Titelbild Osteuropa 10/2011

Aus Osteuropa 10/2011

An der Weggabelung
Zivilgesellschaft und Politik in Russland

Jens Siegert

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Abstract in English

Abstract

Seit der Auflösung der Sowjetunion hat sich Russland fundamental verändert. Während der Perestrojka explodierte die Zivilgesellschaft. Seither sind NGOs und Initiativen einerseits stabil in ihrem Engagement, andererseits sind sie labil und der politischen Großwetterlage ausgesetzt. Die Kooperation zwischen NGOs und Staat in Zeiten eines faktischen Politikverbots ist nur möglich, wenn die Illusion vom „unpolitischen“ Handeln der NGOs aufrechterhalten bleibt. Nun sehen sich viele Vertreter der Zivilgesellschaft an einer Weggabelung. Der mit Putins Rückkehr auf den Präsidentensessel einhergehende Verzicht auf eine grundlegende Modernisierung von Wirtschaft und Politik wird nicht ohne Folgen für zivilgesellschaftliches Engagement bleiben.

(Osteuropa 10/2011, S. 61–76)

Volltext

Seit der Auflösung der Sowjetunion hat sich Russland fundamental verändert. Während der Perestrojka explodierte die Zivilgesellschaft. Seither sind NGOs und Initiativen einerseits stabil in ihrem Engagement, andererseits sind sie labil und der politischen Großwetterlage ausgesetzt. Die Kooperation zwischen NGOs und Staat in Zeiten eines faktischen Politikverbots ist nur möglich, wenn die Illusion vom „unpolitischen“ Handeln der NGOs aufrechterhalten bleibt. Nun sehen sich viele Vertreter der Zivilgesellschaft an einer Weggabelung. Der mit Putins Rückkehr auf den Präsidentensessel einhergehende Verzicht auf eine grundlegende Modernisierung von Wirtschaft und Politik wird nicht ohne Folgen für zivilgesellschaftliches Engagement bleiben.

Russland hat sich in den vergangenen 20 Jahren rasant verändert. Einer der wichtigsten Unterschiede zur Sowjetunion ist die in der russländischen Verfassung festgeschriebene prinzipielle Vereinigungsfreiheit. Diese nutzen vor allem zivilgesellschaftliche Gruppen, von denen es inzwischen mehrere Hunderttausend gibt.[1] Solche vom Staat unabhängige Vereinigungen sind die Grundbausteine der Zivilgesellschaft.

Unter Zivilgesellschaft wird meistens der soziale Raum zwischen den Individuen und Familien auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite verstanden.[2] Es geht also um Menschen, die sich freiwillig zusammenschließen, um gemeinsam etwas Gemeinnütziges oder Wohltätiges zu tun. In dieser Definition liegt bereits eine wichtige Einschränkung. Die Zivilgesellschaft ist prinzipiell nicht gewinnorientiert:

„Was heute Zivilgesellschaft heißt, schließt nämlich die privatrechtlich konstituierte, über Arbeits-, Kapital- und Gütermärkte gesteuerte Ökonomie nicht mehr, wie noch bei Marx und im Marxismus, ein. Ihren institutionellen Kern bilden vielmehr jene nicht staatlichen und nicht ökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis, die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit in der Gesellschaftskomponente der Lebenswelt verankern.[3]

Zivilgesellschaftlich Handelnde haben zwar mitunter das eigene Interesse im Blick, aber niemals den eigenen wirtschaftlichen Vorteil.

Dabei ist es egal, ob und in welcher Form dieses Handeln institutionalisiert wird, also ob dieser Zusammenschluss überhaupt formalisiert und damit staatlich sanktioniert wird. Zivilgesellschaft im hier gebrauchten Sinn ist prinzipiell freiwillig, dem Staat gegenüber autonom, grundsätzlich ungeordnet, sich ständig verändernd und deswegen in ihren Erscheinungsformen äußerst vielfältig.

„Den institutionellen Kern der „Zivilgesellschaft“ bilden jedenfalls nicht-staatliche und nicht-ökonomische Zusammenschlüsse auf freiwilliger Basis, die [. . .] von Kirchen, kulturellen Vereinigungen und Akademien über unabhängige Medien, Sport- und Freizeitvereine, Debattierclubs, Bürgerforen und Bürgerinitiativen bis zu Berufsverbänden, politischen Parteien, Gewerkschaften und alternativen Einrichtungen reichen.[4]

Vereinfachend kann man daher drei Gruppen zivilgesellschaftlicher Akteure unterscheiden:

Zwar erfüllen alle diese Organisationen die oben aufgestellten Bedingungen der Freiwilligkeit, der Staatsunabhängigkeit und der Verpflichtung zum Gemeinwohl. Ein allzu umfassendes Verständnis von Zivilgesellschaft ist für die Analyse des Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft in Russland aber wenig praktikabel. Deshalb sollen hier das freiwillige und ehrenamtliche Engagement in Hobby oder Sport und die ausschließlich karitative und sozial helfende Tätigkeit unberücksichtigt bleiben. Es wird im Folgenden also um jene Gruppen gehen, die eine intermediäre, also vermittelnde kommunikative Funktion zwischen Staat und Gesellschaft wahrnehmen. Ihre Mitglieder wollen sich politisch engagieren, aber nicht Parteien beitreten, streben keine Teilhabe an staatlicher Macht in Form von Mandaten oder Ämtern an. Für solche Gruppen hat sich der Begriff „Nichtregierungsorganisationen“ (Non Governmental Organizations, NGOs) eingebürgert.

