fremden“ gemacht. In den Augen vieler Christen waren die Juden ein Musterbeispiel für die Ungläubigen – das Nationale in Polen wiederum gründete in hohem Maße auf dem Christentum. Bereits der vormoderne Antisemitismus in Polen, ein religiöser, ethnischer und sozialer Antisemitismus, der in den Juden einen dämonischen „Antichristen“ verkörpert sah, wies den Juden einen „unsicheren Ort“ zu, der jederzeit von der Erdoberfläche verschwinden konnte. Diese dämonische Rolle behielten die Juden auch in der Zweiten Republik von 1918 bis 1939. Der Nationalismus, der damals in ganz Europa zu seinem Höhepunkt gelangte, dominierte auch in Polen. Auch außerhalb der rechts orientierten Nationaldemokratie mit Roman Dmowski als Vordenker fand sich in zahlreichen anderen politischen Strömungen nationales Gedankengut. Die Wirkung der Nationaldemokratie auf viele Polen sollte nicht unterschätzt werden. Der Schriftsteller Kazimierz Brandys nannte Dmowski, den Verfasser antisemitischer Schriften, eine für die polnische Intelligenz verheerende Figur, „die mehr geistige Schäden anrichtete als die Teilungsmächte, denn sie vergiftete die Gehirne von drei Generationen“. Besonders in den 1930er Jahren herrschte in Polen eine dichotomische Sicht auf die Welt vor, die in das „Eigene“ und das „Fremde“ eingeteilt wurde. Abhängig von der eigenen politischen Meinung konnte der Feind ein Faschist, Kommunist, Kapitalist, Freimaurer, ein Spitzel oder eben ein Jude sein. In dieser kurzen Phase von 1918 bis 1939 war Antisemitismus in den meisten Parteien und in der Gesellschaft weit verbreitet. Im politischen Leben dominierten nationale Zuschreibungen und Kategorien aus dem 19. Jahrhundert. Dazu gehörte das antisemitische Szenario einer Bedrohung durch die Juden. Ihnen wurde unterstellt, sie wollten Polen nicht nur schaden, sondern zerstören. Juden wurden zum Objekt zahlreicher Debatten, ihnen wurde nahegelegt, Polen zu verlassen. Der Antisemitismus gehörte nicht zuletzt in kulturellen und literarischen Kreisen fast zum guten Ton. So kündigte der bekannte Schriftsteller Karol Irzykowski 1933 in der jüdischen Tageszeitung Nasz Przegląd an, er sei nun ebenfalls bereit, Antisemit zu werden: „Auch ich muss irgendwann einen antisemitischen Artikel schreiben.“ Diesen Gedanken griff er 1937 auf und begann seinen Beitrag mit der Bemerkung, er habe schon lange einen antisemitischen Artikel auf dem Herzen gehabt. Darin nannte er die Juden „Polen unter Vorbehalt“, denn ein Jude könne leicht aufhören, Pole zu sein, während ein nichtjüdischer Pole mit seinem Vaterland auf Gedeih und Verderb verbunden sei. Sodann rief er zu einem „intelligenten Antisemitismus“ im Gegensatz zu einem gewalttätigen auf. Die Sprache und die Vorstellungen über Juden waren in dieser Zeit häufig pejorativ. Ein junger Schriftsteller namens Zbigniew Uniłowski beschrieb das Viertel in Warschau um die Nalewki-Straße, in dem zahlreiche Juden lebten, als einen „grosstädtischen Abzess“ mit einer „krankhaften Vitalität“ und als ein düsteres „Ghetto“ mit unglücklichen und anämischen Bewohnern. Solche Ideen vom städtischen Raum der Juden trugen erheblich dazu bei, bestimmte Vorstellungen von Jüdischkeit zu entwickeln. Juden wurden als eine rückständige Masse von Stadtbewohnern betrachtet, die sich freiwillig abschlossen und durch ihre bloße Anwesenheit die Städte in unangenehme Orte verwandelten. Die Bedeutung der Zwischenkriegszeit und der hier entstandenen Dispositionen für die weitere Entwicklung sollten nicht unterschätzt werden. Viele ungelöste soziale und nationale Konflikte, die durch die ausgebliebene Bodenreform oder die Minderheitenpolitik während des Krieges oder danach blutig ausbrachen, haben ihren Ursprung in der Zweiten Republik. Sie wirft bis heute einen langen Schatten auf die Möglichkeit der polnisch-jüdischen Verständigung. Dies gilt für viele Juden in besonderer Art und Weise, verbanden sie doch mit der polnischen Unabhängigkeit die Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Leben in einem Land, das sie mitgestaltet hatten. Diese Hoffnungen wurden ganz überwiegend enttäuscht. Die Stadt Warschau zum Beispiel beschrieb der Schriftsteller Zusman Segałowicz als ein gemeinsames Werk von Polen und Juden. Ähnlich formuliert Isaac Bashevis Singer in seinen Erinnerungen: Die Polen betrachten uns immer noch als Fremde, aber die Juden hatten geholfen, diese Stadt aufzubauen und enorme Verantwortung im Handel, Finanzsektor und in der Industrie übernommen. Sogar die Statuen in dieser Kirche bilden Juden ab. Nur wenige in Polen waren bereit, eine solche Sicht so deutlich auszudrücken wie Tadeusz Mazowiecki, der 1960 festhielt, dass man den Juden in Polen das Recht auf Heimat nicht absprechen dürfte, weil sie das Land über Jahrhunderte hinweg mitgestaltet hätten. Die Mehrheit sah es anders: Juden galten vielen weiterhin als „fremd“ und „illoyal“, unabhängig davon, wie weit die Akkulturation an die Mehrheitsbevölkerung vorangeschritten war. Der Nationalstaat verlangte Homogenität und Eindeutigkeit. Flexible