Titelbild Osteuropa 5-6/2014

Aus Osteuropa 5-6/2014
Teil des Lesepaket Rechtswissenschaft

Das Völkerrecht der Gebietsreferenden
Das Beispiel der Ukraine 1991–2014

Anne Peters

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Abstract in English

Abstract

Das Referendum auf der Krim im März 2014 steht in der Tradition zahlreicher Gebietsreferenden, die vor allem in Osteuropa in den vergangenen 25 Jahren abgehalten wurden. Demokratische Verfahren der Gebietszuteilung unter Berücksichtigung des Willens der betroffenen Bevölkerung sind zwar störanfällig, bei Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien aber besser als alle anderen Alternativen. Auf der Krim wurden jedoch elementare Durchführungsregeln verletzt. Daher ist das Referendum völkerrechtlich irrelevant. Es handelte sich um eine „comédie plébiscitaire“ zur Verbrämung der militärischen Besetzung und der anschließenden Annexion der Halbinsel durch Russland.

(Osteuropa 5-6/2014, S. 101–134)

Volltext

Im Windschatten der „Majdan“-Proteste gegen den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukovyč und seiner Absetzung erhielten auf Russland orientierte und separatistische Kräfte auf der Krim Auftrieb. Der Oberste Sowjet der Autonomen Region Krim beschloss per Resolution vom 6. März 2014, der Russländischen Föderation beizutreten, zu diesem Zweck ein Referendum abzuhalten und die Staatsduma um die Einleitung des Aufnahmeverfahrens zu bitten.[1] Am 11. März 2014 erklärte der Oberste Sowjet die Unabhängigkeit der Krim.[2] Schon am 16. März fand das Referendum statt, in dem die Bevölkerung zwischen der Wiederherstellung der „Verfassung von 1992“ oder dem Anschluss an die Russländische Föderation wählen konnte. Eine Eigenstaatlichkeit der Krim oder die Beibehaltung des Status quo standen nicht zur Auswahl.

Nach offiziellen Angaben stimmte bei hoher Beteiligung eine überwältigende Mehrheit für den Anschluss an die Russländische Föderation. Am Tag darauf, am 17. März, erkannte Russland die Krim als souveränen Staat an. Der Entwurf eines „völkerrechtlichen Vertrages zwischen der Republik Krim und der Russländischen Föderation über den Beitritt der Republik Krim zur Russländischen Föderation und die Schaffung eines neuen Subjekts der Russländischen Föderation“ wurde dem Verfassungsgericht Russlands zur Prüfung vorgelegt. Mit Urteil vom 19. März stellte das Gericht fest, dass der Vertrag verfassungskonform sei.[3] Am Tag darauf, am 20. März, stimmte das Parlament Russlands dem Vertrag zu. Damit wurde aus Moskauer Sicht die Krim in den russländischen Staat inkorporiert. Laut Vertrag mussten sich die Bewohner innerhalb Monatsfrist – also bis zum 17. April 2014 – entscheiden, ob sie die Staatsbürgerschaft Russlands annehmen wollten oder nicht.

Das Referendum vom 16. März und weitere Gebietsreferenden – etwa dasjenige vom 11. Mai in den ostukrainischen Gebieten Donec’k und Luhans’k – werfen ein Schlaglicht auf die Problematik dieser Rechtsinstitution. Sind nicht die Ergebnisse von Referenden in ethnisch gemischten Gebieten meist durch die Gruppenzugehörigkeit determiniert? Und führt nicht der Rückgriff auf ein Referendum zu immer kleineren Untergruppen, die sich wiederum von den größeren abtrennen wollen? Schließlich haben sich die Bewohner der Ukrainischen Sowjetrepublik, einschließlich jener der Krim, vor gut 20 Jahren in einem Referendum für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion ausgesprochen.[4]

Im Völkergewohnheitsrecht hat sich, gestützt auf Erwägungen der juristischen Folgerichtigkeit und Fairness, das Erfordernis einer demokratischen Entscheidung als eine prozedurale conditio sine qua non für jegliche Gebietsveränderung herausbildet. Anders gewendet, freie und faire Gebietsreferenden sind das reguläre Verfahren, um das Recht auf Selbstbestimmung auszuüben. Das gegenwärtige Völkerrecht fordert, dass Gebietsveränderungen demokratisch gerechtfertigt werden müssen, typischerweise durch eine direktdemokratische Entscheidung, d.h. durch ein Gebietsreferendum. Die Staatenpraxis, die dieses Referendumsgebot begründete, nahm ihren Ausgang schon mit den Plebisziten nach dem Ersten Weltkrieg[5] und den Dekolonisierungsreferenden der 1950er bis 1960er Jahre. Sie wurde intensiviert durch die Referenden während der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens nach 1991, die ihrerseits ein Verfahren der Realisierung des Selbstbestimmungsrechts darstellten.[6] Seitdem wurden praktisch alle Gebietsveränderungen und Grenzveränderungen von Referenden begleitet und gerechtfertigt, oder zumindest durch demokratische Wahlen, in denen die Gebietsfrage der hauptsächliche Programmpunkt war.

In diesem Beitrag wird zunächst die Praxis der Gebietsreferenden nach 1989 rekapituliert. Sodann werden die geltenden völkerrechtlichen Verfahrensstandards diskutiert, um anschließend das jüngste Krim-Referendum am völkerrechtlichen Maßstab zu messen.

Die Praxis der Gebietsreferenden in der „neuen Weltordnung“ nach 1989

Die Anberaumung und beschleunigte Durchführung des Krim-Referendums und die Inaussichtstellung weiterer Referenden war und ist möglich, weil es in Osteuropa eine Kultur – oder Unkultur – der Territorialreferenden gibt.

Die Auflösung der Sowjetunion

Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion wurden zahlreiche Gebietsreferenden organisiert.[7] Am 17. März 1991 wurde ein „All-Unions-Referendum“[8] abgehalten, in dem sich eine Mehrheit der Abstimmenden[9] für den „Fortbestand einer erneuerten Föderation“ aussprach. Allerdings ist dieses Referendum nicht aussagekräftig, weil die Frage unklar war,[10] weil sechs der 15 Sowjetrepubliken das All-Unions-Referendum boykottieren (Armenien, Estland, Georgien – außer den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien –, Lettland, Litauen und Moldova – außer Transnistrien und Gagausien), und weil Zusatzfragen einzelner Republiken teilweise im indirekten Widerspruch zur unionsweiten Frage standen.[11]

Kurz danach begann die sogenannte Parade der Souveränität der Republiken, im Zuge derer die meisten Republiken eigene Unabhängigkeitsreferenden veranstalteten. Diese waren in den drei baltischen Republiken als nicht verbindliche Volks„befragungen“ ausgestaltet. Daneben organisierten sieben Sowjetrepubliken Referenden über die Unabhängigkeit: Georgien (31.3.1991), Armenien (21.9.1991), Turkmenistan (26.10.1991) und die Ukraine (1.12.1991) noch vor der formellen Auflösung der Sowjetunion; Usbekistan (29.12.1991), Aserbaidschan (29.12.1991) und Moldova (6.3.1994) folgten danach.

Das usbekische und das aserbaidschanische Referendum unterstrichen also deklaratorisch die Existenz der Staatlichkeit, welche die ehemaligen Sowjetrepubliken bereits erlangt hatten. Im nichtbindenden Referendum in Moldova im Frühling 1994 wurden die Bürger gefragt, ob Moldova als unabhängiger Staat weiter bestehen oder sich mit Rumänien vereinigen solle. Die Mehrheit sprach sich gegen die Vereinigung mit dem Nachbarland aus. In vielen anderen Gebieten wurden Referenden über einen Autonomie­status und Ähnliches organisiert, etwa im zu Georgien gehörenden Südossetien (19.1.1992),[12] im zu Aserbaidschan gehörenden Berg-Karabach (20. Januar 1991), im zu Russland gehörenden Tatarstan (21. März 1992),[13] und nicht zuletzt auf der Krim.

Nicht alle diese Referenden stießen auf internationale Aufmerksamkeit, und nicht alle Organisatoren rechtfertigten das Referendum mit dem internationalen Recht auf Selbstbestimmung. Ansatzweise war dies jedoch in Georgien und Armenien der Fall sowie in diversen Einheiten unterhalb der Schwelle der Sowjetrepubliken.[14]

Im Gegensatz zum ersten Anschein hatten diese Referenden normalerweise keine Rechtsgrundlage im nationalen Recht der Sowjetunion. Nur das gesamtsowjetische Referendum vom 17. März 1991 war auf Artikel 5 der sowjetischen Verfassung von 1977 gestützt. Im April 1990 war ein sowjetisches Sezessionsgesetz angenommen worden,[15] das Referenden vorschrieb (Art. 2 Abs. 2). Dieses Gesetz hatte den Zweck, das verfassungsmäßige Sezessionsrecht nach Art. 72 der sowjetischen Verfassung von 1977 zu konkretisieren und zu operationalisieren. Die Anwendung dieses Gesetzes hätte eine zusätzliche verfahrensmäßige Rechtfertigung für die bereits stattfindende Sezession der Republiken geliefert, selbst wenn sein primäres politisches Ziel war, die Auflösung der Sowjetunion zu verlangsamen, indem verfahrensmäßige Hürden aufgebaut wurden. Jedoch wurde dieses Gesetz nicht wirklich angewendet und blieb toter Buchstabe.

Die Referendumspraxis war, insgesamt gesehen, relativ unabhängig von ihrer Fundierung im innerstaatlichen Recht: Einige waren rechtmäßig, anderen fehlte eine innerstaatliche Rechtsgrundlage. Sie waren auch unabhängig von einer bestimmten politischen Agenda: Nicht nur neue demokratische Kräfte, sondern auch die alten Parteieliten – etwa in Turkmenistan – griffen auf die Institution des Referendums zurück. Beide Faktoren unterstreichen, dass diese Referenden – objektiv gesehen – weder eine rein innerstaatliche Angelegenheit noch eine rein politische Frage waren. Es ist daher plausibel, sie als Angelegenheit des Völkerrechts zu werten.

Das ukrainische Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Dezember 1991

Die Ukrainische SSR war nach der RSFSR die zweitwichtigste Sowjetrepublik. Daher gab die Ukraine den entscheidenden Anstoß für das Auseinanderbrechen der Sowjetunion. Indem die Ukraine die UdSSR verließ, entzog sie den zu diesem Zeitpunkt noch andauernden Versuchen einer Reform der Sowjetunion die Grundlage. Eine Woche nach dem Referendum in der Ukraine wurde das Abkommen zur Errichtung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten vom 8. Dezember 1991 unterzeichnet, das in der Präambel verkündete, dass die Sowjetunion „als Völkerrechtssubjekt und als geopolitische Realität aufhört zu existieren“.[16]

Bereits am 16. Juli 1990 hatte die Ukraine ihre Souveränität und am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit verkündet. Das Inkrafttreten dieser Unabhängigkeitserklärung wurde an eine Bestätigung durch ein Referendum, das sechs Monate später stattfinden sollte, geknüpft. Dieses Referendum wurde dann am 1. Dezember 1991 abgehalten, gleichzeitig mit Präsidentschaftswahlen. Bei einer Wahlbeteiligung von 84,2 Prozent stimmten 90,2 Prozent der Teilnehmer für die Unabhängigkeit.