Man könnte den Bereich, in dem sich diese NGOs bewegen, auch das Kerngebiet des zivilgesellschaftlichen Engagements nennen. Dies gilt auch für Russland, wo die politisch engagierten NGOs bei der Transformation der autoritären und hoch militarisierten sowjetischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielten. Sie sind durch ihr gemeinnütziges Engagement Träger einer neuen politischen Kultur und ihre dem Gemeinwohl nutzende Tätigkeit und die Anerkennung dieser Tatsache durch die Bevölkerung kann zur Herausbildung neuer, anerkannter und damit legitimer Interaktionsformen in Gesellschaft und Politik führen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen fördern das Entstehen von Vertrauen zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Vertrauen ist ein flüchtiges Gut, das als „ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“[5] helfen kann, die gesell­schaftlichen Transaktionskosten zu senken. Russlands Gesellschaft leidet an einer tiefgehenden und praktisch alle Bereiche erfassenden Vertrauenskrise.[6] Zwar erstreckt sich das verbreitete Misstrauen auch auf NGOs und ihre Aktivisten – paradoxerweise ist es oft gerade das altruistische Engagement, das Misstrauen hervorruft –, doch gerade das wertgeleitete Handeln von NGOs kann einen wichtigen Beitrag zum Aufbau von neuem Vertrauen leisten.[7]

Die Anfänge der russländischen Zivilgesellschaft liegen in der späten Sowjetunion, in der Zeit der Perestrojka. In den 1990er Jahren folgte unter der Präsidentschaft Boris El’cins eine Phase großer Freiheit. Während der ersten Amtszeit Vladimir Putins von 2000–2004 wechselten sich noch erste Versuche, die NGOs in das staatlich kontrollierte System der „gelenkten Demokratie“ einzufügen, mit einer Zusammen­arbeit zwischen Staat und NGOs ab. In der zweiten Amtszeit Putins von 2004–2008 kontrollierte und behinderte der Staat die Arbeit der NGOs immer mehr. Die Hoffnungen, dass Präsident Dmitrij Medvedev für eine demokratische Öffnung sorgen würde, haben sich nicht erfüllt.

Die Perestrojka und das Ende der Sowjetunion

Allen Theorien über Zivilgesellschaft ist gemein, dass sie davon ausgehen, dass für eine funktionierende Demokratie eine funktionierende Zivilgesellschaft notwendig ist. Das ist meist sowohl eine normative Annahme als auch eine empirische Feststellung.[8] Umgekehrt ausgedrückt: Wenn die knappe Ressource Gemeinsinn versiegt, den die zivilgesellschaftliche Initiative verkörpert, dann ist auch die Demokratie gefährdet.[9]

Auch in der Sowjetunion gab es nichtstaatliche Organisationen. Zwar beherrschte die Kommunistische Partei mit ihren mehr als 13 000 Untergliederungen unangefochten das politische und das gesellschaftliche Leben. Doch außerhalb der Partei existierten soziale Vereinigungen, die denen in westlichen Gesellschaften äußerlich sehr ähnlich waren. Die Gesellschaft war schon in der Brežnev-Ära keine „atomisierte“, amorphe Masse mehr wie in der Zeit der totalitären Herrschaft und des Großen Terrors unter Stalin, als der Einzelne kaum mehr war als ein rechtloses Rädchen in einer allmächtigen und allgegenwärtigen Staatsmaschine. Die spätere, poststalinistische Sowjetunion zeichnete sich eher durch einen unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag zwischen der herrschenden Partei und den Bürgern aus: Die Bürger mischten sich nicht in die Politik und der Staat nicht zu sehr in das private Leben der Bürger ein. Dafür übernahm der Staat die Daseinsfürsorge. Formal zivilgesellschaftliche Vereinigungen wie Gewerkschaften oder Kooperativen waren in der Sowjetunion niemals autonom, sondern immer von Partei und Staat abhängig. Ihre Funktion war es, den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben und der Verfolgung seiner – umfassenden Interessen – zu „unterstützen“. Das Primat von Partei und Staat durfte unter keinen Umständen angetastet werden.

Zivilgesellschaftliches Engagement – man sollte für die Sowjetunion wohl eher von sozialem Engagement sprechen – war nur unter strenger Kontrolle durch den Staat und die Kommunistische Partei möglich. Ansonsten war es verboten. Aber Verbotenes existiert ja trotzdem, sonst gäbe es das Verbot nicht. In der Sowjetunion waren es seit Mitte der 1960er Jahre die Dissidenten, die sich für Menschen- und Bürgerrechte einsetzten. Sie wurden dafür bis zum Beginn von Gorbačevs Perestrojka verfolgt, in Straflager gesteckt oder ins Exil gezwungen. Eine der wichtigsten Forderungen der ersten Massendemonstrationen 1988 war daher die Abschaffung von Artikel 6 der sowjetischen Verfassung, der die führende Rolle der Kommunistischen Partei festschrieb. Auf der Basis dieser Bestimmung fußte das Verbot selbständigen gesellschaftlichen und politischen Handelns außerhalb der Partei.

Als dieses Verbot fiel, explodierte die Gesellschaft geradezu. Unkontrolliert und ungesteuert von Staat und Partei entstand eine große Zahl neuer Zusammenschlüsse. Legalisiert und gesetzlich geregelt wurde die Tätigkeit nichtstaatlicher – bzw. wie es bis heute in Russland überwiegend heißt: gesellschaftlicher – Organisationen erstmals durch das sowjetische Vereinigungsgesetz vom 9. Oktober 1990.[10]

Mitte Oktober 1990 berichtete die kommunistische Parteizeitung Pravda von mehr als 11 000 vom Staat unabhängigen Organisationen. Die meisten waren sehr klein, oft um einzelne Persönlichkeiten gebildet und zerfielen sehr schnell wieder. Es gab wenig Erfahrung, kaum Professionalität und noch weniger Geld.

Aufbruch und Abbruch unter El’cin

Noch vor dem Ende der Sowjetunion rückten viele zivilgesellschaftliche Aktivisten und einige der neuen Gruppen in Vermittlungsfunktionen zwischen dem Staat und der Gesellschaft. Diese Verflechtung von zivilgesellschaftlichen Initiativen und staatlichem Handeln nahm nach der Auflösung der Sowjetunion zum 31.12.1991 weiter zu. Im sich schnell abzeichnenden Machtkampf zwischen dem im Juni 1991 zum ersten Präsidenten Russlands gewählten Boris El’cin und dem Obersten Sowjet neigten die meisten NGOs El’cin zu, denn sie sahen in ihm ‑ wie sich später zeigte: zu Recht – einen Verbündeten im Kampf gegen eine Rückkehr zu sowjetischen Verhältnissen. El’cin brauchte seinerseits alle Verbündeten, die er bekommen konnte, um gegen den Obersten Sowjet zu bestehen und an der Macht zu bleiben.