Identitätsentwürfe von Juden, die ja keineswegs bedeuteten, sich Polen gegenüber illoyal zu verhalten, schienen dazu nicht zu passen. Die Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg und Nachwirkungen Die Ermordung fast aller Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs führte nicht dazu, dass sich solche polnischen Haltungen veränderten, sondern vertiefte die fiktiven und realen Teilungen. Dies geschah zum einen durch die von den deutschen Besatzern vorgenommene Trennung durch die Ghettoisierung der Juden und ihre Ermordung. Zudem wirkten einige Polen begrenzt am Holocaust mit. Von anderen wurde bekannt, dass sie, nachdem sie von den Nationalsozialisten in die höchst belastende Rolle gebracht worden waren, beim Holocaust zuzuschauen, sich verleiten ließen, diese Situation zu nutzen und sich zum Beispiel die Verstecke von Juden teuer bezahlen ließen oder Juden für diese Leistungen erpressten. Zwar retteten sie den betroffenen Juden nicht selten das Leben. Doch das Verhalten führte zu neuen trennenden Gräben. Auch die Erinnerungen an die Kriegszeit wirkten trennend. Die jüdische und die polnische Erinnerung drifteten weit auseinander. Für die Juden bildete die Shoah das Fundament jeglicher Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Die nichtjüdischen Polen betrauerten ihre eigenen, immensen Opfer. Aufgrund der historischen Konstellation des Molotov-Ribbentrop-Pakts 1939 über die sowjetische Besatzung Ostpolens und die deutsche Okkupation Polens bis zur Errichtung des kommunistischen Systems seit 1944 ist die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im polnischen kulturellen Gedächtnis vor allem die Geschichte der Konfrontation mit der stalinistischen Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland. In diese Erinnerung wurden die Juden in den Kampf gegen diese beiden Staaten einbezogen. Dabei wurde das kommunistische Engagement eines Teils der jüdischen Bevölkerung überhöht und verallgemeinert, obwohl viele jüdische Kommunisten sich gar nicht mehr als Juden verstanden, aber dennoch genau so und damit anders als andere Kommunisten wahrgenommen wurden: Sie galten als Helfer der Sowjetunion 1939, als diese sich gemäß dem Molotov-Ribbentrop-Pakt Teile Ostpolens einverleibte, und als Mittäter beim Aufbau des kommunistischen Systems in Polen nach dem Krieg. Keine Träger und keine Sprache für Erinnerung Die Erinnerung an die jüdische Bevölkerung nach dem Krieg war auch deshalb so schwierig, weil die polnischen Juden fast vollständig vernichtet waren. Somit fehlten diejenigen, die unmittelbarer Träger eines Gruppengedächtnisses sind. Ein solches Gruppengedächtnis hat meistens einen Appell-Charakter und ist transgenerationell – die Nachgeborenen sollen zur Teilhabe an gemeinsamen Erinnerungen verpflichtet werden und so das für die eigene Gruppe prekäre Aussterben der Erlebnisgeneration kompensieren. Die nichtjüdische polnische Gesellschaft übernahm diesen Part nicht. Die Soziologin Hanna Świda-Ziemba hat dazu eine interessante Beobachtung gemacht: Unter Jugendlichen wurde die „jüdische Frage“ nach dem Krieg so behandelt, als wäre die Welt wieder zur Vorkriegszeit zurückgekehrt und als hätte der Holocaust nie stattgefunden. Daher dominierten in der Gesellschaft wieder entweder Anhänger des Antisemitismus, die weiterhin die Argumente aus der Vorkriegszeit anführten, oder seine entschiedenen Gegner. Dies resultierte aus einem bestimmten Zeitbewusstsein: Während die Nachkriegszeit für diese Jugend eine unscharfe Gestalt annahm, wurde die Kriegszeit als geschlossen abgetrennt, die Vorkriegszeit hingegen als sehr lebendig wahrgenommen. Die unangenehmen Realien des Krieges und der unsicheren Gegenwart wurden so ausgeblendet. Diese Situation habe zur Konservierung antisemitischer Haltungen geführt, die an die nächste Generation weitergegeben wurden, und die Intelligenz polarisiert. Auch diese Konstellation sollte für die Erinnerungsfrage nicht unterschätzt werden. Die wenigen jüdischen Überlebenden, die in Polen geblieben waren, wollten sich angesichts der Nachkriegspogrome entweder nicht zu ihrer jüdischen Herkunft bekennen oder waren durch die Kriegsereignisse so traumatisiert, dass sie diese Geschichte verdrängten. Auch sie kamen also als Träger der Erinnerung kaum in Frage. Zudem dürfte unmittelbar nach dem Krieg einfach keine Sprache für das zur Verfügung gestanden haben, was beide Gruppen im Krieg zwar getrennt, aber doch Seite an Seite in einem Land erlebt hatten. Das Unvorstellbare war zunächst unartikulierbar. Warschau als Paradigma Die Tötung von drei Millionen Polen jüdischen Glaubens hatte Gesellschaftsstrukturen zerstört, nicht nur jüdische Strukturen. Die Mittelschichten und die Intelligenz, auch die jüdische, waren ermordet worden, und die, die überlebt hatten, hatten ihre Milieus verloren. Das fehlende Vermögen, Trauer über die Ermordung der Juden zu artikulieren, lässt sich anschaulich am Beispiel von Warschau nachvollziehen. Darüber, dass das ganze jüdische Viertel um die Nalewki-Straße und die 380 000 