Zu diesem Zeitpunkt könnte man die Bevölkerung der Ukraine ethnisch als mehrheitlich „ukrainisch“, diejenige der Krim als mehrheitlich „russisch“ bezeichnen, wobei genaue Proportionen je nach angelegtem Kriterium für die „ethnische“ Zugehörigkeit bzw. Selbstzuordnung stark schwanken. Auf der Krim waren 54 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen für die Unabhängigkeit. Nimmt man als Grundlage für die Berechnung die Gesamtzahl der auf der Krim eingetragenen Wahlberechtigten, so haben dort ca. 30–35 Prozent der Wahlberechtigten für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt.[17]

Die Ukraine rechtfertigte ihre Sezession von der Sowjetunion zumindest implizit mit dem internationalen Recht auf Selbstbestimmung.[18] Das ukrainische Unabhängigkeitsreferendum wurde von Hunderten ausländischer Beobachter und Berichterstatter begleitet.[19] Drittstaaten nahmen es sehr positiv auf und stützten sich auf das Ergebnis, um ihre Anerkennung der Ukraine als Staat zu rechtfertigen. Russland erkannte die Unabhängigkeit der Ukraine sofort an. Auch der damalige US-Präsident George H. Bush hatte vor dem Referendum für den Fall einer Zustimmung zur Unabhängigkeit die Anerkennung versprochen (bzw. nicht ausgeschlossen).[20]

Alle Staaten verwiesen auf die demokratische Legitimität der Entscheidung. Russlands Präsident Boris El’cin erklärte am 4. Dezember 1991, dass Russlands Führung „die Unabhängigkeit der Ukraine in Übereinstimmung mit der demokratischen Willensäußerung ihres Volkes“ anerkennen würde.[21] Die Vereinigten Staaten stellten nach dem Referendum offiziell fest, dass sie „diesen Ausdruck von Demokratie begrüßen“.[22] Auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) lobten ausdrücklich das demokratische Verfahren der Abstimmung.[23] Der Gegensatz zur den internationalen Reaktionen auf das Krim-Referendum vom 16. März 2014 ist eindrücklich.

Frühere Gebietsreferenden auf der Krim seit 1991

Das Referendum auf der Krim im März 2014 war nicht das erste auf der Halbinsel in den vergangenen 25 Jahren.[24] Noch vor Auflösung der Sowjetunion organisierten Befürworter eines höheren territorialen Status der Krim dort am 20. Januar 1991 eine Befragung ohne jegliche formale Rechtsgrundlage. Die Frage lautete: „Halten Sie die Wiedererrichtung der ASSR Krim für notwendig?“ 80 Prozent der 1 160 000 Stimmberechtigten nahmen teil. 93,3 Prozent der Teilnehmer – also 74,6 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung – antworteten mit „Ja“. Mit ukrainischem Gesetz vom 12. Februar 1991 wurde die ASSR Krim errichtet.[25] Die politische Intention der autonomistischen politischen Kräfte auf der Krim war eine sukzessive Erhöhung des Status des Territoriums, wobei eine Option war, dass die Krim später einer erneuerten „Union der Souveränen Sowjetrepubliken“ als selbständiger Gliedstaat (losgelöst von der Ukraine) beitreten sollte. Krimpolitiker standen damals tendenziell dem Erhalt bzw. der Erneuerung der Sowjetunion positiv gegenüber, und dies stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der gesamtukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, welche die Auflösung der Sowjetunion anstrebte oder hinnahm.

Obwohl die seit dem 1. Januar 1992 unabhängige Ukraine Ende April 1992 ein Gesetz über den Status der Autonomen Republik Krim erlassen hatte,[26] rief das Regionalparlament der Krim am 5. Mai 1992 die staatliche Unabhängigkeit der Republik Krim aus. Die Umsetzung dieser Erklärung wurde von ihrer Bestätigung durch ein Volksreferendum abhängig gemacht, das für den 2. August 1992 angesetzt wurde.[27] In diesem Referendum sollten die beiden Fragen lauten: „Sind Sie für eine unabhängige Republik Krim in Union mit anderen Staaten?“ und „Stimmen Sie dem Akt über die staatliche Unabhängigkeit der Republik Krim zu?“[28] Bereits am nächsten Tag, am 6. Mai 1992, verabschiedete das Regionalparlament auch eine Verfassung der Republik Krim, die eine Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine auf einer bundesstaatlichen bzw. konföderativen Grundlage vorsah (Art. 1 Abs. 1 und 2 und Art. 9 der Verfassung). Der damalige ukrainische Präsident Leonid Kravčuk verurteilte die Ankündigung als Verletzung der ukrainischen Verfassung. Kiew bot dann Verhandlungen über einen Sonderstatus der Krim an, so dass das Parlament der Krim am 21. Mai 1992 seine frühere Unabhängigkeitserklärung zurückzog[29] und die Durchführung des Referendums aussetzte.[30] Nach Protesten des ukrainischen Parlaments wurde auch die Verfassung der Krim durch das Gesetz der Republik Krim vom 25. September 1992 dem ukrainischen Recht angepasst.[31] Danach erhielt die Krim weitreichende Autonomie, insbesondere in wirtschaftlichen Angelegenheiten.

Am 27. März 1994 – dem Tag der ersten Parlamentswahlen in der unabhängigen Ukraine sowie der Wahlen zum Regionalparlament der Krim – wurden dann jedoch im Zuge einer „Befragung“ der Bevölkerung der Krim drei Fragen vorgelegt. Sie sollte bekunden, ob die auf Drängen Kiews suspendierte Vorschrift der Krimverfassung vom 6. Mai 1992 wieder aufleben soll, nach der die Beziehungen zwischen der Ukraine und der Krim auf der Basis von Verträgen und Abkommen geregelt werden sollten. Die zweite Frage betraf die doppelte Staatsangehörigkeit, die dritte Frage war, ob den Erlassen des Präsidenten der Krim in Angelegenheiten, die vorübergehend noch nicht durch Gesetze der Republik Krim geregelt waren, Gesetzeskraft eingeräumt werden sollte. Der Sprecher des Präsidenten der Krim gab nach der „Befragung“ an, 80 Prozent der Abstimmenden hätten mit „Ja“ auf diese drei Fragen geantwortet.[32] Am 20. Mai 1994 entschied das Regionalparlament der Krim mit großer Mehrheit, die Verfassung der Krim vom 6. Mai 1992 wieder einzusetzen.[33] Doch das ukrainische Parlament erklärte diese Rechtsakte später für null und nichtig.[34]

Diese Ereignisse werfen die Frage auf, ob das Recht auf Selbstbestimmung verbraucht werden kann. Konkret: Wie schnell kann eine gebietsbezogene Entscheidung, die in einem Referendum getroffen wurde, durch eine neue Abstimmung revidiert werden? Die Mehrheit der Abstimmenden – nicht der Wahlberechtigten – der Krim hatte in dem ukrainischen Referendum Ende 1991 für eine Sezession der Ukraine von der UdSSR gestimmt. Obwohl es hier oberflächlich gesehen nur um eine Abstimmung für oder gegen den Verbleib der Ukraine in der Sowjetunion ging, kann man das Abstimmungsergebnis auf der Krim als Manifestation der Bereitschaft der Krimbevölkerung interpretieren, das politische Schicksal der Ukraine zu teilen (und als mittelbare Ablehnung der Idee, ohne den Rest der Ukraine in der Sowjetunion zu verbleiben). Das Resultat des zweiten Referendums (der Befragung vom 27. März 1994), weniger als drei Jahre später, stellte eine gewisse Richtungsänderung dar. Jedoch hatten sich auch die Rahmenbedingungen fundamental geändert. Die Vereinigung mit der Russländischen Föderation, die offensichtlich von den Krimpolitikern auf lange Sicht angestrebt wurde, war eine neue Option, die zum Zeitpunkt des ersten Referendums nicht existiert hatte.

Wie reagierte Russland? Schon als die Krim 1992 erstmals versuchte, sich von der Ukraine abzuspalten, erließ der Oberste Sowjet Russlands am 21. Mai 1992 einen Beschluss, in dem er den Beschluss des Obersten Sowjet der UdSSR von 1954, mit dem die Krim im Jahr 1954 der Ukraine zugeordnet wurde, für verfassungswidrig und null und nichtig ab initio erklärte. Die Krim-Frage sollte „auf der Basis zwischenstaatlicher Verhandlungen zwischen Russland und Ukraine unter Beteiligung der Krim und auf der Grundlage einer Willensäußerung ihrer Bevölkerung geregelt werden“.[35] Jedoch ignorierte Russlands Präsident El’cin diese Entscheidung. Als das Parlament der Krim im Mai 1994 entschied, die Verfassung der Krim vom 6. Mai 1992 wieder einzusetzen, im Einklang mit dem Ergebnis der „Umfrage“ vom 27. März 1994, betonte auch die russländische Staatsduma (die nach der Auflösung des Obersten Sowjet und der Verabschiedung einer neuen Verfassung Ende 1993 gewählt worden war), in einer Erklärung vom 22. März 1995, dass es notwendig sei, die „Ergebnisse der Willensäußerung der Bevölkerung der Krim“ zu respektieren.[36] Jedoch äußerte sich außer Russland kein anderer Staat in einem positiven Sinne zu dieser „Befragung“ von 1994. Im Gegenteil, andere Staaten betonten die territoriale Integrität der Ukraine. Daher erlangte die „Umfrage“ auf der Krim von 1994 keine völkerrechtliche Bedeutung als eine legitimierende Grundlage für einen Gebietswechsel.

Baltische Staaten

In den drei baltischen Sowjetrepubliken wurden im Frühjahr 1991 nicht verbindliche Volksbefragungen über die Frage der Staatlichkeit organisiert.[37] Diese hatten keine Grundlage im sowjetischen Recht und wurden von der sowjetischen Regierung auch für rechtswidrig erklärt. Die Referenden über die Eigenstaatlichkeit der drei baltischen Sowjetrepubliken stießen auf ein enormes internationales Interesse. Dies zeigte sich unter anderem in der Entsendung zahlreicher internationaler Beobachter. Obwohl die Abstimmungen formal unverbindlich waren, schrieben die Organisatoren sowie viele Staaten ihnen eine starke legitimatorische Kraft zu. Westliche Staaten legten Wert auf die Tatsache, dass die baltischen Länder ihre Staatlichkeit in demokratischen Verfahren wiederhergestellt hätten.

Wichtig ist, dass die Ablösung der baltischen Republiken von der Sowjetunion aus völkerrechtlicher Perspektive keine Sezession war. Die baltischen Staaten waren von der Sowjetunion im Jahr 1940 illegal annektiert worden, und die wirksame, über 50 Jahre währende, sowjetische Okkupation konnte die Rechtswidrigkeit des Gebietswechsels nicht durch Ersitzung oder stillschweigende Zustimmung (aquiescence) heilen. Das Prinzip, dass Recht nicht aus einem Rechtsbruch erwachsen kann (ex iniuria ius non oritur), wurde in diesem Fall prinzipiell aufrechterhalten, jedoch punktuell vom gegenläufigen Prinzip der normativen Kraft des Faktischen (ex factis ius oritu) durchbrochen. Kontinuierlicher Protest von Seiten Dritter (westlicher) Staaten verhinderten die Konsolidierung des territorialen Status in der Sowjetunion.

Das bedeutet, dass die unterbrochene Staatlichkeit der baltischen Länder im Jahr 1991 statusmäßig wiederhergestellt wurde, ohne dass ihnen jedoch völkerrechtliche Wiedergutmachungsansprüche wegen der Völkerrechtsverletzungen Russlands eingeräumt wurden.[38] Die Referenden hatten eine Katalysatorwirkung für die Realisierung der „hinkenden“ oder „qualifizierten“ Staatenkontinuität.