Nun kam auch El’cin aus dem Parteiapparat, war Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU gewesen. Viele NGOs unterstützten also jenen Teil der ehemaligen sowjetischen Nomenklatura, der liberale Reformen versprach gegen jenen, der sich diesen widersetzte. Das war eine Koalition, wie es sie in vielen postkommunistischen Staaten nach dem Umbruch gab.

Im Frühjahr 1993 verschärfte sich der Machtkampf zwischen dem Obersten Sowjet und Präsident El’cin. Als El’cin Mitte September 1993 mit einem Ukas den Obersten Sowjet für aufgelöst erklärte, enthob dieser den Präsidenten seines Amtes. Am 4. Oktober ließ El’cin nach einer zweiwöchigen Blockade das Weiße Haus, den Sitz des Obersten Sowjets, mit Panzern beschießen und seinen zum „Gegenpräsidenten“ ausgerufenen Vizepräsidenten Aleksandr Ruckoj festnehmen. Im Dezember 1993 wurde per Referendum eine neue Verfassung verabschiedet und ein neues Parlament, die erste Staatsduma, gewählt. Dieser gewaltsame Neuanfang hatte zwei Folgen, die bis heute nachwirken: Die Verfassung wird von den meisten Menschen in Russland nicht als legitim anerkannt. Dem liberalen politischen Lager, und mit ihm den NGOs, wird die Beteiligung an El’cins Gewaltakt zum Vorwurf gemacht.

Der Tschetschenienkrieg, der im Dezember 1994 mit dem Einmarsch russländischer Soldaten in der abtrünnigen Republik im Nordkaukasus begann, führte zu einer weiteren Verschlechterung des Verhältnisses zwischen dem Kreml und jenen NGOs, die die massenhaften Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien kritisierten.[11] Bei den Präsidentenwahlen 1996 unterstützten die NGOs den amtierenden Präsidenten trotz der Entfremdung noch einmal, weil sie fürchten mussten, dass der Chef der Kommunistischen Partei, Gennadij Sjuganov, in den Kreml gewählt werden und eine kommunistische Restauration einleiten würde.

Für einige Organisationen wurde dies zur Zerreißprobe. Die Mitglieder von Memorial, einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen und Zentrum der Kritik gegen den Ersten Tschetschenienkrieg, stritten darüber, ob die Gefahr einer kommunistischen Restauration es trotz des Tschetschenienkriegs rechtfertige, zur Unterstützung El’cins aufzurufen. Obwohl Memorial El’cin nicht direkt unterstützte, sondern lediglich vor der Gefahr eines kommunistischen Präsidenten warnte, traten eine Reihe von Mitgliedern aus.[12]

Zwar gelangte El’cin erneut in den Kreml, doch nur dank massiver Beeinflussung der Wahl. Dies beeinträchtigt bis heute die Legitimität von Demokratie im Allgemeinen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Besonderen. Wie schon 1993 wurden im Namen der Demokratie erneut fundamentale demokratische Prinzipien verletzt. Zwei Jahre später machte dieser sich demokratisch nennende Staat im August 1998 auch im unmittelbaren Wortsinn Bankrott. Im Bewusstsein vieler Menschen in Russland setzte sich die Überzeugung fest, dass Demokratie nur eine andere, vielleicht ein wenig verschleierte Form autoritärer Herrschaftsausübung ist, die zudem wirtschaftlich nicht erfolgreich, ineffektiv und sozial ungerecht ist. Dazu mag auch die recht einseitige Ausrichtung der zivilgesellschaftlichen Organisationen beigetragen haben. In den 1990er Jahren gab es kaum einflussreiche NGOs, die sich mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen beschäftigten. Ausnahmen wie die Konföderation der Verbraucherschutzgesellschaften Russlands (Konfederacija obščestv potrebitelej, KonFOP), die mit der Regierung eine Kompensation für Sparguthaben vereinbaren konnte, die 1998 im August ihren Wert verloren hatten, wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.[13]

So entstanden in den 1990er Jahren zwar zahlreiche NGOs, die vor allem in den Bereichen Menschenrechte und Ökologie tätig waren. Im Vergleich zu Westeuropa und Nordamerika blieb ihre Zahl und die der in ihnen engagierten Bürger in Russland allerdings gering. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens hängt Partizipation auch von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Bis 1998 sank das Bruttosozialprodukt Russlands jedes Jahr, erst 2007 wurde das Niveau von 1991 wieder erreicht. Zweitens machte sich nach den desillusionierenden Erfahrungen mit der von den Eliten gesteuerten Transformation wieder jene Apathie breit, mit der die Gesellschaft vor der Perestrojka auf die Mobilisierungsanstrengungen des Regimes reagiert hatte. Drittens war der Anreiz zur Gründung von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Organisationen aufgrund vielfältiger informeller Netzwerke sowie einer Kultur der gegenseitigen Hilfe gering.[14]

Kontrollversuche – Putins erste Amtszeit

In den 1990er Jahren hatten sich die NGOs in Russland weitgehend frei von staatlichem Einfluss entwickeln können. Das sollte sich schnell ändern, nachdem Vladimir Putin im Jahr 2000 das Amt des Präsidenten übernommen hatte. Putin ging sofort daran, die bis dahin zwar nicht autonomen, jedoch von unterschiedlichen Machtzentren kontrollierten gesellschaftlichen Bereiche wie Medien, Wirtschaft, Parlaments- und Parteiensystem und regionale Verwaltungen systematisch dem Kreml zu unterwerfen.