jüdischen Bewohner Warschaus einfach nicht mehr da waren, sprachen die Menschen nicht. Dies lag nicht ausschließlich an den erfahrenen Traumata, sondern auch daran, dass Warschau nach dem Krieg eine leere Stadt war. Alles, was übrig war, war der Staub der Trümmer. Nach dem Ghettoaufstand 1943 und dem Warschauer Aufstand von 1944 lebten mehr als 50 Prozent der Vorkriegsbevölkerung Warschaus nicht mehr in der Stadt. Sie musste Tausende Menschen integrieren, die dort niemals gewohnt hatten. Die Stadt veränderte sich erheblich. Für das Erinnern an die polnisch-jüdischen Beziehungen ist Warschau fast paradigmatisch. Die Erinnerung an den Ghetto-Aufstand von 1943 wurde von der Erinnerung an den Warschauer Aufstand von 1944 überlagert, bei dem 180 000 Menschen starben und Tausende Warschauer Familien ihre Angehörigen verloren, selbst wenn in der offiziellen kommunistischen Propaganda an den Warschauer Aufstand nicht erinnert werden durfte. Dieses Erinnerungsverbot bewirkte im Familiengedächtnis vieler Polen eher das Gegenteil. Dass der Ghettoaufstand der erste offene Straßen- und Häuserkampf in einer Stadt im deutsch besetzten Europa war oder der Ghettoaufstand möglicherweise inspirierend für den Warschauer Aufstand gewirkt hatte, war eine Lesart, auf die polnische Historikern nicht kamen. Tzvetan Todorov hingegen zeigte, dass die Argumentationsweisen der jüdischen und der polnischen Führung im Untergrund verblüffend ähnlich waren. Dagegen, so Marcin Kula, werde der Ghettoaufstand im Bewusstsein vieler Polen eher zu einer Selbstverteidigung herabgewürdigt und ihm die in der polnischen Geschichte ehrenvolle Bezeichnung „Aufstand“ genommen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs wurde er nicht als polnische Tragödie wahrgenommen. Die Tragödie der ermordeten jüdischen Mitbürger habe keine ähnliche Reaktion hervorgerufen wie die Verbrechen, die von den Deutschen an nichtjüdischen Polen im Pawiak-Gefängnis verübt wurden, so Tomasz Szarota. Nirgendwo habe als Begründung für den Warschauer Aufstand auf den Mauern Warschaus gestanden: „Wir rächen das Ghetto“, nur: „Wir rächen Pawiak“. Durch Zuwanderung vom Lande verlor sich nach dem Krieg die Erinnerung an den Holocaust in Warschau. Die Stadt war nicht mehr multinational, und es gab kaum jemanden mehr, der die Erinnerung an jenes Warschau hätte wachhalten können. Gleichzeitig konsolidierte sich die nationalkommunistische Ideologie, die der Vision einer homogenen Kultur und Nation folgte. Dazu fügt sich das 1948 errichtete bekannte Denkmal des Bildhauers Nathan Rapaport für die Ghettokämpfer. Mit seinen mythologisierten proletarischen Figuren aus einer Vermischung von Romantik und sozialistischem Realismus war es durchtränkt von proletarischer Ideologie und wischte so erfolgreich wie möglich die religiöse Zugehörigkeit der Aufständischen als Kennzeichen ihrer Identität weg – Juden sollten nicht als Juden wahrgenommen werden, sondern wurden als kämpfendes Proletariat instrumentalisiert. Auf diese Weise trug das Denkmal mehr zum Vergessen als zum Erinnern bei. Erst das berühmte Interview, das die Schriftstellerin Hannah Krall 1976 mit Marek Edelman, einem der Anführer des Ghettoaufstands, führte, sowie die Übersetzung der Werke des 1978 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Schriftstellers Isaac Bashevis Singer zeigten den Polen, wie interessant und vielfältig Warschau einst war. Denn während die Stadt für viele Polen die Mutter des patriotischen Widerstands war, war sie für viele Juden eine der größten jüdischen Städte Europas, ein Zentrum des religiösen und politischen Denkens, des literarischen Lebens, ein „Neues Jerusalem“. Diese beiden Gedächtnisse wurden nach dem Krieg weder in Warschau noch anderswo in Polen in Einklang gebracht. Im Gegenteil: Das jüdische Gedächtnis war bis in die 1980er Jahre nicht existent. Das ist einer der Gründe, weshalb bis heute das Wissen darüber begrenzt ist, dass Warschau vor dem Krieg eine auch jüdische Stadt war. Die Zerstörung des Ghettos in Warschau produzierte aber auch Schuldgefühle, wie eine Beobachterin diagnostiziert: Die Polen litten an einer „Schuld durch Vernachlässigung“, an der Schuld, Zuschauer gewesen zu sein. Dieses Trauma führte mit dazu, dass bis heute im öffentlichen Raum Warschaus nicht viel an die Existenz eines jüdischen Viertels erinnert. Das von den Deutschen eingerichtete „Ghetto“ ist heute eine Leerstelle, eine Leerstelle nach dem Ghetto, ein Ort, der nicht an die Zerstörung des Ghettos erinnert, ein Ort, der mit Wohnhäusern gefüllt wurde, aber dem Betrachter die Hermeneutik einer Leerstelle abverlangt. Möglicherweise kann diese Leerstelle durch das neu entstehende Museum für die Geschichte der Juden in Polen ansatzweise gefüllt werden. Ob dadurch die Verdrängung der Erinnerung, die emotional schwierig zu verarbeiten war, kompensiert werden kann, ist eine offene Frage. An Verdrängung waren auch jene interessiert, die an Greueltaten beteiligt waren oder sich während des Krieges oder nach dem Krieg an Juden bereichert hatten. Zudem empfanden viele Polen auch Scham angesichts ihrer negativen Einstellung gegenüber den Juden. Die Unfähigkeit zum Mitgefühl konnte zuweilen in Wut, Aggression und Antisemitismus aus einem Schuldgefühl umschlagen. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs hinterließen jedenfalls tiefe psychologische Erinnerungswunden. Märtyrer- und Opferkonkurrenzen Der Umgang mit dem Ghettoaufstand und dem Warschauer Aufstand ist ein Beispiel für die sogenannte Opferkonkurrenz. Sie beherrschte den polnisch-jüdischen Diskurs zuweilen und trug dazu bei, jüdisches Leben in Polen und auch das jüdische Leiden zu vergessen. Mit dem heute geradezu inflationär gebrauchten Begriff des „Opfers“ verbindet sich in der historischen Debatte zunächst immer eine Art Unschuldsvermutung. Jan Philip Reemtsma hat zusätzlich von der Deutungsautorität des Opfers gesprochen, „als würde großes Leid Einsichten nur hervorbringen, und nicht zugleich Einsichten verhindern“. Opfer und Schuld sind zudem nicht nur gegensätzlich zu verstehen, sondern können durchaus komplementär funktionieren. Vor dem Hintergrund des geschilderten romantischen Paradigmas, das in Polen einen Opfermythos schuf, der sich „so in unserem Bewusstsein verwurzelt hat, dass wir ihn für die historische Wirklichkeit halten“, entwickelte sich in Polen einer Art Selbstimmunisierung gegen die Einsicht, dass der eigene Opferstatus nicht vor der Übernahme von Verantwortung für begangenes Unrecht an Anderen schützt. Der Bürgerrechtler Jacek Kuroń formulierte dazu im Mai 2001 folgende Überlegung: Das Problem besteht darin, dass […] wir uns selbst als Märtyrernation ausgebildet haben und Schwierigkeiten damit haben, anzuerkennen, dass es noch andere Märtyrernationen gibt. Das Konkurrenzdenken zwischen Polen und Juden reicht weit zurück Es findet sich bereits in den Messianismus-Vorstellungen des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz. Beide Völker seien von Gott auserwählte Völker. Polen und Juden müssten den Weg des Exils und des Leidens beschreiten, um „erlöst“ zu werden. Das Scheitern als Nation konnte so in ein Zeichen „göttlicher Gnade“ umgedeutet werden. Ein solches Selbstbild konnte die Geschichte von Niederlage und Viktimisierung zum Ausdruck eines „göttlichen Planes“ umwandeln. Daraus eröffneten sich Möglichkeiten, Unterlegenheitsgefühle abzumildern und in Stärke umzudeuten. Hier sind Parallelen in den Identitätsentwürfen und im Gedächtnis von Polen und Juden zu beobachten. Aus diesen Parallelen entwickelte sich im Zeichen wachsenden Nationalismus ein Identitätswettstreit. Er fand Ausdruck in Debatten über die Frage, wie viel jüdisches Blut in den Adern zahlreicher Polen floss – in der Zwischenkriegzeit wurden mehrere Gerichtsverfahren geführt, um nachzuweisen, dass keine jüdische Herkunft vorlag. Die Frage wurde bei Mickiewicz oder Chopin diskutiert. Nach 1989 musste sich der Präsidentschaftskandidat Tadeusz Mazowiecki öffentlich fragen lassen, ob er Jude sei. Wer jüdisch erscheint, meint sich erklären zu müssen oder wird öffentlich dazu gedrängt. Seit 1945 kommt die Opferkonkurrenz darin zum Ausdruck, dass es vielen Polen angesichts des eigenen Leids schwerfällt, den Opferstatus und die Einmaligkeit des jüdischen Leidens während der Shoah anzuerkennen. Ein symptomatisches Beispiel aus den 1960er Jahren ist der Eintrag „Konzentrationslager“ in der neu erschienenen polnischen „Großen Enzyklopädie“: Da wurde zwischen Konzentrationslagern und Vernichtungslagern unterschieden, zu letzteren zählte man Treblinka und Birkenau. Daraufhin protestierte das nationalistisch ausgerichtete Lager der Polnischen Arbeiterpartei um Mieczysław Moczar, alle Konzentrationslager seien Vernichtungslager gewesen, und auch dem polnischen Volk habe die Ausrottung gedroht. Der Geschichte der polnischen Juden sollte nach dieser Logik keine Einmaligkeit zugestanden werden. Am deutlichsten wurde die Opferkonkurrenz immer wieder im Umgang mit dem symbolischen Ort „Auschwitz“. Das staatsozialistische Regime machte Auschwitz zu einem Symbol für die Verfolgungen und Widerstand der polnischen Nation – die Ermordung der Juden wurde weitgehend ausgespart. Nach dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in der Gedenkstätte im Jahr 1979 wurde dem Lager darüber hinaus eine neue, religiös polnisch-katholische Bedeutung verliehen, woraus sich nach 1989 zunächst zahlreiche Konflikte entwickelten. Erinnert sei hier an den Streit um das Karmeliterinnenkloster in einem an das Lager angrenzenden Haus und um die dort errichteten Kreuze in der ehemaligen Kiesgrube. Diese einseitige Aneignung von Auschwitz ist unterdessen überwunden, so dass Auschwitz heute für viele Polen ein polnisches, ein jüdisches, ein multinationales und ein universelles Symbol ist. Historiographische Aufarbeitung Auch die polnische Historiographie trug nach dem Krieg kaum dazu bei, die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung aufzuarbeiten. Im Vordergrund standen der Terror der deutschen Besatzungsbehörden, das Märtyrertum der polnischen