Titelbild Osteuropa 1/2010

Aus Osteuropa 1/2010

Über Michail Chodorkovskij & Ljudmila Ulickaja

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Abstract in English

(Osteuropa 1/2010, S. 27–28)

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Michail Chodorkovskij war Ende der 1990er Jahre einer der reichsten Männer Russlands. Im Oktober 2003 wurde er festgenommen und im Mai 2005 wegen Steuerhinterziehung und planmäßigen Betrugs – ebenso wie sein Kompagnon Platon Lebedev – zu neun Jahren Haft verurteilt. Ein Jahr dieser mittlerweile auf acht Jahre reduzierten Strafe verbrachte er in einer Besserungskolonie im südostsibirischen Krasnokamensk, zwei weitere Jahre im Untersuchungsgefängnis von Čita. Dort erreichte ihn ein Schreiben Ljudmila Ulickajas. Der Briefwechsel, der sich daraus entwickelte, erschien Anfang September 2009 in der Novaja Gazeta. Wir drucken ihn hier ungekürzt. Ljudmila Ulickaja knüpft mit ihrem Brief an Chodorkovskij an ein schriftliches Interview an, das der unter seinem Pseudonym Boris Akunin bekannt gewordene Grigorij Čchartišvili mit Chodorkovskij im Jahr 2008 für das Magazin Esquire führte. Der Schriftsteller und Japanologe befragte den ehemaligen Jukos-Chef vor allem zu den Umständen des ersten Prozesses, zu den Hintergründen und den politischen Motiven. Der Kreml habe, so Chodorkovskij im Interview mit Akunin, 2003 einen Kompromiss mit den Führern der großen Industriekonglomerate aufgekündigt, weil einflussreiche Leute durch die transparenteren Regeln im Erdölsektor, die Jukos wegen der Zusammenarbeit mit internationalen Investoren eingeführt hatte, ihre Pfründe verloren hätten. Als der Umgang mit Korruption auf höchster Ebene diskutiert worden sei, hätten sich die Befürworter eines „Spiels ohne Regeln“, allen voran der damalige stellvertretende Leiter der Präsidialadministration, Igor’ Sečin, durchgesetzt. Zwar rekrutierten sich diese Leute überwiegend aus den Reihen der Gewaltministerien, doch – und diese Einschätzung wiederholt Chodorkovskij gegenüber Ulickaja – seien bei weitem nicht alle „siloviki“ Feinde des Rechtsstaats. So hätten sich etwa der damalige Generalstaatsanwalt Vladimir Ustinov und der damalige Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, Nikolaj Patrušev, neutral verhalten. Seit Februar 2009 sind Chodorkovskij und Lebedev wieder im Moskauer Untersuchungsgefängnis Matrosskaja Tišina inhaftiert. In dem Strafverfahren, das Ende März 2009 eröffnet wurde, wirft ihnen die Staatsanwaltschaft vor, der Erdölgesellschaft Jukos, deren Vorstandsvorsitzender und Hauptanteilseigner Chodorkovskij von 1996–2003 gewesen war, in großem Stile Erdöl gestohlen zu haben, die illegalen Erlöse gewaschen sowie Aktien von Jukos-Tochterunternehmen unterschlagen zu haben. Gefordertes Strafmaß: 22 Jahre. Bereits das erste Verfahren gegen Chodorkovskij sprach jeglicher Rechtsstaatlichkeit Hohn. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Mai 2009 eine Beschwerde Chodorkovskijs in allen Punkten für zulässig erklärt. Der zweite Prozess scheint den ersten an Willkür gar zu übertreffen. Das ist kein Zufall. Die Verhaftung Chodorkovskijs und die Zerschlagung der unter seiner Führung zum russländischen Musterkonzern aufgestiegenen Erdölgesellschaft besiegelten die autoritäre Wende unter Putin. Im zweiten Prozesses wird – politisch, nicht juristisch – auch über die Zukunft Russlands verhandelt. Das Bild auf der Titelseite dieses Hefts zeigt nicht nur Russlands wichtigsten Staatsgefangenen in Handschellen. Die alte Leninsche Frage Kto kogo? – wer wen? – stellt sich auch hier. Der autoritäre Sicherheitsstaat ist ebenso gefesselt. Das Schicksal der heutigen russländischen Machtelite ist eng an das jenes Mannes gebunden, auf dessen Entmachtung ihr Aufstieg beruhte. Der Umgang mit dem Fall Chodorkovskij ist ein Lackmustest für Russland. Das System steckt tief in der Sackgasse der zum Scheitern verurteilten autoritären Modernisierung. Aus ihr kann es keinen Ausweg geben, ohne eine Abkehr von dem Methoden des Polizeistaats. Der Ausstieg aus der Repression ist die Voraussetzung für den Einstieg in die Innovation.

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