In einem programmatischen Artikel forderte Putin auch die „Schaffung von Bedingungen, die die Konsolidierung einer echten Zivilgesellschaft im Land fördern“. Dies sei ein notwendiger Schritt zu einem „starken Staat“. Gleichzeitig wollte er „partnerschaftliche Beziehungen zwischen der Exekutivgewalt und der Zivilgesellschaft“ aufbauen.[15] Immer wieder preist Putin in schönen Worten Demokratie und Zivilgesellschaft.[16] Dennoch begann er direkt nach seinem Amtsantritt, auch die NGOs zu disziplinieren oder korporativ einzubinden. Wichtige und einflussreiche NGOs reagierten darauf mit der Bildung von regionalen und überregionalen NGO-Koalitionen. Die größtenteils aus Vertretern großer Moskauer NGOs bestehende Narodnaja Assambleja (etwa: Volksversammlung), in der unter anderem Memorial, die Moskauer Helsinki Gruppe, die Fond zaščity glasnosti (Stiftung zur Verteidigung von Glasnost’) oder die Social’no-ėkologičeskij sojuz (Sozialökologische Union) vertreten sind, war der bekannteste dieser Zusammenschlüsse. Einige ihrer führenden Mitglieder erkennt der Kreml seit Beginn der Präsidentschaft Putin stellvertretend für viele NGOs als Verhandlungspartner an.

Der erste größere Versuch, die NGOs in das staatlich kontrollierte System der „gelenkten Demokratie“ einzufügen, war die Initiative zu einer großen Bürger­versammlung 2001 im Kreml. Zunächst sollten NGOs, die der Kreml als „nicht konstruktiv“ bezeichnete, ausgeschlossen werden. Aufgrund von Auseinander­setzungen in der Präsidialadministration wurde die Narodnaja Assambleja schließlich doch in die Organisation eines „Bürgerforums“ einbezogen,[17] die Bildung einer staat­lich kontrollierten „Vertretung der Zivilgesellschaft“ konnte verhindert werden.[18]

Der Burgfriede zwischen NGOs und dem Kreml hielt bis in den Herbst 2003. Im Oktober ließ der Kreml den Milliardär und Unternehmer Michail Chodorkosvkij verhaften, der mit seiner Stiftung Otkrytaja Rossija (Offenes Russland) zahlreiche Projekte von NGOs finanzierte.

Befeuert wurde die härtere Haltung des Kreml durch den Umsturz in Georgien Ende 2003, den großen Teile der Moskauer Machtelite als Niederlage Russlands auffassten. In der Wahrnehmung des Kremls spielten bei diesem Umsturz von westlichen Geldgebern unterstützte NGOs eine entscheidende Rolle.[19] Präsident Putin drückte das am 26. Mai 2004 in seiner Ansprache vor beiden Parlamentskammern so aus:

„Es gibt Tausende konstruktiv arbeitende zivilgesellschaftliche Vereinigungen in unserem Land. Aber längst nicht alle orientieren sich daran, die wirklichen Interessen der Menschen zu verteidigen. Für einen Teil dieser Organisationen ist es zur vorrangigen Aufgabe geworden, Finanzierung von einflussreichen ausländischen Stiftungen zu bekommen, für andere, zweifelhafte Gruppen und kommerzielle Interessen zu bedienen. Gleichzeitig interessieren sie die dringendsten Probleme des Landes und seiner Bürger nicht.[20]

Kontrollierte Zivilgesellschaft – Putins zweite Amtszeit

Indem der Kreml unabhängige Parteien ausschaltete und die politische Öffentlichkeit immer schärfer kontrollierte, veränderte sich auch die Arbeit der NGOs. In der zweiten Amtszeit Vladimir Putins von 2004–2008 wurden die NGOs in die Rolle von Ersatzparteien gedrängt.[21] Oft mussten sie gleichzeitig Opposition, Kommunikations­kanal zwischen politischer Elite und Gesellschaft und Interessenvertretung sein. Daher entstanden eigentümliche zivilgesellschaftliche Organisationsformen. Teilweise wurden Kommunikationskanäle institutionalisiert, wie etwa mit der 2002 geschaffenen Kommission für Menschenrechte beim Präsidenten unter dem Vorsitz von Ėlla Pamfilova. Anfang 2004 wurde diese Kommission in einen „Rat zur Mitwirkung an der Förderung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte beim Präsidenten der Russländischen Föderation“ umgewandelt. Dem Rat gehörten eine Reihe von öffentlich bekannter Führungspersonen wichtiger oppositioneller NGOs an.

Gleichwohl verschlechterte sich nach dem Machtwechsel in der Ukraine im Winter 2004/2005 das Verhältnis zwischen dem Kreml und den NGOs rapide. Als Reaktion auf die Ereignisse in Kiew, die der Kreml als bedrohlich empfand, richtete er zum Jahresbeginn 2006 eine staatlich kontrollierte „Gesellschaftskammer“ ein und ließ ein neues NGO-Gesetz verabschieden, das im April 2006 in Kraft trat.[22]

Die Gesellschaftskammer hat als eine Art „Zivilgesellschaftsparlament“ bei Gesetzgebungsverfahren Mitwirkungsrechte und soll, so steht es zumindest im Gesetz, die Exekutive kontrollieren.[23] Diese Kontrolle wird jedoch durch die Bestimmung der Mitglieder der Gesellschaftskammer unterlaufen: Ein Drittel wird vom Präsidenten ernannt, das zweite Drittel von diesem ersten Drittel kooptiert; das letzte Drittel wird von sieben in den Föderalbezirken einzuberufenden Konferenzen „gewählt“, ohne dass die Exekutive an bestimmte Verfahren gebunden ist.[24] Viele NGOs beteiligen sich deshalb aus prinzipiellen Gründen nicht an der Gesellschaftskammer, zumal die „die Zivilgesellschaft“ grundsätzlich nicht für repräsentativ vertretbar halten.[25]