Nation sowie der heldenhafte Kampf gegen die Besatzer. Die polnische Historiographie betrachtete Polen und Juden überwiegend als separate Untersuchungsgegenstände. Diese Tendenz findet sich ebenso in anderen national ausgerichteten Historiographien wie etwa der jüdischen oder der deutschen Geschichtsschreibung. Seit Ende der 1960er Jahre wurde das Bild in der polnischen Historiographie etwas komplexer und das Schicksal der Juden wurde teilweise mit in die Untersuchungen zum Zweiten Weltkrieg einbezogen. Der Schwerpunkt lag aber weiterhin auf der politischen Geschichte des Besatzungsregimes. Bis in die 1980er Jahre blieben die Juden aus der Geschichte Polens und – als eigenständige Opfergruppe – aus den offiziellen Arbeiten über den Krieg ausgespart. In den 1980er Jahren relativierte sich die traditionelle Erzählung vom polnischen Widerstand und dem heldenhaften und helfenden Verhalten während der Besatzungszeit. Anstöße kamen aus der internationalen Holocaust-Forschung, die das Verhalten der Bevölkerung in Polen teilweise als passiv, gleichgültig oder schadenfreudig beschrieb. Dass die Polen dem Völkermord an den Juden gleichgültig gegenübergestanden hätten, war auch die These des Essays „Die armen Polen schauen aufs Ghetto“, mit dem der Literaturwissenschaftler Jan Błoński 1987 eine erste breite Debatte über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs entfachte. Nach 1990 kam es zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Völkermord an den Juden, was zu einer Welle von populären Darstellungen, Filmen, Kunstwerken und Videoinstallationen führte. Auch in der wissenschaftlichen Forschung bestand Nachholbedarf. Die eigenständige Erforschung des Holocaust in Polen war nur 1945–1947, in beschränktem Maße bis Anfang der 1960er Jahre und nur mit einer begrenzten öffentlichen Wirkung möglich. Neue Gedächtnisrahmen in der globalen Welt: Erinnerung nach 1989 Seit 1990 ist in einer nachholenden Aneignung eine intensive Beschäftigung mit der Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg zu beobachten. Die Tatsache, dass sich alle Vernichtungslager auf polnischem Territorium befinden, verleiht dieser Beschäftigung ihre besondere Dramatik und regionalgeschichtliche Brisanz. Die enge räumliche Verbindung von Völkermord an den Juden und Verfolgung der nichtjüdischen Polen etwa in Auschwitz wirft die Frage auf, welche nationale und internationalen Erinnerung angemessen ist und was ausgewogenes Gedenken bedeutet. Die Lage der Vernichtungslager lenkt immer wieder den Blick der Weltöffentlichkeit auf Polen. Diese internationale Dimension empfinden einige Polen als belastend, weil sie um das Ansehen Polens in der Welt fürchten, was nur schlecht mit dem polnischen Selbstbild einer moralischen Überlegenheit harmoniert. Infolge dessen besteht in Polen eine Konkurrenz zwischen polnischer und internationaler Erinnerung, die zum Beispiel während der Reisen israelischer Jugenddelegationen nach Auschwitz-Birkenau zum Ausdruck kommt, während derer sie nur wenig Kontakt zur polnischen Bevölkerung haben. Sie beschäftigen sich kaum mit dem heutigen Polen oder der Tatsache, dass auch zahlreiche Polen in Auschwitz und während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren. Ähnlich verhält es sich mit dem jährlich im April stattfindenden „Marsch der Lebenden“ in Polen. Gleichzeitig ist Polen aber auch Teil der internationalen Entwicklungen nach 1989 und prägt diese mit. Überall in Europa begannen sich in den frühen 1990er Jahren scheinbar feststehende Gedächtniskonstruktionen der unmittelbaren Nachkriegszeit aufzulösen. Damals hatte sich in den betroffenen Ländern ein recht stabiles kollektives Gedächtnis herausgebildet. Kern war die unumstrittene Tatsache, dass das nationalsozialistische Deutschland am Zweiten Weltkrieg die Schuld trug und den Europäern während des Krieges viel Leid zufügte. Fragen der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten blieben ausgeblendet. In vielen Ländern entstand der Mythos des eigenen Widerstands. Auch in Polen hat dieser Mythos seine Wirkungen nicht gänzlich verloren. Erst mit den Debatten über Jedwabne und das zweite Gross-Buch Angst wurden die vielen Abstufungen von Mitwirkung an den Verbrechen der Deutschen und die Verstrickungen in Schuld bekannt. Nicht zuletzt dadurch, dass die Angehörigen der Erlebnisgenerationen sterben, fand nach 1989 überall in Europa ein fundamentaler Wechsel von der Kriegserinnerung zum kulturellen Gedächtnis statt. In den Mittelpunkt der kulturellen Gedächtnisse rückten der Holocaust, aber auch der Genozid an Sinti und Roma sowie die Verfolgung und Ermordung Behinderter und Homosexueller. Die Tatsache aber, dass der Holocaust vor allem für den westlichen Teil Europas zu einer Art „negativem Gründungmythos“ geworden ist, ist nicht einfach auf „den Osten“ zu übertragen: Erinnerung lässt sich nicht im Namen einer europäischen Erinnerungskultur homogenisieren – man kann niemanden auf eine normative Erinnerung festlegen. Der Holocaust kann für die polnische Gesellschaft nicht