Jugoslawien

Auch das Auseinanderbrechen Jugoslawiens wurde von Gebietsreferenden begleitet.[39] Zwischen 1990 und 1992 organisierten alle Republiken, mit Ausnahme Serbiens, Gebietsreferenden: Slowenien (23.12.1990), Kroatien (19.5.1991), Makedonien (8.9.1991) und Bosnien-Herzegowina (1.3.1992) über die Unabhängigkeit, Monte­negro über den Verbleib in Jugoslawien (1.3.1992). Diese Referenden hatten keine unstrittige Rechtsgrundlage im nationalen jugoslawischen Recht, weder im Bundesrecht noch im Verfassungsrecht der sozialistischen Republiken. In einigen Fällen boykottierten ethnische Minderheiten die republikweiten Referenden und organisierten ihre eigenen Autonomiereferenden. Die Gebietsreferenden sollten die politische Forderung nach Unabhängigkeit gegenüber der Zentralregierung, aber auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft unterstützen. Viele Staaten betonten, dass das Recht auf Selbstbestimmung in demokratischen Verfahren oder auf einer demokratischen Grundlage ausgeübt werden müsse. Sie begrüßten die Referenden und drängten auf die Umsetzung ihrer Ergebnisse. Insbesondere die von der damaligen EG eingesetzte Badinter-Kommission forderte ein Referendum für Bosnien-Herzegowina als Vorbedingung der Anerkennung durch die EG.[40]

Im Jahr 2006 wurde die Auflösung Serbien-Montenegros im Einvernehmen beider Staatsteile betrieben. Für diesen Fall schrieb die Staatsverfassung ein Referendum im abspaltungswilligen Staatsteil vor. Ein solches Unabhängigkeitsreferendum fand dann am 21. Mai 2006 in Montenegro statt.[41] Im Kosovo wurden seit 1991 mehrere nicht international anerkannte Referenden abgehalten. Die Unabhängigkeit von 2008 wurde dann mittelbar demokratisch legitimiert.

Weitere Referenden

Gebietsreferenden haben in der jüngeren Vergangenheit auch außerhalb Osteuropas stattgefunden und wurden als Legitimationsgrundlage von Gebietswechseln international anerkannt. So verwiesen viele Staaten bei ihrer Anerkennung des von Äthiopien abgetrennten Neustaates Eritrea auf das Unabhängigkeitsreferendum von 1993.[42]

Jüngere Beispiele sind die Abstimmung über die Autonomie von Grönland (2008), die Abstimmung über die Teilautonomie Curaçaos von den Niederlanden (2009) und das Unabhängigkeitsreferendum in Südsudan (2011).[43] Ein Referendum über den politischen Status der Falkland-Inseln/Malvinas wurde am 10.–11. März 2013 abgehalten. Die Bevölkerung wurde gefragt, ob sie den Status der Insel als Überseegebiet des Vereinigten Königreichs befürwortet oder nicht. Bei einer Wahlbeteiligung von 92 Prozent stimmten 99,8 Prozent der Teilnehmer für einen Verbleib im britischen Territorialverband.[44]

Ein schwieriger Fall ist das von den Vereinten Nationen geplante Referendum über den Status der Westsahara.[45] De jure handelt es sich um ein Gebiet ohne Selbstregierung, das formal noch zu Spanien gehört. In seinem Gutachten zur Westsahara hatte der Internationale Gerichtshof die Durchführung der Dekolonisierung und die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts der „Völker“ des Gebiets mittels einer „freien und echten Willensäußerung“ gefordert.[46] Wir haben es aber nicht mit einem typischen Dekolonisierungsreferendum zu tun, weil der Verbleib bei der früheren Kolonialmacht gar nicht zur Debatte steht. Seit über 30 Jahren wird auf dieses Referendum hingearbeitet, es wird jedoch immer wieder verschoben.[47]

Indirekt-demokratische Legitimation von Gebietswechseln

Nach dem geltenden Völkerrecht ist der Volkswille ein zentraler Faktor der Legitimation einer Staatsgründung. Der Wille des Kollektivs – bzw. der Mehrheit seiner Angehörigen – kann nicht nur durch ein faires und freies Unabhängigkeitsreferendum, sondern auch bei demokratischen Wahlen, idealerweise unter internationaler Aufsicht, ermittelt werden. Die wichtigsten Fälle der nur indirekt demokratischen Legitimation von Gebietswechseln nach 1989 sind die deutsche Wiedervereinigung (1990), die Aufspaltung der Tschechoslowakei (Ende 1992) und die Abtrennung des Kosovo von Serbien (2008).

Der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland, der mit dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990[48] sowie dem Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland – dem sogenannten Zwei-Plus-Vier-Vertrag – vom 12. September 1990[49] mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 vollzogen wurde, war nicht durch ein Gebietsreferendum legitimiert. Als demokratische Basis galten vielmehr die Wahlen zur Volkskammer der DDR vom 18. März 1990, bei denen es für alle Bürger erkennbar um die Weichenstellung für die politische und rechtliche Zukunft der DDR ging. Die neugewählte DDR-Volkskammer fasste mit den Stimmen von mehr als zwei Dritteln der Abgeordneten einen Beschluss, mit dem der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 erklärt wurde.[50] Rechtsfolge des Beitritts war die Beendigung des Staates DDR.

In der alten Bundesrepublik hatten die letzten Bundestagswahlen 1987 stattgefunden, und die Wiedervereinigung war kein Thema. In den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen vom 2. Dezember 1990 wurde die bereits vollzogene Vereinigung nicht mehr in Frage gestellt. Insoweit kann in den guten Wahlergebnissen derjenigen Parteien, welche die Wiedervereinigung vorangetrieben haben, eine indirekte Legitimation der Wiedervereinigung gesehen werden.

Die Institutionen und Gerichte der Bundesrepublik hatten durchgängig die Auffassung vertreten, dass das Völkerrechtssubjekt Deutschland („Deutsches Reich“) mit einem einheitlichen gesamtdeutschen Staatsvolk als Völkerrechtssubjekt (latent) fortbestanden habe.[51] Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist somit mit dem Beitritt der Krim zu Russland weder in politischer noch in juristischer Hinsicht vergleichbar.

Die Tschechoslowakei – ab März 1990 offiziell Tschechoslowakische Föderative Republik, ab April 1990 Tschechische und Slowakische Föderative Republik ‑ wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1993 ohne Legitimation durch ein vorhergehendes Referendum in zwei Staaten aufgelöst.[52] Die Frage einer Teilung des Staats war ab 1990 intensiv diskutiert worden. Präsident Václav Havel hatte ein Referendum über eine Teilung befürwortet. Zahlreiche Meinungsumfragen und eine Unterschriftensammlung zeigten immer wieder, dass es keine Mehrheit in der Bevölkerung für die Aufteilung des Staates geben würde, während gleichzeitig die Mehrheit ein Referendum über die Frage wünschte. Jedoch verabschiedete das Parlament Ende 1992 ein Verfassungsgesetz, das eine Auflösung des Staates ohne Volksabstimmung ermöglichte. Diese wurde zum 1. Januar 1993 wirksam.

Die demokratische Legitimation und damit auch die Völkerrechtskonformität dieser Staatsteilung sind umstritten. Auf der einen Seite wird vertreten, dass sie die völkerrechtliche Anforderung einer direkt- oder indirekt-demokratischen Legitimation von Gebietsveränderungen nicht erfüllte.[53] Auf der anderen Seite fällt ins Gewicht, dass zu den Parlamentswahlen von 1992 keine relevanten gesamttschechoslowakischen Parteien angetreten waren und dass als Sieger in beiden Landesteilen Parteien hervorgingen, die sich als nicht kompromissbereit positioniert hatten. Schließlich mobilisierte sich die Bevölkerung praktisch nicht gegen die von der Elite betriebenen Aufteilungspläne. Somit könnten mit aller Vorsicht diese Wahlen ähnlich wie die Volkskammerwahlen in der DDR gewertet werden: als eine indirekte Entscheidung des Volkes für die Staatsteilung.[54]

Der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar 2008 gingen mehrere, nach 1991 abgehaltene Unabhängigkeitsreferenden voraus, deren Fairness allerdings zweifelhaft war.[55] Im Jahr 2008 wurde die Unabhängigkeit von einer demokratisch gewählten Führung erklärt. Der Wille des Volkes zur Eigenstaatlichkeit hatte sich letztlich in den Wahlen vom 17. November 2007 manifestiert, die vom UN-Generalsekretär als fair und „im Einklang mit internationalen und europäischen Maßstäben“ qualifiziert wurden.[56] In der Literatur wird allerdings vereinzelt die Auffassung vertreten, dass die Sezession des Kosovo wegen der Unterlassung eines Unabhängigkeitsreferendums völkerrechtswidrig gewesen sei.[57]

Völkerrechtliche Regeln zur Durchführung von Gebietsreferenden

Das völkerrechtliche Referendumsgebot

Gebietsreferenden sind eine stark politisierte Materie, sie liegen im Schnittbereich von Politik und Recht. In der Phase vor der Erstarkung des Selbstbestimmungsrechts zu einem harten Rechtssatz des Völkerrechts wurden sie als innere Angelegenheit des betroffenen Staates angesehen. So hielt die Expertenkommission zur Aaland-Frage im Jahr 1920 fest:

"Allgemein gesprochen ist die Zuerkennung oder Verweigerung des Rechts eines Teils einer Bevölkerung, ihr eigenes politisches Schicksal durch Plebiszit oder durch eine andere Methode zu bestimmen, ausschließlich ein Attribut der Souveränität eines jeden Staates, der endgültig konstituiert ist."[58]

An dieser Feststellung ist ferner bemerkenswert, dass die Kommission das „Plebiszit“ als das Normalverfahren für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ansah, selbst wenn das Selbstbestimmungsrecht damals bestenfalls internationales soft law war.

Referenden finden außerdem in einem Überlappungsbereich von Völker- und Verfassungsrecht statt.[59] Unmittelbare Rechtsgrundlagen der Referenden sind bilaterale zwischenstaatliche Verträge, Verträge oder weiche Abmachungen zwischen dem Mutterstaat und nichtstaatlichen Akteuren (Befreiungs- bzw. Unabhängigkeitsbewegungen), Beschlüsse internationaler Organisationen, nationale Gesetze und Verfassungsvorschriften, oft mehrere Rechtsgrundlagen in Kombination. Die klassische Verfassungsnorm zu Gebietsreferenden ist sicher Art. 53 Abs. 3 der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958: „Eine Abtretung, ein Tausch oder der Erwerb von Staatsgebieten sind nur mit Einwilligung der betroffenen Bevölkerung gültig.“ Diese Vorschrift geht auf die Praxis nach der französischen Revolution zurück.[60]

Die Existenz nationalrechtlicher Vorschriften über ein Referendum schließt indes nicht aus, dass diesen ein völkerrechtliches Gebot zugrunde liegt bzw. dass diese Rechtsnormen (gewollt oder ungewollt) völkerrechtlich fundiert sind. Völkerrecht muss immer durch staatliches Recht umgesetzt werden. Beispielsweise kann man sagen, dass die Dekolonisierungsplebiszite aufgrund der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also auf ein völkerrechtliches Prinzip, und durch die Überwachungspraxis der Vereinten Nationen internationalisiert worden sind, selbst wenn sie technisch in erster Linie durch Vorschriften der Kolonialmacht geregelt wurden. Referenden sind nicht zuletzt deshalb völkerrechtsrelevant, weil sie Vorgänge begleiten, mit denen ein neues Völkerrechtssubjekt geschaffen wird und die die territoriale Integrität eines Staates berühren, und schließlich, weil sie u.U. ein Verfahren der Ausübung des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts darstellen.

Es ist weiter fraglich, ob die verschiedenen formaljuristischen Kategorien des Gebietswechsels für seine potentielle Referendumspflichtigkeit eine Rolle spielen. Dies ist für das Krim-Referendum von 2014 relevant, weil der Statuswechsel sowohl als Sezession und Fusion als auch als Annexion qualifiziert werden könnte. Die Referenden zwischen 1914 und 1989 betrafen fast ausschließlich Zessionen (Gebietsabtretungen auf völkervertraglicher Grundlage) sowie die Dekolonisierung (auf der Anspruchsgrundlage des kolonialen Selbstbestimmungsrechts, in aller Regel mit Einverständnis der Kolonialmacht).