Mit dem neuen NGO-Gesetz, gegen das es in Russland und außerhalb Proteste gab, hat sich der Staat weitreichende Kontroll- und Sanktionsinstrumente geschaffen, die er nicht nur bei russländischen NGOs, sondern auch bei in Russland registrierten und tätigen ausländischen NGOs anwenden kann. Die von Präsident Putin oft wiederholte Begründung für das neue NGO-Gesetz war einfach und deutlich: Es gebe Erkenntnisse der Geheimdienste, dass über NGOs terroristische Organisationen finanziert würden. Das müsse verhindert werden. Außerdem sei es nicht akzeptabel, dass über NGOs versucht werde, vom Ausland aus Einfluss auf die russländische Politik zu nehmen. Das Ziel des Gesetzes ist Kontrolle, vor allem der Geldflüsse aus dem Ausland an russländische NGOs, aber auch der Tätigkeit vor allem ausländischer NGOs in Russland überhaupt. Ausländische NGOs mussten sich bis Mitte Oktober 2006 neu registrieren lassen. Das gelang den allermeisten ohne besondere Probleme, wenn auch unter hohen administrativen Anstrengungen. Die ausländischen NGOs müssen seitdem regelmäßig Finanz- und Sachberichte einreichen und Jahrespläne zur Genehmigung vorlegen.[26]

Bis Mitte 2011 gab es trotz des NGO-Gesetzes nur wenige Fälle direkter staatlicher Repressionen gegen russländischen NGOs. Meist handelt es sich um Überprüfungen durch die Registrierungsbehörden, die bei kleinen und kleinsten formalen Fehlern schnell mit der Schließung der jeweiligen NGO drohen. Offenbar geht es dem Staat eher um Einschüchterung als um Repression. Probleme bereitet vor allem, dass unterschiedliche Behörden die NGOs nun mit erhöhter Aufmerksamkeit bedenken: Dies bedeutet in Russland, wo Beschwerde- und Berufungsinstanzen nur sehr eingeschränkt funktionieren, vor allem einen erhöhten administrativen Aufwand. Die Registrierungsbehörden setzen darauf zu überprüfen, ob die NGOs die Bestimmungen des Arbeitsrechts, des Steuerrechts, des Arbeitsschutzes oder des Brandschutzes einhalten. Mit Beanstandungen in diesen Feldern lassen sich politische Gründe für staatliches Vorgehen gegen NGOs vordergründig kaschieren. So wurde im Frühjahr 2008 die Europäische Universität, eine von der Europäischen Union geförderte Hochschule in St. Petersburg, von der Brandinspektion geschlossen und erst einige Monate später nach langwierigen politischen Verhandlungen wieder eröffnet.

Medvedevs Modernisierungsrhetorik

Die Angriffe hoher Politiker auf NGOs hielten bis ins Frühjahr 2008 hinein an. Putin verglich Ende November 2007 NGOs mit „Schakalen, die um ausländische Botschaften streichen“.[27] Als im Frühjahr 2008 Präsident Putin und Ministerpräsident Dmitrij Medvedev die Ämter tauschten, waren die Hoffnungen groß, dass Medvedev das autoritäre Regime mildern würde. Tatsächlich sendete Medvedev entsprechende Signale. Insbesondere besetzte er im Februar 2009 den Pamfilova-Rat neu und vergab nahezu die Hälfte der Plätze an bekannte Kremlkritiker. Unter Mitwirkung des erneuerten Rats wurden dann auch einige Bestimmungen des NGO-Gesetzes von 2006 geändert. Administrative Vorschriften wurden gelockert, was vor allem kleinen NGOs zugute kam; die Neugründung von NGOs wurde ein wenig erleichtert. Die erhoffte Reduzierung der Bestimmungen, auf deren Basis der Staat NGOs verbieten kann, blieb allerdings aus. Auch die Arbeit ausländischer NGOs in Russland wurde nicht erleichtert. Im Sommer 2010 trat die Ratsvorsitzende Ėlla Pamfilova zurück. Sie erklärte, sie habe sich „in einer Sackgasse“ befunden und keine Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Politik mehr gehabt.[28] Die Umstände der Suche nach einem Nachfolger – ernannt wurde der Journalist Michail Fedotov – deuteten zwar darauf hin, dass der Kreml weiter Interesse an institutionalisierten Kontakten mit unabhängigen und kritischen NGOs hat.[29] Doch die Hoffnungen auf weniger prekäre Arbeitsbedingungen und eine bessere Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen haben sich nicht erfüllt. Allerdings haben sie sich in der Amtszeit Medwedjew auch nicht verschlechtert.

Gleichzeitig sind in den vergangenen Jahren neue Formen zivilgesellschaftlichen Engagements vor allem dort entstanden, wo die Lebenswelt der Menschen betroffen ist. Menschen werden vor allem aktiv, wenn sie eine Handlung als Einmischung in ihre Privatsphäre verstehen: Das Auto ist zum Symbol für privaten Raum geworden, deshalb gibt es Proteste gegen die Willkür der Verkehrspolizei. Anwohner wehren sich gegen Immobilienspekulanten und die immer dichtere Bebauung der Innenstädte. Andere wenden sich gegen die Abholzung eines Waldes, der als Naherholungsgebiet dient, wie es etwa in der Moskauer Vorstadt Chimki der Fall war. Diese oft nicht formalisierten Gruppen oder Protestbewegungen sind kein grundsätzlich neues Phänomen, schaffen es jedoch dank regionaler Medien und vor allem des Internets zunehmend, landesweit Aufmerksamkeit zu gewinnen: 2009 protestierten im Fernen Osten Russlands mehrfach mehrere Tausend Menschen gegen die Anhebung von Importzöllen für Gebrauchtwagen, indem sie wichtige Überlandstraßen blockierten; Anfang 2010 gingen mehr als 10 000 Menschen in Kaliningrad gegen die staatliche Sozialpolitik auf die Straße; in St. Petersburg verhinderte eine Bürgerbewegung den Bau eines Gazprom-Wolkenkratzers am Ufer der Neva; selbst in Moskau fand sich eine kleine, aber schlagkräftige Truppe zusammen, um sich gegen den systematischen Abriss von denkmalgeschützten Gebäuden einzusetzen.