die gleiche Rolle spielen wie für die deutsche. Gleichwohl fordern aber auch Polen, den Holocaust als ein universales Ereignis anzuerkennen, als nicht enden wollende Trauerfeier, an der auch die Polen teilnehmen sollten. Diese Trauer sollte eine ethische Haltung sein, so die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion, und zitiert einen Gedanken von Maria Czapska aus der Pariser Exilzeitschrift Kultura von 1957: Der furchtbarste Völkermord in der Menschheitsgeschichte, das Massaker an mehren Millionen Juden in Polen, das von Hitler als Hinrichtungsort ausgewählt wurde, das Blut und die Asche der Opfer, die in polnischem Boden versickerten, bilden ein wichtiges Band, das Polen mit der jüdischen Nation verknüpfte, wobei es nicht in unserer Macht steht, uns von diesem Band zu lösen. Diese Verpflichtung gelte für Polen und Europa gleichermaßen. Janion fordert von ihren Landsleuten, eine bislang nicht bekannte Empathie zu zeigen, den Holocaust zu beweinen und die Geschichte Polens neu zu erzählen. Ähnlich ruft der Schriftsteller Kazimierz Brakoniecki dazu auf, den jüdischen Schmerz und die jüdische Trauer zu achten, die ein Erbe der ganzen Menschheit seien. Auf einen solchen Weg, so Janion, könne nur die Kritik der eigenen Mythen führen. Die Jedwabne-Debatte muss als ein Schritt auf einem solchen Weg gesehen werden, der über die Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Gedächtnisses führt. Dass dies kein linearer oder unumkehrbarer Prozess ist, liegt in der Natur des Gedächtnisses. Einen gesicherten und von allen geteilten Konsens, der nie mehr in Frage gestellt würde, kennt eine Demokratie nicht. So kam auch nach der Jedwabne-Debatte keine solche, allgemein geteilte Übereinkunft zustande. Denn auf sie folgte die Gegenwelle einer erneuten Heroisierung und Rückkehr zu einer konfrontativen Kriegsvergangenheit, als handele es sich um eine Schockreaktion auf die verlorene Unschuld. Dies machte sich unmittelbar nach der Jedwabne-Debatte an der einsetzenden Geschichtspolitik bemerkbar, die von der damaligen Regierung forciert wurde, um ein positives Gemeinschaftsgefühl, einen „affirmativen Patriotismus“ zu stiften und ein positives Bild von Polen im Ausland zu schaffen. Dies wurde aber auch an der Debatte über das „Zentrum gegen Vertreibungen“ deutlich. Denn die Jedwabne-Debatte hatte unter den Verfechtern der Geschichtspolitik die Frage aufgeworfen: „Wenn wir uns schon auf ein kollektives Gefühl von Scham einigen, wie können wir uns dann nicht auf ein kollektives Gefühl von Stolz verständigen?“ Manch einem Beobachter schien es nun, als sollte die Geschichtspolitik auf den Weg gebracht werden, um das Thema der polnisch-jüdischen Beziehungen aus der Öffentlichkeit zu eliminieren. Dass dies nicht gelang und nicht gelingen konnte, zeigte die neuerliche Diskussion über Jan Tomasz Gross’ nächstes Buch Angst (Strach). Laut Gross ist der polnische Antisemitismus, dem er eine weite Verbreitung in der Nachkriegsgesellschaft attestierte, auf die Angst der Polen vor der Rückgabe des jüdischen Besitzes an die zurückkehrenden Holocaust-Überlebenden sowie auf ihre Schuldgefühle aus ihrem Verhalten während der Besatzungszeit zurückzuführen. Besonders an den Positionen der Vertreter der nationalen Rechten sowie des Episkopats wurde deutlich, dass sie noch nicht gewillt sind, sich von den alten Mythen zu verabschieden. So formulierte Kardinal Stanisław Dziwisz in einem offenen Brief an den katholischen Verlag des Buches, es sei nicht dessen Aufgabe, die Dämonen von Antipolonismus und Antisemitismus zu wecken. Zudem behauptete er, das Buch schaffe eine Atmosphäre für Nationalitätenspannungen in Polen. Allerdings sind Kontroversen und Selbstverständigungsdebatten einer demokratisch verfassten Gesellschaft ein unverzichtbarer Bestandteil politischer Kultur und ein Gradmesser nicht nur für deren Existenz, sondern auch für deren Qualität. Sie zielen weder auf Freispruch noch auf eine Verurteilung, sondern auf Einsicht und Verständigung. Nichts anderes aber als eine polnisch-polnische, demokratische Selbstverständigungsdebatte ist die anhaltende Diskussion um das polnisch-jüdische Verhältnis in Polen. Insofern kann sie auch nicht den polnisch-jüdischen Dialog blockieren, wie der Soziologe Ireneusz Krzemiński mit Blick auf das Buch Angst behauptete. Im Gegenteil – sie kann ihn höchstens fördern, sind doch die eigenen Erinnerungen eine Bedingung für die Empathie mit der Erinnerung und das Leiden des Anderen. Der „mythische“ Jude Deutlich wird in diesen Debatten, dass das Thema kaum jemanden gleichgültig lässt, weder in der Historiographie noch in der Öffentlichkeit in Polen. Wenige, wenn überhaupt andere Narrative in der europäischen Zeitgeschichte sind so gebrochen wie das der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs. Diese Gebrochenheit reicht bis in die Gegenwart, und es gibt in Polen nach wie vor kein zweites historisches Thema, das so stark polarisiert: Moralische Sensibilität prallt auf Ressentiment. Denn für einen bedeutenden Teil der