Erst nach 1989 begleiteten Referenden auch die Dismembration eines Großstaates (UdSSR) und fortgesetzte Sezessionen, d.i. Abspaltungen gegen den Willen des Mutterstaates (in Jugoslawien).[61] Auch hat die Praxis nach 1989 die Trennlinie zwischen einem unter den Akteuren vereinbarten (konsensualen) Gebietswechsel und der einseitigen Loslösung eines Gebiets ohne oder gegen den Willen der Zentralmacht weiter erodiert. In der Regel ist die Ablösung eines Gebiets von einem Staat oder dessen Auseinanderfallen ein langandauernder Prozess, im Verlaufe dessen sich die politische und rechtsbezogene Haltung der Beteiligten ändern kann. So erklärten etwa Sowjetrepubliken einschließlich der drei baltischen zunächst gegen den Willen der sowjetischen Staatsführung ihre Unabhängigkeit, am Ende war jedoch diese Führung mit den Abspaltungen einverstanden oder fand sich zumindest damit ab.

Die völkerrechtswissenschaftliche Diskussion bezieht sich nach wie vor primär auf Gebietsabtretungen (Zessionen). Vor 1989 herrschte die Ansicht vor, dass kein völkergewohnheitsrechtliches Erfordernis existiere, bei einer solchen Zession ein Referendum (Plebiszit) zu veranstalten.[62] Dies änderte sich ab 1989. Mittlerweile bejahen einige Autoren eine völkerrechtliche Pflicht zur demokratischen Legitimation einer Änderung des Territorialstatus: „Ein Gebietswechsel ohne Rücksicht auf den Willen der betroffenen Bevölkerung ist mit dem Völkerrecht nicht vereinbar“, so R. Wolfrum.[63] Dies soll jedenfalls für Gebietswechsel zwischen existierenden Staaten gelten: „Ein Recht auf ein Plebiszit existiert lediglich in Bezug auf territoriale Veränderungen zwischen existierenden Staaten“, so H.-J. Uibopuu.[64] Der Übergang der Krim von der Ukraine zu Russland ist ein solcher Gebietswechsel, der nach dieser Auffassung referendumspflichtig ist, da kein unabhängiger Staat ausgerufen wurde.

Die Praxis hat sich insbesondere seit 1990 so stark verdichtet, so dass der Verweis auf „insufficient practice“[65] nicht mehr vollständig überzeugt. Außerdem haben die Selbstbestimmungs- bzw. Unabhängigkeitsreferenden den Blick weg von Zessionen auf andere Formen des Gebietswechsels (insbesondere auf die Sezession) gelenkt und gleichzeitig die alten Kategorien der Statusänderung ineinander verschwimmen lassen. Somit hat die neuere Praxis, so meine These, ein völkergewohnheitsrechtliches Erfordernis der demokratischen Legitimation, typischerweise durch ein Referendum, für jegliche Änderungen des territorialen Status zur Entstehung gebracht.[66]

Normativer Status der Durchführungsregeln

Das Völkerrecht fordert nicht nur ein demokratisches Verfahren über territoriale Fragen und verlangt deshalb ein Referendum (oder Wahlen), sondern stellt auch Regeln zu den Modalitäten der Durchführung solcher Referenden auf. Wenn diese nicht eingehalten werden, wenn ein Referendum nach den internationalen Standards nicht frei und fair ist, kann es keine Grundlage im Völkerrecht für den angestrebten Gebietswechsel bilden. Die Verfahren und Modalitäten eines Referendums sind wichtig, weil von ihnen abhängt, ob die Idee eines freien und fairen Gebietsreferendums auch operationell ist. Nur eine operationelle Völkerrechtsregel ist glaubhaft und kann normative Kraft entfalten.

In der Tat haben sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige internationale Regeln und Prinzipien zu der Frage gebildet, wie ein Gebietsreferendum durchgeführt werden muss.[67] Außerdem hat das Völkerrecht nach 1989, insbesondere in Europa, Standards für die Modalitäten von Referenden (nicht speziell gebietsbezogene) als eine Form der Ausübung direkter Demokratie entwickelt.[68]

Nicht alle Regeln über die Durchführung von Referenden leiten sich aus verbindlichem internationalem Recht ab. Einige stellen nur „gute Praxis“ dar.[69] Obwohl die existierenden Völkerrechtsstandards über Gebietsreferenden „offen strukturiert“ sind, auf der unterschiedlichen Praxis vieler Staaten beruhen und einen Spielraum für deren Werturteile und Traditionen lassen,[70] sind jedenfalls einige Kernprinzipien bereits Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts.

Der formale Rechtsstatus der Normen zu den Modalitäten der Gebietsreferenden ist unabhängig von der Frage, ob ein völkergewohnheitsrechtliches Gebot, ein Referendum abzuhalten – oder den Gebietswechsel auf eine indirekt demokratische Weise zu legitimieren – bereits als Bestandteil des harten Völkerrechts existiert (was ich annehme). Sollte dies nicht der Fall sein, greift ein Bedingungsschema ein: Selbst wenn es keine völkerrechtliche Pflicht gäbe, ein Referendum zu organisieren, könnte das Völkerrecht dennoch seine Modalitäten in verbindlicher Weise regeln. Das „Wenn … dann“-Schema ist im Völkerrecht gut etabliert. Beispielsweise gewährt das gegenwärtige Völkergewohnheitsrecht kein Optionsrecht – d.h. kein Recht zur Wahl der Staatsangehörigkeit im Fall eines Gebietswechsels. Wenn aber eine Option entweder durch einen Vertrag oder durch nationales Recht gewährt wird, dann müssen die Fristen für die Ausübung dieses Rechts vernünftig sein.[71] Dasselbe „Wenn … dann“-Schema gilt in Bezug auf die Zulassung von Fremden zum Staatsgebiet[72] und im Bereich der sozialen Menschenrechte.[73] Im Ergebnis gilt: Wenn ein Staat – oder völkerrechts­relevanter nichtstaatlicher Akteur – beschließt, ein Referendum abzuhalten, dann muss dies auch internationalen Standards genügen. Wenn diese Standards nicht respektiert werden, dann kann das Gebietsreferendum nicht als Rechtsgrundlage für den Gebietswechsel dienen.

Schon im Zuge der Dekolonisierung hatte die UN-Generalversammlung genaue Verfahrensanforderungen aufgestellt, allerdings nicht für den weit üblicheren Fall der Etablierung eines unabhängigen Staates, sondern nur für den seltenen Fall der „freien Assoziation“ eines (nicht selbstregierten) Gebiets mit einem anderen Staat und für dessen „Integration mit einem anderen Staat“:[74]

"Die freie Assoziation sollte das Ergebnis einer freien und freiwilligen Wahl der Völker des betroffenen Gebiets sein. Die Integration sollte das Ergebnis der frei ausgedrückten Wünsche der Völker des Gebiets sein, die in voller Kenntnis ihres Statuswechsels handelten, nachdem ihre Wünsche in einem informierten und demokratischen Prozess, der unparteiisch und auf der Grundlage des allgemeinen Erwachsenen Wahlrechts durchgeführt wurde, ausgedrückt wurden. Die Vereinten Nationen könnten, wenn sie dies für notwendig erachten, diese Verfahren beobachten."[75]

Die hier von den Vereinten Nationen aufgestellten demokratischen Abstimmungsregeln sind nach Sinn und Zweck auf die Integration der Krim in die Russländische Föderation übertragbar – unabhängig davon, ob dem Vorgang der Integration eine Sezession der Krim vorausging oder ob die Statusänderung insgesamt als gewaltsame Integration, also als Annexion, qualifiziert wird. Es wird sogleich sichtbar, dass diese Standards nicht beachtet wurden, dass die Assoziation/Integration nicht „frei“ war. Die wichtigsten und „harten“ völkerrechtlichen Standards betreffen die Friedlichkeit; das allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahlrecht; die Rahmenbedingungen der Medienfreiheit und Neutralität der Behörden und schließlich die internationale Referendumsbeobachtung.

Befriedung

Aus dem völkerrechtlichen Gewaltverbot ergibt sich, dass das Selbstbestimmungsrecht nur in friedlichen Verfahren ausgeübt werden darf.[76] Die Dekolonisierungsresolution der UN-Generalversammlung hatte für Kolonialvölker ausdrücklich das Gebot der Friedlichkeit aufgestellt, indem sie festhielt, dass „abhängige Völker […] ihr Recht auf volle Unabhängigkeit friedlich und frei auszuüben“ haben.[77]

Die Befriedung des Gebiets ist die klassische Voraussetzung für ungehinderte Abstimmungen über Gebietsfragen. In den historischen Zessionsreferenden (also Abstimmungen auf der Grundlage zwischenstaatlicher Verträge über die Abtretung von Gebiet), die für die Ziehung von Grenzen zwischen Nachbarstaaten im Gefolge von Kriegen entwickelt wurden, ist die Befriedung durch die „Neutralisierung“ des Gebiets durch Rückzug oder Reduktion von Truppen beider beteiligter Staaten realisiert worden. Die Befriedung kann auch die Auferlegung eines Waffenstillstandes erfordern. Die wissenschaftliche Autorität zu Gebietsreferenden, die Politikwissenschaftlerin Sarah Wambaugh, hielt bereits 1933 fest: „Ein Plebiszit, dass nicht wirksam neutralisiert wurde, ist ein Verbrechen gegen die Bewohner dieser Region.“[78]

Allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahl

Wahlen müssen allgemein, gleich, frei und geheim sein. Dies sind die völkerrechtlich anerkannten Grundprinzipien des Wahlrechts, wie sie in Art. 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und in Art. 3 des ersten Protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention ausgedrückt sind. Die demokratische Komponente des Rechts auf Selbstbestimmung verlangt, dass diese Prinzipien auch bei der Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung gewahrt werden. Um die allgemeine und unverfälschte Stimmabgabe zu garantieren, müssen alle Abstimmenden ordentlich registriert werden. Dies war etwa beim Referendum in der Ostukraine vom 11. Mai 2014 eindeutig nicht der Fall. In Bezug auf das Element der „allgemeinen“ Abstimmung ergeben sich schwierige Fragen zur Eingrenzung des Kreises der Stimmberechtigten.

Rahmenbedingungen

Um die Grundprinzipien der demokratischen Abstimmung zu realisieren, muss eine Reihe typischer Maßnahmen ergriffen werden. Um eine freie Abstimmung zu erlauben – welche die Freiheit der Abstimmenden zur Bildung einer Meinung und ihre Freiheit, diese Meinung auch auszudrücken, umfasst –, müssen Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, Kampagnenfreiheit, das heißt Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit für politische Zwecke sowie Bewegungsfreiheit garantiert werden. Die Verwaltungsbehörden müssen eine neutrale Haltung einnehmen, insbesondere gegenüber der Referendumskampagne, der medialen Berichterstattung, bei der öffentlichen Finanzierung und bei der Gestattung von Demonstrationen.[79]

Internationale Beobachtung

Die eherne internationale Voraussetzung für ein gültiges Gebietsreferendum ist eine effektive internationale Beobachtung, die idealerweise eine Übertragung von Kompetenzen über alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Referendum auf eine internationale Institution umfasst. Zumindest müssen internationale Beobachter und Hilfspersonal stationiert werden. Die fundamentale Regel der internationalen Beobachtung hat sich schon im Kontext der Plebiszite herausgebildet, die vom Völkerbund und von den Vereinten Nationen organisiert wurden. Diese Referenden wurden von internationalen Institutionen vorbereitet und organisiert oder zumindest beobachtet. Seit den 1990er Jahren hat sich überdies – unabhängig von spezifischen Gebietsreferenden – die Praxis der internationalen Wahlbeobachtung etabliert. Das Erfordernis der Wahlbeobachtung wird heute als internationaler, allseits akzeptierter Standard angesehen,[80] wenn auch nicht als harte Völkerrechtsnorm.