Gleichzeitig können die Demonstranten für Demonstrationsfreiheit, die sich jeden 31. eines Monats im Moskauer Stadtzentrum zum Schutz des Verfassungsartikels 31 zusammenfinden, nur auf wenig Sympathie und Unterstützung in der Bevölkerung hoffen. Oder wie es die Verlegerin Irina Prochorova ausdrückt: „Für die freie Presse werden sie nicht auf die Barrikaden gehen, wohl aber für ihren Wohnraum.“[30]

Russlands NGOs haben in den vergangenen Jahren unterschiedliche Strategien des Umgangs mit dem autoritären Staat entwickelt. Eine erste Gruppe setzt auf offene Zusammenarbeit. Bei diesen NGOs ist der Übergang zu staatlichen Nichtregierungsorganisationen (GONGOs) fließend. Die zweite Gruppe umfasst NGOs, die sich entschieden haben, in Einzelfällen und konkreten Fragen mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Sie erhalten sich so einen Kommunikationskanal, der zur Lösung einer Reihe von praktischen Problemen immer wieder nützlich ist. Von Zeit zu Zeit gelingt es, so auch prinzipielle Fragen anzusprechen, etwa die NGO-Gesetzgebung. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Kompromissbereitschaft des Staates sehr gering ist. Die dritte NGO-Gruppe steht der sogenannten außersystemischen Opposition nahe und beschränkt den Kontakt mit staatlichen Stellen auf Fälle, in denen rein praktische Probleme gelöst werden müssen, etwa die Anmeldung einer Demonstration. Zwischen diesen idealtypischen Gruppen gibt es selbstverständlich keine klaren Grenzen.

Jede der drei Gruppen bedient sich im Kontakt mit dem Staat spezifischer Kommunikations- und Verhandlungskanäle: Die erste Gruppe beteiligt sich an den „Gesellschaftskammern“, die der Staat in Moskau und inzwischen auch in den meisten Regionen eingesetzt hat. Die zweite Gruppe ist stark im Rat für Zivilgesellschaft und Menschenrechte beim Präsidenten vertreten. Die dritte Gruppe, die am wenigsten geschützt ist, weil sie am deutlichsten in Opposition zur herrschenden Machtelite ist, wendet sich meist an den Menschenrechtbeauftragten Vladimir Lukin und einen vom ihm berufenen Expertenrat. Der Menschenrechtsbeauftragte wird für vier Jahre auf Vorschlag des Präsidenten vom Parlament gewählt und ist nicht absetzbar.

Meinungsumfragen zeigen, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Russlands bereit ist, sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu engagieren. Nur wenig glauben, dass solches Engagement Erfolg haben kann. Immerhin erklärten im Oktober 2010 aber mehr als zwei Drittel der Befragten, dass ein solches Engagement grundsätzlich nützlich sei.[31] Gleichzeitig wächst angesichts der allgegenwärtigen Korruption und zunehmender Beamtenwillkür die Unzufriedenheit.

Blick in die Zukunft

In Russland gibt es heute eine Vielzahl von NGOs. Dies ist ein grundsätzlicher Unterschied zur späten Sowjetunion, aber auch zu den frühen Jahren der Russländischen Föderation. Versteht man „Zivilgesellschaft“ nicht als einen eigenen Sektor der Gesellschaft, der neben „Politik“ und „Wirtschaft“ besteht, sondern als Entwicklungs­stufe, dann ist Russland heute ohne Frage ein weit „zivileres“ Land als vor 20 Jahren. In jüngster Zeit entstehen zudem neue Formen von „Graswurzelorganisationen“, die an die Anfangszeiten der Neuen Sozialen Bewegungen in westlichen Demokratien in den 1950er und 1960er Jahren erinnern.

In den meisten heutigen Demokratien haben Bestrebungen neuer ökonomisch aktiver Schichten der Gesellschaft zur Schaffung allgemeingültiger, insbesondere auch das Staatshandeln einschränkender Regeln eine wichtige Rolle zur Entwicklung des Rechtsstaats gespielt. In Russlands Rentenökonomie von heute wird diese Schicht von unabhängigen Klein- und Mittelunternehmern aber an den Rand gedrängt und ist staatlichen Repressionen ausgesetzt. Sie müssen sich entweder den Regeln des korrupten Staatsapparats unterwerfen (zumindest dort, wo die Grenzen zwischen Staatsapparat, oder besser noch, innerhalb des Staatsapparats und in seinem Namen Handelnden zur Wirtschaft noch nicht völlig unkenntlich geworden sind), Schutzgelder zahlen oder damit rechnen, mit Hilfe von Geheimdienst, Polizei und Justiz kriminalisiert und auf kaltem Wege enteignet zu werden.[32]

Auch diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass sich gesellschaftlicher Protest in den unmittelbaren Lebenswelten der Menschen regt. Nur wenige Protestbewegungen waren so erfolgreich, dass sie nicht nur regionale öffentliche Aufmerksamkeit hervorriefen, sondern auch ihre soziale Basis soweit verbreitern konnten, dass die öffentliche Aufmerksamkeit auch vom Staat nicht mehr ignoriert oder einfach unterdrückt werden konnte. Das gilt etwa für den ursprünglich von einer kleinen Gruppe von Ökoaktivisten ausgegangenen Protest gegen die Ölpipeline aus Ostsibirien am Bajkalsee vorbei bis an den Pazifischen Ozean, der nach und nach fast die gesamte Region einbezog, die regionale Parteiorganisation von Einiges Russland eingeschlossen. Die erhebliche öffentliche Unterstützung des Protests, deren Grund sicher auch in der fast sakralen Bedeutung des Bajkalsees für Russland liegt, zwang die Regierung, die Trasse einige hundert Kilometer vom Ufer des Sees wegzulegen.[33]

Vergleichbares geschah im Fall des Baus einer Autobahn durch den Wald bei Chimki. Hier gewann der soziale Protest seine Bedeutung durch die Nähe zu Moskau sowie dadruch, dass die Interessen der Anwohner mit denen ökologischer Gruppen und der politischen Opposition zusammenfielen. Der Staat in Person von Präsident Medvedev sah sich gezwungen zu reagieren und bot partiell Kompromisse an. Diese wurden später wieder zurückgenommen und der Bau der Autobahn fortgesetzt.