polnischen öffentlichen Meinung bedeutete die sogenannte „jüdische Frage“ im 20. Jahrhundert mehr als nur die Aufgabe, das Zusammenleben mit einer Gemeinschaft zu gestalten, die eine andere Religion, andere Gewohnheiten und teilweise andere Berufe hatte. Die sogenannte „jüdische Frage“ bildete den Kern der Weltanschauung der nationalen Rechten in Polen, den Kern ihrer Weltanschauung in gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und geistigen Fragen. Die Juden erschienen in diesem Weltbild als Verkörperung eines satanisierten Bösen, des Verrats und der Niederträchtigkeit. Als solche waren sie die zentrale Figur dieses Weltbildes. Weil die dämonische Rolle von niemand anderem übernommen werden konnte, überdauerte dieser „symbolisch-mythische Jude“ in der gesellschaftlichen Vorstellung auch dann noch, als es nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch Juden in Polen gab. Fortan existierte im polnischen Bewusstsein ein symbolischer Jude, der einen wesentlichen Bestandteil des Autostereotyps vieler Polinnen und Polen ausmacht. Das ist der Grund, weshalb in jeder politischen Krise das Bild vom „niederträchtigen“ Juden wieder aufleben kann. Dieses Bild spricht in unterschiedlichen Varianten vorhandene Gedankenmuster an. Sie reichen von Juden als Kommunisten oder Kapitalisten, Dissidenten bis zu Zionisten oder Talmudisten, die sich hinter den Kulissen verbergen, sich gegen Polen verschworen haben und die Strippen ziehen. Es kommt zu einer Judaisierung des abgelehnten Anderen – und darüber, wer Jude und wer anders ist, entschieden schon immer nicht die Juden oder die Anderen selbst, die meist so anders gar nicht waren oder sein wollten. Wer aus dem Korpus Nation herausdefiniert wird oder sich vermeintlich absoluten Werten wie dem Katholizismus oder der Familie entgegenstellt, die stets als Stützen der Nation gegolten hatten, kann eine potentielle Bedrohung darstellen. Mit solchen Argumentationen wurden früher Juden belegt, heute treffen sie andere, so Andrzej Walicki. Heute, so scheint es, sind dies in der Wahrnehmung der politischen Rechten vor allem Feministinnen und Homosexuelle. Was die Stigmatisierung der Homosexuellen betrifft, ähneln sich die Argumentationen von heute und damals in den 1920er und 1930er Jahren auf erstaunliche Weise: Homosexuelle gelten in dieser Lesart wie Juden als innerer Feind ohne eigenes Territorium, beide werden als antipolnisch gezeichnet, als „fremd“ und als eine innere Gefahr für die polnische Familie als Stütze der Nation. Auf Demonstrationen kommt es zuweilen zu direkten Vergleichen wie in den Losungen: Zrobimy z wami co Hitler z Żydami (Wir machen mit euch das, was Hitler mit den Juden gemacht hat) und To jest prawda a nie mit, tam gdzie gej tam i żyd (Es ist die Wahrheit und kein Mythos: Dort, wo ein Schwuler ist, ist auch der Jude nicht weit). Dieser Rückgriff auf antisemitische Versatzstücke ist nicht repräsentativ für die polnische Gesellschaft. Er wird von der Rechten und äußersten Rechten verwandt. Den meisten, zumal jüngeren Polen, ist dieses Denken fremd. Dennoch verweist der Rückgriff darauf, dass das vormoderne, antisemitische Denkens sowie der Antisemitismus aus der Zwischenkriegszeit weiterhin existieren. Hier stellt sich die Frage, welches Gut nach diesem Weltbild Juden oder Homosexuelle bedrohen. Für Menschen, die dieses Weltbild hegen und das Medien wie das viel gehörte Radio Maryja oder die Tageszeitung Nasz Dziennik propagieren, geht es um die Bedrohung der eigenen Identität – um die Angst vor dem Verlust der traditionellen Familie, die als Grundlage der Nation gilt. Was Juden und Homosexuelle verbindet, ist ihr Ort in der Konstruktion einer national-katholisch konstruierten Identität. Der symbolische Jude ist nach wie vor präsent. Dies zeigt auch die Anwesenheit des Begriffs „Jude“ in unterschiedlichen sprachlichen Ausformungen in Diskursen und Formeln in Polen: in volkstümlichen Redeweisen, auf der Straße, wo sich Kinder gegenseitig als „Juden“ beschimpfen, wenn sie einander beleidigen wollen, im Fußballstadion, wo der Gegner als „jüdisch“ verunglimpft wird, im Alltagsgespräch beim Einkauf oder mit Handwerkern, in denen Juden als Symbole für etwas Schwankendes, Unzuverlässiges, Schmutziges, Perfides und Falsches stehen. „Der Jude“, dieses „abstrakte Negativsymbol“, wie Leszek Kołakowski ihn genannt hat, bleibt ein traditionelles Objekt von Aggression. Als Gegenstück zur Präsenz des „mythischen Juden“ haben Schriftsteller und andere Entdecker in Polen, die sich in Initiativen und Gesellschaften wie Borussia in Allenstein, Pogranicze Sejny oder im deutsch-polnischen Projekt Spurensuche engagieren, begonnen, auf eine archäologische Art und Weise das Leben der Juden dem Vergessen zu entreißen. Vor Ort sollen ihre Lebenswelten, ihre Straßen und Plätze, ihre Werke und Gebäude, ihre Synagogen und Bräuche kenntlich gemacht werden. Diese Initiativen gehen oftmals von Nichtjuden aus. Dadurch entsteht zuweilen das, was Ruth Ellen Gruber „virtual Jewish“ nennt: eine vermeintlich jüdische