Die Richtlinien der Venedig-Kommission über die Veranstaltung von Referenden definieren als Erfordernis der internationalen Beobachtung:

"Die Beobachtung darf sich nicht auf den Abstimmungstag selbst beschränken, sondern muss die Referendumskampagne und, wo angemessen, auch die Phase der Registrierung der Abstimmenden und die Phase der Unterschriftensammlung umfassen. Sie muss es ermöglichen festzustellen, ob Unregelmäßigkeiten vor, während oder nach der Abstimmung erfolgten. Sie muss immer während der Stimmauszählung möglich sein. […] Beobachter sollten überallhin gelangen, wo Operationen im Zusammenhang mit dem Referendum stattfinden (zum Beispiel Stimmenzählungen und Nachprüfung). Orte, zu denen Beobachter nicht zugelassen sind, sollen klar festgelegt werden, und auch die Gründe für den Ausschluss der Beobachter."[81]

Der Sinn und Zweck der internationalen Beobachtung ist offensichtlich: Selbst wenn Vertreter internationaler Organisationen nur passive Beobachter sind, werden ihre Berichte über den Wert entscheiden, der dem Referendum von der internationalen Gemeinschaft zugesprochen wird. Die Anwesenheit der Beobachter ist eine Garantie für die Organisatoren und die Abstimmenden, dass die internationalen Standards über Verfahren, Organisation und Rahmenbedingungen von Gebietsreferenden eingehalten werden.

Die historische Erfahrung zeigt, dass eine internationale Beobachtung von Gebietsreferenden möglich ist. Organisationen, die in die Durchführung und/oder Beobachtung von Gebietsreferenden bisher involviert waren, sind vor allem die Vereinten Nationen, die EU, die Organisation der afrikanischen Einheit (OAU) und die KSZE/OSZE.

In der Staatenpraxis sind nur diejenigen Gebietsreferenden, die unter internationaler Beobachtung stattfanden, von anderen Staaten anerkannt worden. Im Gegensatz dazu wurden geheime Abstimmungen, zum Beispiel das Referendum in der Krajina vom 10. November 1991, nicht anerkannt. Die von der Europäischen Gemeinschaft eingesetzte Schiedskommission vertrat die Ansicht, „dass der Wille der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina, eine SRH [eine serbische Republik von Bosnien-Herzegowina] als souveränen und unabhängigen Staat zu gründen, nicht als erwiesen angesehen werden kann“.[82]

Die völkerrechtliche Irrelevanz des Krim-Referendums vom März 2014

Völkerrechtliche Qualifikation der Änderung des territorialen Status der Krim

Im Fall der Krim hat sich das Territorium abgespalten, nur um sich wenige Tage später mit dem Nachbarstaat Russland zu vereinen. Die Unabhängigkeitserklärung des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim und des Rates der Stadt Sevastopol’ vom 11. März 2014 hatte die Unabhängigkeit für den Fall einer positiven „direkten Willensäußerung der Völker der Krim am 16. März“ erklärt (Punkt 1). In Punkt 3 der Erklärung wurde angekündigt, dass sich die Krim im Falle eines positiven Votums an die Russländische Föderation mit der Bitte um Aufnahme in diesen Staat auf der Grundlage eines „zwischenstaatlichen Vertrages“ wenden werde.[83]

Ein solcher Vorgang könnte als Fusion von zwei Staaten – ähnlich wie die Aufnahme der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1990 oder die Fusion von Nord- und Südjemen zum Vereinigten Jemen im Jahr 1991 – erscheinen. Sie könnte wohl kaum als Zession (Abtretung) der Krim von der Ukraine an Russland gewürdigt werden (so wie z.B. die Zession Alaskas von Russland an die USA im Jahr 1867), weil die Vertreter des ukrainischen Staates hierzu nicht zugestimmt hatten. Aus demselben Grund kann man auch kaum von einer Dereliktion (Aufgabe) der Krim durch die Ukraine sprechen.

Am besten passt die Qualifikation als Annexion. Annexion ist die gewaltsame Ergreifung und Einverleibung von Gebiet. Nach dem geltenden Völkerrecht verletzt eine Annexion das in der UN-Charta verankerte Verbot der Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt. Historische Beispiele für rechtswidrige Annexionen, die mittlerweile wieder rückgängig gemacht wurden, sind die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg oder die von Osttimor durch Indonesien im Jahr 1975. Es ist typisch, dass solche Annexionen mit Scheinargumenten – beispielsweise der „Zustimmung“ eines unfreien Parlaments, einer „Einladung“ des Aggressors durch eine Marionettenregierung – verbrämt werden.

Dieser Annexion ging eine Sezession voraus.[84] Die Sezession ist die Abspaltung eines Gebiets eines Staates ohne das Einverständnis der Zentralregierung – wie etwa die des Kosovo von Serbien im Jahr 2008. Aus juristischer Sicht muss hiervon (idealtypisch) die einvernehmliche Aufteilung eines Staates, wie jene der Tschechoslowakei Ende 1992 oder des Sudan in den Nord- und Süd-Sudan im Jahr 2011, unterschieden werden.

Fehlende Voraussetzungen für eine „abhelfende“ Sezession

Wenn man den Statuswechsel der Krim als Sezession mit einer darauf folgenden unmittelbaren Fusion mit Russland auffassen will, muss dessen Völkerrechtskompatibilität anhand der sehr strengen Voraussetzungen der remedial secession („abhelfende“ Sezession) beurteilt werden. Prinzipiell findet eine Sezession nicht im völkerrechtsfreien Raum statt (wie früher oft angenommen wurde), sondern es gibt einige völkerrechtliche Regeln hierzu. Tendenziell verbietet das Völkerrecht Sezessionen, da diese auf den ersten Blick dem Grundsatz der Unversehrtheit des Staatsgebiets zuwiderlaufen. Ausnahmsweise wird aber vom Völkerrecht eine reaktive, „notfallmäßige“ Sezession toleriert. Dieser Grundsatz wird auf eine Passage der UN-Deklaration über freundschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten aus dem Jahr 1970 gestützt.[85] Die „abhelfende“ Sezession kommt dann in Betracht, wenn ein Volk massiv diskriminiert wird, wenn sonstige Menschenrechtsverletzungen an den Mitgliedern der Gruppe begangen werden und/oder wenn dem Volk dauerhaft die Teilnahme an der politischen Herrschaft verweigert wird. In dieser Notlage soll das „interne“ Selbstbestimmungsrecht umschlagen in ein Recht auf „externe“ Selbstbestimmung in Form der Gründung eines separaten Staates.[86]

Krimbevölkerung als möglicher Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker

Die erste Voraussetzung für die Duldung einer solchen „abhelfenden“ Sezession wäre, dass die Bevölkerung der Krim als Träger des völkerrechtlichen Rechts auf Selbstbestimmung gelten kann. Der gemeinsame Artikel 1 der beiden UN-Menschenrechts­pakte umschreibt den Träger des Selbstbestimmungsrechts, das „Volk“, nicht näher. Das kanadische Verfassungsgericht stellte in einer Entscheidung zu einem geplanten Unabhängigkeitsreferendum in Quebec, der französischsprachigen Provinz Kanadas, fest, dass der völkerrechtliche Begriff des „Volkes“ ziemlich unklar sei. Jedenfalls könne aber ein „Volk“ auch aus einem Teil der Bevölkerung eines existierenden Staates bestehen. Anders gewendet, „Volk“ im Sinne des Selbstbestimmungsrechts muss nicht unbedingt das gesamte Staatsvolk bedeuten.[87]

Klar ist ferner, dass der kollektive Träger des Rechts auf Selbstbestimmung nicht unbedingt ethnisch, sprachlich oder kulturell definiert werden muss. Es entspricht der Staatenpraxis und ist auch in normativer Hinsicht vorzugswürdig, das Kollektivrecht einer Gruppe von Personen zuzugestehen, die auf einem bestimmten Gebiet leben und die ihr politisches Bestreben eint, eine politische Gemeinschaft mit einer eigenen territorialen Basis zu bilden.

Dies ist das Konzept von „Volk“ oder „Nation“ in der französischen Tradition, und dies wird tatsächlich von vielen multiethnischen, multikulturellen und mehrsprachigen Völkern in der Welt gelebt, angefangen vom Schweizervolk über das nigerianische Volk bis hin zum chinesischen Volk. Der gesamte Dekolonisierungsprozess, der juristisch auf das Prinzip der kolonialen Selbstbestimmung gestützt wurde, legte immer Bevölkerungen (unabhängig von ihrer ethnischen Zusammensetzung) als Träger oder Subjekt des Kollektivrechts zu Grunde. Damit knüpfte diese Praxis nicht an äußerliche gemeinsame Merkmale der Gruppenmitglieder an, sondern an ihre territoriale Basis und an den politischen Willen der Gruppenmitglieder.

Rekurriert man mit dieser Praxis auf das politische Selbstverständnis der Gruppe, so muss die Absicht der betroffenen Personen, ein „Volk“ zu bilden (das dann wiederum das „personelle“ Element des neuen Staates darstellen soll),[88] „frei“ ausgedrückt werden (so der gemeinsame Art. 1 der UN-Menschenrechtspakte von 1966). An dieser Stelle greifen die Verfahrensstandards.

Die Bevölkerung der Krim könnte trotz ihrer polyethnischen Zusammensetzung prinzipiell als eigenständiges Volk im Sinne des Völkerrechts qualifiziert werden. Dies würde allerdings einen Prozess der Selbstkonstituierung als „Krim-Volk“ voraussetzen. Ein solcher könnte sich in verschiedenen politischen Aktivitäten der vergangenen 15 Jahre ausgeprägt haben. Gegen die Qualifizierung dieses Prozesses als volks- bzw. nationsbildend spricht wiederum, dass diese politische Bewegung marginalisiert war und dass die Nationalbewegung der Tataren mit übergeordneter ukrainischer politischer Identität auf der einen Seite und das Selbstverständnis ethnischer Russen auf der anderen Seite die Bevölkerung der Krim nicht nur kulturell, sondern auch politisch spalteten. Die Annahme eines eigenständigen Völkerrechtssubjekts „Krim-Volk“ kommt also primär dann in Betracht, wenn die Willensbekundung im Referendum vom 16. März 2014 als ausreichend für die Konstituierung dieses Volkes angesehen wird. Für eine solche extrem großzügige subjektivierende Sichtweise finden sich in der Dekolonisierungspraxis viele Beispiele, jedoch unterscheidet sich der Fall der Krim dadurch, dass der politische Wille dieses mutmaßlichen „Volkes“ nicht auf Eigenstaatlichkeit, sondern (nur) auf die Erlangung eines Autonomiestatus innerhalb Russlands gerichtet war.

Die mangelnde Präzision der völkerrechtlichen Vorschriften zum Träger des Rechts auf Selbstbestimmung hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Selbstbestimmungs-„Einheiten“ (Personengruppen), die berechtigt wären, eine Mehrheitsentscheidung über ihr politisches Schicksal zu treffen, nicht auf vernünftige Art und Weise eingegrenzt werden können. Schon die juristisch entscheidende Abgrenzung zwischen „Volk“ und „Minderheit“ ist in Wirklichkeit nicht praktikabel. Das internationale Recht auf Selbstbestimmung wird nur Gruppen zugesprochen, die als Volk gelten. Anderen Gruppen, etwa kulturellen Minderheiten, die kein Volk im Sinne des Völkerrechts bilden, wird kein Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt. Beide Arten von Gruppen werden aber außerhalb des eben erwähnten Dekolonisierungskontexts, der auf den politischen Willen abstellte, anhand von Merkmalen der Kultur, Sprache usw. definiert. Die Einordnung einer Gruppe (wie etwa der Basken oder Korsen) als „Volk“ oder als „Minderheit“ erscheint oft willkürlich.