Allerdings zeigt sich am Beispiel Chimki deutlich, dass breitere Unterstützung und das Eingehen staatlicher Stellen auf Forderungen der Protestierenden allein keine hinreichende Voraussetzung für Erfolg ist. Die staatlichen Stellen scheinen einer Strategie zu folgen. Sobald der Protest anschwillt, beginnen sie mit den Protestierenden zu kommunizieren und deuten Kompromissbereitschaft an. Die vorgeschlagenen Kompromisse sind eher technischer Art und lediglich ein Mittel, um Zeit zu gewinnen. Sobald der öffentliche Druck nachlässt, werden die ursprünglichen Pläne wieder aufgenommen. Gleichzeitig reagiert der Staat auf Herausforderungen, die als Bedrohung für die politische Macht angesehen werden, in der Regel schnell und hart.

Welche Entwicklung die Zivilgesellschaft in Russland nehmen wird, hängt eng mit der politischen Entwicklung des Landes zusammen. Die mit von vielen Beobachtern aber auch Akteuren gehegten, wenn auch schon schal gewordenen Hoffnungen auf eine zumindest allmähliche oder teilweise Öffnung des autoritären politischen Systems dürften sich mit der Entscheidung Putins, im kommenden Mai in den Kreml zurückzukehren zerschlagen haben. Die Präsidentenwahlen im März sind angesichts der umfassenden Kontrolle der Exekutive über den Wahlprozess von der zugelassenen Wahlwerbung im wichtigsten Massenmedium Fernsehen über die Kandidatenzulassung bis zur Auszählung nur eine formale Hürde. Die meisten Beobachter gehen daher davon aus, dass sich am politischen und wirtschaftlichen Kurs des Staats in den kommenden Jahren wenig ändern wird.[34] Einiges spricht jedoch dafür, dass eine solche Stagnation auf staatlicher Ebene zur Stärkung und Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisa­tionen führen wird. Wenn angesichts fehlender oder fehlschlagender Modernisierungs­anstrengungen die sozialen und wirtschaftlichen Probleme wachsen, werden die Proteste zunehmen. Das dürfte zu steigenden Spannungen zwischen Staat und NGOs führen – natürlich immer in Abhängigkeit von politischen Konjunkturen. Der Staat wird weiter versuchen, sich der Fähigkeiten der NGOs zu bedienen, Konfliktpotentiale zu erkennen und zur Entschärfung von Konflikten beizutragen. Entwickelt sich die soziale Lage auf­grund der politischen Stagnation krisenhaft, wird der Staat aber auch öfter als bisher NGOs als Teil der politischen Opposition betrachten und sie stärker behindern. Die Methoden werden die gleichen sein: NGO-Tätigkeit wird diffamiert, indem behauptet wird, sie sei aus dem Ausland gesteuert – was angesichts der geringen Finanzierungs­möglichkeiten für NGOs in Russland nicht allzu schwer ist; gleichzeitig schafft der Staat „GONGOs“, quasi-staatliche NGOs, mit denen er Zivilgesellschaft simuliert.

Genau das aber ist der vielfach befürchtete Punkt, auf den das Land zustrebt, wenn es keine Änderungen gibt.[35] Die Proteste nähmen zu. Der Staat würde darauf mit großer Wahrscheinlichkeit repressiv reagieren. Als Folge würden sich die Möglichkeiten der NGOs verringern, an der Lösung politischer und sozialer Probleme mitzuwirken. Stärkere Repression hätte zur Folge, dass zahlreiche zivilgesellschaftliche Aktivisten in die außerparlamentarische oder – wie es in Russland heißt– in die „außersystemische“ Opposition wechseln. Die NGOs, die bisher noch auf teilweise Zusammenarbeit mit dem Staat und der gemeinsamen Suche nach Problemlösungen orientiert wären, verlören zunehmend den Boden unter den Füßen. Es bestünde die Gefahr eines Teufelskreises in dem sich staatliche Repression und Proteste hochschaukelten. Die ohnhin große Sprachlosigkeit zwischen Staat und wichtigen Teilen der Gesellschaft nähme erheblich zu.


[1]   Am 1.1.2011 gab es in Russland knapp 200 000 staatlich registirierte NGOs. Angaben des Statistikamts, <www.gks.ru/bgd/regl/b11_11/IssWWW.exe/Stg/d1/02-07.htm>. Diese Zahl schließt auch Gewerkschaften und andere Arbeitnehmervereinigungen mit ein. Nicht enthalten sind informelle Gruppen, die nicht staatlich registriert sind.

[2]   David Lane: Civil Society and the Imprint of State Socialism. Bremen 2005 [= Forschungsstelle Osteuropa, Arbeitspapiere und Materialien, Nr. 67], S. 7.

[3]   Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/Main. 1998, S. 443.

[4]   Ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main. 1990, S. 46.

[5]   Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, S. 27.

[6]   Julij Nisnevič: Krizis doverija kak dominantnyj dlja Rossii social’no-polititčkij faktor, <http://lap.hse.ru/data/2010/11/11/1209429395/Artnis67.pdf>.

[7]   Dazu Aleksandr Auzan: Peresčet Maršruta, in: Novaja Gazeta, 1.12.2008, <www.novayagazeta.ru/data/2008/89/24.html>

[8]   Lane, Civil Society [Fn. 2], S. 15.