Kultur ohne Juden. Zwar besteht immer die Gefahr einer Folklorisierung und klischeehaften Verzerrung jüdischen Lebens. Klezmer-Musik und jüdische Restaurants blühen in Berlin ebenso wie in Kazimierz in Krakau, an Orten, die Zentren des europäischen Judentums waren und wo es heute keine Juden mehr gibt. Doch sie blühen dort genau deswegen, weil es Juden dort nicht mehr gibt. Dies scheint die Alternative zu sein: Entweder wird jüdische Kultur vergessen, wie es bislang in Warschau weitgehend der Fall war oder sie wird virtuell. Dies heißt aber auch, dass die Vorstellung davon, wer die osteuropäischen Juden waren, zunehmend vom virtuellen Judentum bestimmt wird. Wege des Erinnerns Bei dem Versuch, die unterschiedlichen Ebenen des Erinnerns an die jüdische Bevölkerung zusammenzufassen, fällt auf, dass sich die Erinnerungslandschaft in Polen trotz einiger Kontinuitäten vor allem seit 1990 stark verändert. Die Aufarbeitung der Verflechtungsgeschichte mit den Juden sowie der polnisch-ukrainischen, der polnisch-russischen und der polnisch-deutschen Geschichte findet ihren Ausdruck in der Historiographie und in den zahlreichen öffentlichen Debatten. Der ehemalige Außenminister Stefan Meller sieht in diesen Vergangenheitsdebatten auf lange Sicht einen Segen für das Land. Im Umgang mit der Vergangenheit befindet sich Polen in einem Interregnum. Das Vergangene ist nicht mehr dort, wo es gestern noch war. Das Land befindet sich zwischen verschiedenen Mythen, von denen die einen noch nicht und die anderen nicht mehr akzeptiert sind. Auf der einen Seite werden überlieferte Einstellungen zur Verfolgung der Juden in Frage gestellt, die bis jetzt eher als Hilfe für verfolgte Juden oder als ohnmächtiges Beiseitestehen erinnert wurden. Auf der anderen Seite sind die polnische Öffentlichkeit und die Geschichtswissenschaft darüber gespalten, wie die begrenzte Beteiligung einiger Polen an der Shoah einzuordnen ist. Es ist nicht absehbar, ob es möglich ist, zu einer integrierten Erinnerungskultur zu gelangen, oder ob auf Dauer zwei getrennte, nicht oder kaum miteinander kommunizierende Erinnerungsgemeinschaften entstehen werden. Die Geschichtswissenschaft, die sich mit der Zeit der deutschen Besatzung beschäftigt, wird ebenso wenig wie die Öffentlichkeit daran vorbeikommen anzuerkennen, dass die Polen trotz der Ghettomauern – weit mehr als bisher angenommen – auf vielfältige Art in das Schicksal der Juden involviert waren. Wer den Weg zu einer integrierten Geschichte und Erinnerungskultur einschlagen möchte, wer von einem exklusiven Erinnern, das zwischen Polen und Juden trennt, hin zu einem inklusiven Erinnern kommen will, das Polen und Juden in ihrer gemeinsamen Geschichte umfasst, müsste wohl vor allem die nationalstaatliche Ebene verlassen oder zumindest kritisch hinterfragen. Bislang ist der Bezugspunkt der meisten Debatten der Nationalstaat, der monoethnisch gedacht wird. Doch die polnische Staatsnation war niemals monoethnisch. Die modernen Nationalstaaten waren keine realen ethnonationalen Entitäten, sondern gingen aus historischen Konstrukten hervor und basieren auf Mythen. Die Nation und der Nationalstaat übten in der europäischen Geschichte eine enorm hohe Anziehungskraft zur Identitätsstiftung aus, nicht zuletzt auch auf die Zionisten unter den Juden. Die Nation bildet nach wie vor einen wichtigen Referenzpunkt. Doch ausschließlich nationalstaatsfixierten Geschichtsbildern verhaftetes Denken tendiert dazu, nationale Gruppen eindeutig zu trennen, obwohl die Selbstwahrnehmungen der Menschen keineswegs immer so eindeutig „polnisch“ oder „jüdisch“ waren und sind, wie es sich Nationalisten vorgestellt haben und vorstellen. Die nationalstaatliche Ebene zu verlassen bedeutet eine Chance, weil auf diese Weise auch die nationale Selbstschau, die vor allem auf Kontinuität und Homogenität setzt, schwieriger wird. Die polnischen Debatten von heute sind gerade deswegen so schmerzhaft, weil sie bereits als transnationale Selbstverständigungsdebatten den nationalen (Schutz)-Raum verlassen haben. Der Holocaust etwa ist sowohl im Gedenken als auch in der politischen Rezeption zu einem universalen Orientierungspunkt geworden – allerdings mit sehr unterschiedlichen Funktionen. Aber vielleicht ist es das, was überhaupt ein offenes historisches Gedächtnis erst ermöglichen kann: den Nationalstaat zu verlassen, sich zu öffnen und andere Bezugspunkte zu suchen, über die geforscht und gestritten werden kann. Die historischen Gedächtnisse wären dann weniger vertikal, sondern horizontal angelegt. In den Vordergrund würde Differenz statt Homogenität rücken. Gelänge es, die heutige Unvereinbarkeit nationaler Erinnerung zu überwinden, keine Schuld aufzurechnen, keine Opferkonkurrenz zu betreiben und sich dem Prinzip der Selbstbefragung zu verschreiben, das Leiden des Anderen und die eigene Schuld anzuerkennen, könnte die normative Exklusivität der partikularen Geschichten zwischen Juden und Polen selbst zur Vergangenheit werden.

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