Auch gehören die meisten Individuen zu überlappenden Gemeinschaften (die durch Sprache, Religion, Ethnizität, politische Präferenzen usw. definiert werden). Menschen schreiben diesen und anderen Zugehörigkeiten – je nach Kontext – nicht dieselbe Bedeutung zu, und dementsprechend kann sich ihre kollektive Identität auch verändern. Beispielsweise war es im sozialistischen Jugoslawien vielen Menschen egal, oder sie wussten noch nicht einmal genau, ob sie Bosnier oder Kroaten waren. Je nachdem, welches „objektive“ Kriterium eingesetzt wird, sieht das Kollektiv, das unter Zuhilfenahme dieses Merkmals gebildet wird, anders aus. Dieses Problem kann nur gelöst werden, wenn das Recht auf Selbstbestimmung individualistisch und demokratisch konzipiert wird. Das zweite Argument für ein solches individualistisches und demokratisches Verständnis ist, dass das Recht auf Selbstbestimmung die Gefahr birgt, ein fiktives (möglicherweise ethnisch determiniertes) Volk als letzte Autorität zu hypostasieren. Dies birgt wiederum die Gefahr der Unterminierung von persönlicher Freiheit und Menschenrechten.

Aus einer demokratischen Perspektive, die auch das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung beinhaltet, kommt es auf den Wunsch und Willen derjenigen Personen an, die von der Zuordnung eines Gebiets zum einen oder anderen Staat in ihren Lebensverhältnissen intensiv betroffen sind.[89] Dies sind wegen der Befugnis des Staates, in seinem Gebiet hoheitliche Maßnahmen mit Wirkung für alle Bewohner zu erlassen, in erster Linie die Bewohner dieses Gebiets.

Das „Recht“, über das eigene politische Schicksal mitzubestimmen, sollte schlussendlich auf Individuen zurückgeführt werden und auf deren Rechte bezogen werden. Die Abstimmung über das Gebiet muss nicht (und sollte nicht) als Entscheidung eines „Volkes“ als des moralisch relevanten Akteurs konzeptualisiert werden. Zwar ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker formaljuristisch ein Kollektivrecht. Aus moralischer Perspektive sind Kollektivrechte möglicherweise am sinnvollsten als Eingeständnis der Tatsache zu verstehen, dass Menschen in einer sozialen Gemeinschaft leben müssen, um sich entfalten zu können und um ihre Rechte genießen zu können.

Ein Problem der individualistischen Sichtweise ist, dass aus dieser Perspektive eine genuine Realisierung des Rechts auf Selbstbestimmung es zu fordern scheint, dass immer kleinere Einheiten dazu ermächtigt werden müssten, eine unabhängige Entscheidung über ihr Gebiet zu treffen. Tatsächlich ist dies in der Ukraine passiert: Es begann mit der gesamtukrainischen Abstimmung im Jahr 1991, setzte sich mit Referenden der Krimbewohner fort und wird möglicherweise mit einer Abstimmung der Krimtataren weitergehen. Müsste dann nicht am Ende jedem einzelnen Menschen gestattet werden, frei über seine Staatsangehörigkeit (und damit einhergehend über seine Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft) zu entscheiden – unabhängig vom Wohnsitz? Ein solches System würde die Existenz von politischen Gemeinschaften verhindern und letztlich nicht den sozialen Bedürfnissen von Menschen dienen. Aus diesem (praktischen) Grund macht der Verweis auf die Gruppe Sinn – nicht wegen eines eigenständigen moralischen Wertes dieser Gruppe. Anders gewendet, das Kollektivrecht „Selbstbestimmung“ ist flankierend und letztlich abgeleitet von den Interessen, Bedürfnissen und Rechten der Gruppenmitglieder. Im Ergebnis könnte die Krimbevölkerung, im Einklang mit der Staatenpraxis, als Volk und damit als Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker qualifiziert werden.

Fehlerhaftes Verfahren

Damit aber die Krimbevölkerung als politischer Akteur und potentieller Träger des kollektiven Rechts auf Selbstbestimmung in rechtmäßiger Weise eine extreme Form dieses Rechts ausüben könnte – nämlich die Sezession und den Zusammenschluss mit einem anderen Staat –, hätten spezifische prozedurale und materielle Voraussetzungen vorliegen müssen, die hier allesamt fehlten.

Ein freies und faires Referendum ist ein Verfahren der Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung. Somit ist ein Gebietsreferendum zulässig und hat sich sogar als Standardverfahren für die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung herausgebildet.[90] Eine zweite verfahrensmäßige Voraussetzung für die Ausübung dieses Kollektivrechts ist die Friedlichkeit des Prozesses. Drittens darf eine Sezession nur als allerletztes Mittel der Wahl ins Spiel kommen. Sie kann nur hingenommen werden, wenn alle anderen auszuhandelnden Strategien zur Verwirklichung der inneren Selbstbestimmung, die nicht die territoriale Integrität des Gesamtstaates beeinträchtigen, gescheitert sind. Vorrangig sind also in jedem Fall territoriale Autonomie, Minderheitenschutz und politische Partizipation etwa mittels einer zweiten Parlamentskammer oder eines Regionalparlaments innerhalb des unversehrt bleibenden Gesamtstaates zu suchen. Es hätten also erst einmal Verhandlungen unter Beteiligung aller betroffenen Parteien über die Gebietsfrage geführt werden müssen, um eine konsensuale Lösung zu finden. Dies war nicht der Fall.

Keine Verletzung des „inneren“ Selbstbestimmungsrechts

Selbst unter der Annahme, dass die Krimbevölkerung Träger des Selbstbestimmungsrechts ist, kann man nicht von einer Verletzung ihrer „inneren“ Selbstbestimmung sprechen. Das Scheitern einer Reform der ukrainischen Verfassung zur Stärkung der politischen Autonomie und der Gesetzgebungskompetenzen der Krim stellen noch keine Verweigerung des inneren Selbstbestimmungsrechts der Krimbevölkerung dar.[91]

Allerdings kam das im April publizierte Weißbuch des russländischen Außenministeriums, das Fotos vor allem neonationalsozialistischer Aktivitäten zeigt, zu dem Schluss, dass im Zeitraum von November 2013 bis März 2014 mit der „aktiven und mehrdimensionalen Unterstützung von Seiten der USA, der EU und ihrer Mitgliedstaaten“ in der Ukraine eine Rebellion stattfand, in deren Gefolge weitverbreitete und grobe Menschenrechtsverstöße“ durch die „selbsternannte Regierung und ihrer Unterstützer“ begangen wurden.[92]

Der Bericht reagiert auf den ebenfalls im April veröffentlichten Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.[93] Dieser registrierte vereinzelte Vorfälle, aber keine weitverbreiteten oder systematischen Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe auf der Krim. Er hielt jedoch fest, dass stark übertriebene Medienberichte über ethnisch motivierte Gewalt und systematische Falschinformation ein Klima der Angst und Ungewissheit erzeugt hätten, was sich in der Befürwortung des Anschlusses der Krim an Russland niederschlug.[94] Der Bericht einer internationalen Organisation ist prima facie glaubwürdiger als derjenige der in den Konflikt involvierten Regionalmacht. Im Ergebnis waren also auf der Krim keine der materiellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen für die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts in der extremen Form der Sezession erfüllt.

Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine

Da die Voraussetzungen für eine „abhelfende“ Sezession nicht gegeben waren, verletzte der Anschluss der Krim an Russland die territoriale Integrität der Ukraine. Das Prinzip ist in der Schlussakte von Helsinki,[95] in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta, in Art. 1 und 2 des Budapester Memorandums vom 5. Dezember 1994 sowie in Art. 2 und 3 des Freundschaftsvertrages zwischen der Ukraine und der Russländischen Föderation vom 31. Mai 1997 garantiert. Das Prinzip der territorialen Integrität ist im Fall des Gebietswechsel der Krim einschlägig, weil die Bedrohung für diese Integrität unter anderem vom Nachbarstaat ausging und nicht nur von innen heraus.[96] Russland hat die genannten Vertragsvorschriften sowie das Völkergewohnheitsrecht verletzt. Dementsprechend hat nach der Einverleibung der Krim in die Russländische Föderation die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Respekt der territorialen Unversehrtheit der Ukraine angemahnt.[97] Dasselbe steht in einem Entwurf einer Sicherheitsratsresolution, die von 42 Staaten vorgelegt wurde. In der Abstimmung darüber hat sich China der Stimme enthalten. Lediglich das Veto des ständigen Sicherheitsratsmitglieds Russland hat die Annahme dieser Resolution verhindert.[98] Der Wahrung des Prinzips der territorialen Integrität und Stabilität muss hier Vorrang vor Selbstbestimmungsanliegen eingeräumt werden, weil die Rechtsvermutung, dass die hiermit verbundene Stabilität am besten den Interessen von Menschen dient, mangels Erfüllung der Sezessionsvoraussetzungen nicht widerlegt wurde.

Die Verfassungswidrigkeit des Krim-Referendums nach ukrainischem Recht

Das Krim-Referendum war verfassungswidrig.[99] Rechtsgrundlage des Referendums vom 16. März war eine Resolution des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim „über ein Referendum auf der gesamten Krim“ vom 6. März 2014.[100] Diese Resolution wurde auf der Grundlage der Art. 18.1.7 und 26.2.3 der Verfassung der Autonomen Republik Krim verabschiedet. Nach Art. 18.1.7 gehören zu den Kompetenzen der Autonomen Republik Krim die „Ausrufung und Abhaltung eines republikanischen (lokalen) Referendums über Angelegenheiten, die der Zuständigkeit der Autonomen Republik Krim unterliegen“. Nach Art. 26.2.3 gehört die „Annahme einer Resolution über die Abhaltung eines republikanischen (lokalen) Referendums“ zu den Kompetenzen des Obersten Rates. Diese Vorschriften basieren wiederum auf Art. 138.2 der Verfassung der Ukraine, nach der die „Organisation und Durchführung lokaler Referenden in der Kompetenz der Autonomen Republik Krim“ liegt.

Das Referendum vom 16. März war nicht von der ukrainischen Verfassung, die Vorrang vor der Verfassung der Autonomen Republik Krim genießt, gestattet. Zu diesem Schluss kam die Venedig-Kommission[101] auf der Basis der folgenden Analyse: Art. 2 Abs. 2 der Verfassung der Ukraine lautet: „Die Souveränität der Ukraine erstreckt sich auf ihr gesamtes Gebiet. Die Ukraine ist ein Einheitsstaat. Das Gebiet der Ukraine innerhalb ihrer gegenwärtigen Grenzen ist unteilbar und unverletzlich“. Nach Art. 132 der Verfassung der Ukraine ist „die territoriale Struktur der Ukraine auf den Prinzipien der Einheit und Unteilbarkeit des Staatsgebiets gegründet“. Nach Art. 134 der Verfassung „ist die autonome Republik Krim ein untrennbarer konstituierender Teil der Ukraine und entscheidet über die Angelegenheiten im Rahmen ihrer Kompetenz in den Grenzen ihrer Zuständigkeit, die durch die Verfassung der Ukraine bestimmt wird.“ Somit genießt die Autonome Republik Krim Autonomie nur in dem Maße, in dem ihr Kompetenzen durch die Verfassung der Ukraine übertragen worden sind. Art. 135 der ukrainischen Verfassung bestimmt, dass „Rechtssätze oder Akte des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim und Entscheidungen des Ministerrates der Autonomen Republik Krim nicht der Verfassung und den Gesetzen der Ukraine widersprechen dürfen […].“ Weil Art. 134 der ukrainischen Verfassung die Krim als untrennbaren konstituierenden Teil der Ukraine definiert, würde die Sezession der Krim eine Verfassungsänderung erfordern. Eine Verfassungsänderung dieser Art wird jedoch durch Art. 157 Abs. 1 verboten, der eine Art Ewigkeitsklausel beinhaltet.[102]