[9]   So Herfried Münkler: Ehre, Amt und Engagement. Warum Bürgersinn ein knappe Ressource ist und wie deren Reproduktion gesichert werden kann, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 2/2000, S. 22–32.

[10]  Elke Fein: Zivilgesellschaftlicher Paradigmenwechsel oder PR-Aktion? Zum ersten allrussischen „Bürgerforum im Kreml, in: Osteuropa-Spezial 2002, S. 21.

[11]  So das Memorial in einem Bericht über den Umgang mit Gefangenen durch die Truppen der Moskauer Zentralregierung: O. Orlov, A. Čerkasov, S. Sirotkin, Uslovija soderžanija zaderžannych v zone vooružennogo konflikta v Čečenskoj Respublike. Obraščenije s zaderžannymi, <www.memo.ru/hr/hotpoints/CHECHEN/FILTER/ index.htm>.

[12]  Gespräch mit Arsenij Roginskij, dem Vorsitzenden von Memorial International, am 18.7.2008.

[13]  Konfederacija Obščestv Zaščyty Prav Potrebitelej Rossii, <www.konfop.ru>.

[14]  Lane, Civil Society [Fn. 2], S. 14.

[15]  Zitiert nach Fein, Zivilgesellschaftlicher Paradigmenwechsel [Fn. 10], S. 23.

[16]  Die Website demokratija.ru listet eine beeindruckende Zahl solcher Zitate auf: <www.democracy.ru/quotes.php>

[17]  Fein, Zivilgesellschaftlicher Paradigmenwechsel [Fn. 10], S. 19–40.

[18]  Jens Siegert: NGOs in Russland, in: Russlandanalysen, 59/2005, <www.laender-analysen.de>.

[19]  Der Kreml stellte die Ereignisse in Georgien in einen Zusammenhang mit dem Sturz des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosević 1999 sowie später mit der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine zum Jahreswechsel 2004/2005 und wollte ein westliches „Umsturzprogramm“ erkennen, das auch Russland zum Ziel habe.

[20]  Auszug aus der Rede von Präsident Vladimir Putin vor beiden Parlamentskammern am 26. Mai 2004, in: Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Dossier Demokratie in Russland, <www.boell.de/weltweit/europanordamerika/europa-nordamerika-3248.html>.

[21]  Jens Siegert: Über die Zerstörung des öffentlichen Raums. Der Verlust der Politik in Putins Rußland, in: Russlandanalysen, 132/2007, <www.laender-analysen.de>

[22]  Jens Siegert: Spezoperazija. Das neue NGO-Gesetz, in: Russlandanalysen, Nr. 82, 25.11.2005, <www.laender-analysen.de>.

[23]  Der Gesetzestext findet sich auf der Website der juristischen Beratungsfirm „Konsultant“:  <www.consultant.ru/popular/nekomerz/>.

[24]  Elke Fein, Potjomkinsches Parlament und Papiertiger. Die russische Gesellschaftskammer, in: Russlandanalysen 87/2006, <www.laender-analysen.de>

[25]  So Memorial. Erklärung zur geplanten „Gesellschaftskammer der Russischen Föderation“, in Heinrich Böll Stiftung (Hg): Dossier Demokratie in Russland, <www.boell.de/weltweit/ europanordamerika/europa-nordamerika-3240.html>.

[26]  Zu den Auswirkungen des NGO-Gesetzes im ersten Jahr nach seinem Inkrafttreten: Jurij Dzhibladze, Ol’ga Gnezdilova, Darja Milioslavskaja, Natal’ja Taubina: Doklad „Pervyj god primenenija novogo rossijskogo zakonodatel’stva ob NKO: problemy i rekomendacii po izmenenijam“, <www.nkozakon.ru/monitoring/5>.

[27]  Mit der gewaltigen Macht des Mächtigen, in: SZ, 1.12.2007.

[28]  Ė. Pamfilova ob’’jasnila pričiny svoej otstavki, <http://top.rbc.ru/politics/18/10/2010/ 483584.shtml>.

[29]  Dies erklärten Personen, die an diesen Verhandlungen beteiligt waren, in vertraulichen Gesprächen mit dem Autor.

[30]  Bringt die Moderne Unglück, Frau Prochorowa, <www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/im-gespraech-irina-dmitrjewna-prochorowa-bringt-die-moderne-unglueck-frau-prochorowa-15750 50.html>

[31]  Analitičeskij Centr Jurija Levady: Obščestvennoe Mnenie. 2010, Moskva 2010, S. 168.

[32]  Genaue Zahlen fehlen. Medien sprechen von bis zu 300 000 Unternehmern die Rede, die wegen ihrer beruflichen Tätigkeit im Gefängnis sitzen, eine Haftstrafe verbüßt haben oder in Untersuchugnshaft waren. Ekaterina Dobrinina, Košmary malogo bisnesa v Rossii: <www.bbc.co.uk/russian/business/2011/05/110525_corruption_russia_feature.shtml>

[33]  Jens Siegert: Die Pipeline, der Protest und der Präsident, in: Osteuropa, 9/2006, S. 43–55.

[34]  Es wird keine durchgreifende wirtschaftlichen und gesellschaftliche Modernisierung geben, die Wirtschaft bleibt vom Export von Rohstoffen abhängen und politische und soziale Probleme werden durch Transferzahlungen geregelt. Sergej Guriev, Oleg Zyvinskij: Logika političeskogo vyživanija, in: Vedomosti, 27.9.2011, <www.vedomosti.ru/opinion/news/1376015/kogda _konchatsya_dengi>. – Kirill Rogov: Poslednij bastion, in: Novaja Gazeta, 2.10.2011, <www.novayagazeta.ru/data/2011/110/22.html>.

[35]  Zu diesem Schluss kommt die Mehrzahl der rund 40 Autoren des Projekts „Rossija-2020“ des Moskauer Carnegie Zentrums. Pro et Contra, 4–5/2010 und 1–2/2011, <www.carnegie.ru/ proEtContra/?fa=42215>, <www.carnegie.ru/proEtContra/? fa=43947>.

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