Die Venedig-Kommission hat – meiner Ansicht nach korrekt – geschlossen, dass "die ukrainische Verfassung ein lokales Referendum, das das Gebiet der Ukraine verändern würde, verbietet und dass die Entscheidung, ein lokales Referendum auf der Krim auszurufen, nicht von den Kompetenzen, die den Behörden der Autonomen Republik Krim übertragen wurden, gedeckt ist."[103]

Jedoch ist aus einer völkerrechtlichen Perspektive die verfassungsrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Referendums irrelevant. Deshalb wird der potentielle internationale Wert des ukrainischen Referendums vom 16. März nicht durch seine Verfassungswidrigkeit gemindert. Es ist sogar typisch, dass Gebietsreferenden, die in der Ausübung des völkerrechtlichen Rechts auf Selbstbestimmung abgehalten werden, nach dem Recht des Mutterstaates verfassungswidrig sind. Beispielsweise hatte der damalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbačev, vor dem litauischen Referendum vom 9. Februar 1991 erklärt, dass die baltischen Referenden illegal und ihre Ergebnisse null und nichtig seien. Dennoch hatten die damalige Europäische Gemeinschaft und zahlreiche andere internationale Akteure die Entscheidung begrüßt, Referenden über die baltische Unabhängigkeit (d.h. die Wiederherstellung ihrer Staatlichkeit) abzuhalten.[104]

Missachtung der völkerrechtlichen Durchführungsstandards

Das Krim-Referendum hat keines der genannten vier Bündel völkerrechtlicher Standards respektiert. Die Abstimmung, ihre Vorbereitung und Auszählung wurden nicht von offiziellen internationalen Wahlbeobachtern begleitet. Stattdessen übten russländische Truppen de facto die Kontrolle auf der Krim aus, sie hatten Militärstützpunkte und administrative Einrichtungen in ihre Gewalt gebracht und waren während des Referendums anwesend. Die OSZE hatte eine Beobachtung des Referendums abgelehnt, mit der Begründung, dass das Referendum den Verfassungsanforderungen nicht entspräche und keine Einladung von Seiten der Ukraine ausgesprochen worden war.[105] Dementsprechend konnte der ordnungsgemäße Ablauf des Referendums nicht überprüft werden. Im Gegenteil, das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, dessen Delegation die Ukraine im März bereiste, erwähnt zahlreiche Berichte über Abstimmungsbetrug, Schilderungen über Abstimmende ohne ukrainische Staatsbürgerschaft sowie über Mehrfachabstimmungen Einzelner in verschiedenen Wahllokalen.[106]

Die Venedig-Kommission hatte vor der Veranstaltung des Referendums vom 16. März ein Gutachten verabschiedet. Sie qualifizierte das Referendum als problematisch aus der Perspektive „europäischer Verfassungsprinzipien“ – im Sinne eines gemeineuropäischen Rechts. Die Venedig-Kommission hielt – noch vor dem Referendum – fest, dass „eine Reihe von Umständen es fraglich machen, dass das Referendum vom 16. März 2014 in Übereinstimmung mit internationalen Standards abgehalten werden“ könne.[107] Diese Umstände waren: Erstens mangelte es an Rechtsklarheit: Die Rechtsvorschriften, nach denen das Referendum abgehalten wurde, waren unklar, weil die Ukraine kein Gesetz über lokale Referenden hatte. Zweitens fehlte es an der Grundbedingung der Friedlichkeit. Die zumindest implizite Drohung der Anwendung militärischer Gewalt, die von der massiven öffentlichen Präsenz von Truppen aus Russland sowie unbekannten Truppen ausging, behinderte die freie Willensbildung der Abstimmenden. Dies wird durch den Bericht des UN Hochkommissars für Menschenrechte bestätigt:

"Die Anwesenheit von paramilitärischen und sogenannten Selbstverteidigungsgruppen sowie von Soldaten ohne Abzeichen, die von vielen für Soldaten aus Russland gehalten wurden, trug ebenfalls nicht zu einem Klima bei, in dem die Wähler ihren Willen frei ausüben konnten. Berichten zufolge wurde einigen Personen der Personalausweis/Pass vor der Abstimmung von nicht identifizierten Milizen abgenommen, ebenso führten nicht identifizierte unautorisierte Personen in Anwesenheit der regulären Polizei Durchsuchungen und Personenkontrollen durch."[108]

Drittens ist zweifelhaft, ob die Meinungsfreiheit auf der Krim respektiert wurde. Viertens war die demokratische Debatte und Meinungsbildung aufgrund der extrem kurzen Zeitspanne von nur zehn Tagen zwischen der Entscheidung der Veranstaltung des Referendums und dem Referendum selbst schwierig. Fünftens waren die Behörden der Krim nicht neutral, wie sich am Beschluss des Obersten Rates der Krim vom 11. März zeigt, die Unabhängigkeit der Krim – aufschiebend bedingt durch das Referendumsergebnis – auszurufen. Sechstens hatten keine Verhandlungen über eine einvernehmliche Lösung unter den betroffenen Gruppen, insbesondere unter Beteiligung aller ethnischen Gruppen der Krim (Russen, Ukraine, Tataren und andere) stattgefunden.

Die Fragestellung war übrigens auf den ursprünglichen Plan des Anschlusses an Russland abgestimmt. Geplant war ein Gesetz zur Änderung des russländischen Verfassungsgesetzes vom 17. Dezember 2001 über das Verfahren der Aufnahme und der Bildung eines neuen Subjekts der Russländischen Föderation. Art. 4 sollte – in Anspielung auf das Konzept der Schutzverantwortung – um einen Absatz ergänzt werden, der sinngemäß vorsah, dass dann, wenn in einem Staat keine souveräne Staatsgewalt besteht, die verpflichtet ist, ihre Bürger zu schützen, die Aufnahme in die Russländische Föderation auch ohne Abschluss eines Vertrages erfolgen könne. Dieses Gesetz verabschiedete die Duma dann aber nicht.[109]

Schließlich ist die Verletzung der Grundregel der Befriedung und Neutralisierung von überragender Wichtigkeit für die Bewertung des Krim-Referendums. Es fand vor den Maschinengewehrläufen und Panzern der Armee Russlands oder nicht identifizierter Truppen statt. Schon aus diesem Grund kann das Referendum keine völkerrechtliche Kraft entfalten.[110]

Es kann auch nicht argumentiert werden, dass angesichts der Geschichte der Krim selbst in Abwesenheit der russländischen und der unbekannten Truppen sich in jedem Fall eine Mehrheit der Wähler für einen Beitritt zu Russland entschieden hätte. Ein solches Argument ist nicht akzeptabel, weil das Verbot der Abhaltung eines Referendums in einem nicht befriedeten Gebiet, unter Androhung von Gewalt, genau das prozedurale und formale Mittel ist, um die Berufung auf einen angeblichen wirklichen Willen der betroffenen Bevölkerung auszuschließen. Wie sich jetzt zeigt, macht es das Fehlen von Beobachtern unmöglich, die Richtigkeit der offiziellen Angaben zu überprüfen. Nach diesen Angaben sprachen sich bei einer Wahlbeteiligung von 83,1 Prozent 93 Prozent der Abstimmenden für die Vereinigung der Krim mit Russland aus. Demgegenüber äußerten sich das Mitglied des Menschenrechtsrats beim Präsidenten Russlands, Evgenij Bobrov, sowie die Menschenrechtlerinnen Svetlana Gannuškina und Ol’ga Cejtlina nach einer Reise auf der Krim so:

"Nach Meinung praktisch aller befragten Experten und Bürger hat die überwiegende Mehrheit der Bewohner Sevastopol’s bei dem Referendum für einen Anschluss an Russland abgestimmt (Beteiligung 50–80 Prozent), auf der Krim haben nach verschiedenen Angaben 50–60 Prozent der Abstimmenden für einen Anschluss an Russland gestimmt (Beteiligung 30–50 Prozent)."[111]

Wenn dies zuträfe, hätten nur ca. 15 bis 30 Prozent der Stimmberechtigten für den Anschluss votiert.

Ein Sprecher der Krimtataren erklärte, dass diese das Referendum vom 16. März boykottiert hätten und die Mehrheit von ihnen einen Verbleib in der Ukraine bevorzugte. Krimtataren stellen ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung der Krim. Hunderttausende Tataren wurden zwischen den 1920er und 1940er Jahren unter der Sowjetherrschaft getötet, ausgehungert und deportiert. Die neue Regierung der Krim lehnt die Errichtung eines politisch autonomen Gebiets für die Krimtataren ab und hält fest, dass die Tataren lediglich „kulturelle Autonomie“ genießen könnten.

Internationale Reaktionen auf das Krim-Referendum

Die internationale Reaktion auf das Krim-Referendum war ablehnend. Die UN-Generalversammlung verabschiedete eine Resolution mit dem Titel „Territoriale Integrität der Ukraine“, welche „unterstreicht, dass das Referendum, das in der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sevastopol’ am 16. März 2014 abgehalten wurde, nicht gültig ist und nicht die Grundlage einer Änderung des Status der Autonomen Republik Krim oder der Stadt Sevastopol’ bilden kann“.[112] Staaten, die an der Plenardebatte der Generalversammlung teilnahmen, sprachen sich explizit in diesem Sinne aus.[113] Andere Staatenvertreter befanden das Referendum für illegal – ohne zu spezifizieren, ob nach ukrainischem Verfassungsrecht, nach Völkerrecht oder nach beidem –,[114] oder dass es nach ukrainischem Verfassungsrecht illegal war,[115] oder dass das Referendum eine Völkerrechtsverletzung darstellte.[116] Nur ein Staat in der Generalversammlungsdebatte war der Auffassung, dass das Referendum rechtmäßig war: Nordkorea.

Einen Tag vor dem Referendum diskutierte der UN-Sicherheitsrat einen Resolutions­entwurf, der von 42 Staaten vorgelegt wurde.[117] Dieser „nimmt mit Besorgnis die Absicht, ein Gebietsreferendum über den Status der Krim am 16. März 2014 abzuhalten, zur Kenntnis“ (Präambel) und

"erklärt, dass dieses Referendum keine Gültigkeit haben kann und nicht die Grundlage irgendeiner Änderung des Status der Krim bilden kann, und fordert alle Staaten, internationalen Organisationen und Sonderagenturen auf, die Änderung eines Staates der Krim auf der Basis dieses Referendums nicht anzuerkennen."[118]

Diese Resolution wurde durch das Veto von Russland blockiert, China enthielt sich. Weitere regionale internationale Organe und Staatengruppen stellten gleichermaßen die völkerrechtliche Irrelevanz des Krim-Referendums fest und verweigerten dessen Anerkennung. So stellte die Parlamentarische Versammlung des Europarats fest: „Das Ergebnis dieses Referendums […] hat keine Rechtswirkung.“[119] Ebenso äußerten sich die Staats- und Regierungschefs der G 7-Gruppe[120] und die Repräsentanten der EU.[121]

Diese Verurteilungen – vor allem von Seiten westlicher Staaten – stehen in krassem Gegensatz zu den internationalen Reaktionen auf das frühere ukrainische Referendum vom 1. Dezember 1991. Diese Abstimmung war ausdrücklich und offiziell begrüßt worden, unter anderen von der damaligen EG und ihren Mitgliedstaaten sowie von den Vereinigten Staaten von Amerika.

Der Vergleich dieser Reaktionen – 1991 und 2014 – zeigt, dass Gebietsreferenden einen entscheidenden Faktor für die Legalisierung von Gebietsveränderungen darstellen, aber nur wenn sie ordnungsgemäß durchgeführt werden – und im Fall einer nicht-konsensualen Abspaltung auch nur, wenn die weiteren strengen materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.

Fazit zum Krim-Referendum

Das Krim-Referendum am 16. März 2014 stellte nicht als solches eine Völkerrechtsverletzung dar. Die Modalitäten und Rahmenbedingungen standen jedoch nicht im Einklang mit europäischen und internationalen Standards in dieser Materie. Außerdem kam keine „abhelfende Sezession“ in Betracht. Damit waren weder die prozeduralen noch die materiellen Voraussetzungen für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts in der Form einer Sezession der Krim – und ihre unmittelbar folgende Vereinigung mit der Russländischen Föderation – gegeben. Deshalb konnte das Referendum den Statuswechsel der Krim nicht rechtfertigen.

Das ostukrainische Referendum vom 11. Mai 2014 erfüllte die völkerrechtlichen Bedingungen ebensowenig. Die lokalen Organisatoren hatten keinen Zugang zu aktuellen offiziellen Wahllisten; Wahllokale waren nicht flächendeckend im gesamten Gebiet, über das abgestimmt wurde, geöffnet; die Wahlzettel konnten nach Belieben fotokopiert werden; eine unabhängige Überprüfung der Auszählung fehlte. Für diese eklatanten Mängel bei der Organisation und Abwicklung der Abstimmung gibt es zahlreiche Belege.

Aus all dem folgt, dass das Referendum auf der Krim sowie jene in den ostukrainischen Gebieten Donec’k und Luhans’k einen Missbrauch der Institution des Gebietsreferendums darstellen. Dritte Staaten dürfen die Änderung des territorialen Status der Krim nicht anerkennen. Die Pflicht zur Nichtanerkennung schwerwiegender Verletzungen grundlegender Normen des Völkerrechts, insbesondere von Gebietswechseln unter Verletzung des Gewaltverbots, ist gewohnheitsrechtlich fundiert. Sie hat sich aus der sogenannten Stimson-Doktrin der 1930er Jahre entwickelt und wurde vom IGH im Gutachten von 2004 zum Bau der israelischen Sperrmauer bestätigt.[122] Diese Nichtanerkennung ist eine wichtige Konsequenz einer solchen Völkerrechtsverletzung, weil sie die Konsolidierung von völkerrechtswidrigem Gebietserwerb verhindert. Dementsprechend fordert die erwähnte Resolution der UN-Generalversammlung vom 27. März die Staaten zur Nichtanerkennung des Gebietswechsels der Krim auf.[123]

Selbstbestimmungsreferenden: Ausdruck von Demokratie
oder von Ethnonationalismus?

Die Referendumspraxis nach 1989 ist in der völkerrechtlichen Literatur überwiegend als Verbindungsstück zwischen dem (staatsrechtlichen) Demokratieprinzip und dem (völkerrechtlichen) Selbstbestimmungsrecht angesehen worden und damit gleichzeitig als Indiz für die Herausbildung eines völkerrechtlichen Demokratiegebots.[124] Damit wurde aber die demokratische Komponente (und das demokratische Potential) dieser Referenden nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch von den westlichen Staaten, die sie einforderten, beobachteten und begrüßten, möglicherweise überschätzt. Denn wenn, wie es in den osteuropäischen – vor allem den jugoslawischen – Abstimmungen meist der Fall war, die Befürworter eines neuen Staates (und einer neuen Grenze) zu einer bestimmten ethnischen Gruppe gehören, reflektiert das Abstimmungsergebnis oft einfach die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Selbst wenn also die „Ethnizität“ der Bevölkerung nicht als formales Kriterium für die Veränderung des territorialen Status eingesetzt wird, schlägt sie über das Referendum durch.

Auch in der Folge der Staatsgründungen zeigte sich, dass diese Gebietsreferenden weniger zum Aufbau guter Regierungsstrukturen als zum Anfachen von Ethnonationalismus beigetragen haben, wie Russell Miller unter der Überschrift „Selbstbestimmung und der Niedergang der Demokratie?“ gezeigt hat.[125] Nach Miller waren die osteuropäischen Referendumsergebnisse kein Ausdruck demokratischer Entscheidung, sondern lediglich eine Akt der Tyrannei der (ethnischen) Mehrheit, der alles weitere charakterisierte. Es fand keine demokratische Alteration (Absetzung der aktuellen Mehrheit und Machtergreifung der früheren Minderheit, jeweils auf Zeit, für eine Legislaturperiode) statt, jedenfalls nicht, sofern Minderheit und Mehrheit ethnisch definiert ist.

Auch das Krim-Referendum hat zu einer Art „ethnischer Homogenisierung“ geführt. Zwar bleibt die Bevölkerung der Krim, die (angeblich) mehrheitlich für die Ablösung von der Ukraine und den Anschluss an Russland gestimmt hat, ethnisch gemischt. Es wurde auch kein neuer Kleinstaat mit ethnisch homogener Bevölkerung gebildet. Durch die Inkorporation in die Russländische Föderation wurde jedoch die russische Bevölkerung ganz anders positioniert. Nachdem zuvor Russen innerhalb des Gesamtstaats Ukraine eine Minderheit und lediglich lokal eine Mehrheit (gegenüber Tataren und Ukrainern) auf der Krim stellten, wurden nun die tatarischen und ukrainischen Einwohner der Krim in eine lokale und überwältigende gesamtstaatliche Minderheitensituation gedrängt. Auf diese Konstellation trifft die kritische Beobachtung Russell Millers zu:

"Die neukonstituierte Mehrheit, sicher geborgen in neuen Staatsgrenzen, innerhalb derer sie rassische und religiöse Hegemonie genießt, wird nie sagen müssen‚ ich verliere."[126]

Sind also Gebietsreferenden genau das falsche Instrument, um Minderheitenrechte zu schützen? Ist ein Referendum genuin ungeeignet für die Legitimierung von Gebietsarrangements? Tatsächlich ist ein demokratisches Verfahren der Gebietszuteilung unter Berücksichtigung des Willens der betroffenen Bevölkerung sehr störanfällig. Dies gilt aber auch für reguläre Wahlen. Diese sind in vielen Teilen der Welt, auch in der Ukraine und in Russland, wegen prozeduraler Unregelmäßigkeiten, der Schwäche der Zivilgesellschaft, der weitgehend eingeschränkten Medien- und Versammlungsfreiheit nur als „schwach-demokratische“ Verfahren zu werten.

Soll auch für die politischen Entscheidungsprozesse innerhalb dieser Staaten das Ideal der Demokratie aufgegeben werden? Wohl kaum. Wenn also ein Referendum in einem deliberativen und rechtsstaatlichen Rahmen stattfindet, ist es im Vergleich zu den Alternativen – (offenes oder verstecktes) Diktat einer Großmacht (oder mehrerer, z.B. im Sicherheitsrat), rein exekutivische, intergouvernementale Entscheidung der beteiligten Staaten, offene oder versteckte militärische Gewaltanwendung − immer noch das bessere Prozedere. Im Vergleich zu diesen Strategien steht nur das Gebietsreferendum im Einklang mit den gegenwärtigen Prinzipien des Völkerrechts: dem Recht auf (demokratische) Selbstbestimmung und dem Verbot der Anwendung militärischer Gewalt. Es gilt auch für Gebietsreferenden das, was Winston Churchill zu demokratischen Verfahren allgemein gesagt hat: Sie sind die schlechtesten politischen Verfahren, außer allen anderen.[127]

Das jüngste Gebietsreferendum auf der Krim erfüllte allerdings nicht die internationalen rechtlichen Standards eines freien, fairen und friedlichen Referendums. (Außerdem wäre dessen Abhaltung nur eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung dafür, dass ein Gebietswechsel vom Völkerrecht hinzunehmen wäre). Das Krim-Referendum ähnelte eher den Plebisziten, welche die französischen Revolutionäre nach 1789 in von ihnen annektierten Gebieten (z.B. in Avignon, Savoyen, Nizza, später in Belgien) veranstalteten. Deren Ergebnisse wurden jedoch selektiv verwertet. Sie wurden nur dann beachtet, wenn sie zugunsten Frankreichs und für den Anschluss an Frankreich ausgingen, ansonsten wurden sie von den tatsächlichen Gewalthabern ignoriert.[128] Damit fungierten diese französischen Plebiszite als Verbrämung der mit militärischer Gewalt erzielten Eroberungen. Solche kriegerischen Gebietsgewinne waren allerdings nach dem Völkerrecht des 18. und 19. Jahrhunderts – anders als heute – nicht prinzipiell verboten.

Noch während der Phase des völkerrechtlichen Wandels weg von der Anerkennung der Annexion als einem gültigen Rechtstitel hin zur endgültigen Etablierung des Gewaltverbots befand Georges Scelle, dass das Referendum immerhin als „Korrektiv“ der Rechtswidrigkeit einer Annexion fungieren könne.[129] Problematisch wird der Einsatz eines Gebietsreferendums aber dann, wenn es nicht anstelle einer gewaltsamen Annexion, sondern – wie im Fall der Krim – als Verbrämung einer solchen missbraucht wird. Diese Bemäntelung ist im aktuellen Fall derartig fadenscheinig, das kein Staat der Welt – außer Nordkorea – sie anerkennen wollte. Es handelte sich, um die Worte eines Referendums-Skeptikers der Wilson-Ära zu verwenden, um eine „comédie plébiscitaire“.[130]

Anne Peters (1964), Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Heidelberg), Prof. Dr. iur., LL.M. (Harvard), Universitäten Basel und Heidelberg. Die Verfasserin dankt Tigran Beknazar für Recherchen und Übersetzungen aus dem Russischen.

 

 


[1]   Res. Nr. 1702-6/14 vom 6. März; Text wiedergegeben im Urteil des ukrainischen Verfassungsgerichts, Urteil vom 14. März 2014 (No. 2-rp/2014). Englische Übersetzung des Volltexts auf der Internetseite der Ukrainischen Botschaft in Österreich, <http://austria.mfa.gov.ua/ de/press-center/news/19880-rishennya-konstitucijnogo-sudu-ukrajini>. In diesem Urteil verbot das Verfassungsgericht die Veranstaltung und ordnete die Zerstörung der Abstimmungsunterlagen und Werbematerials an – ohne Erfolg.

[2]   Diese wurde am 20. März 2014 vom ukrainischen Verfassungsgericht für ultra vires und verfassungswidrig erklärt (Entscheidung Nr. 3-rp/2014). Englische Zusammenfassung des Urteils auf der Website des Verfassungsgerichts, <www.ccu.gov.ua/en/doccatalog/list?currDir=238920>.

[3]   Urteil vom 19.3.2014, Nr. 6-P, <www.ksrf.ru/ru/Decision/Pages/default.aspx>. Englische Zusammenfassung: <www.ksrf.ru/en/Decision/Judgments/Documents/Resume19032014.pdf>.

[4]   Zum ukrainischen Referendum von 1991 siehe Anne Peters: Das Gebietsreferendum im Völkerrecht. Baden-Baden 1995, S. 184–188.

[5]   Grundlegend: Sarah Wambaugh: A Monograph on Plebiscites. New York 1920. – Dies.: La pratique des plébiscites internationaux, in: Académie de droit international, Recueil des cours 18 (1927-III), S. 149ff. – Dies.: Plebiscites Since the World War, With a Collection of Official Documents, 2 Bände. Washington 1933.

[6]   Antonio Cassese: Self-Determination of Peoples: A Legal Reappraisal. Cambridge 1995, S. 273.

[7]   Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 136–225. – Henry E. Brady, Cynthia S. Kaplan: Eastern Europe and the Former Soviet Union, in: David Butler, Austin Ranney (Hg.): Referendums around the World: The Growing Use of Direct Democracy. London 1994, S. 174–217; Daten zu den Referendumsergebnissen auf S. 193.

[8]   Hierzu im Einzelnen Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 170–178 mwN.

[9]   Die Abstimmungsbeteiligung – bezogen auf die Bevölkerung der neun teilnehmenden Republiken – betrug nach offiziellen Angaben 80,03 Prozent, 77,85 Prozent hätten mit „Ja“ gestimmt. Rechnet man die Bevölkerung der sechs Republiken hinzu, die das Referendum boykottierten, so beteiligten sich nur 72 Prozent der Stimmberechtigten der Sowjetunion, und nur 56 Prozent aller Stimmberechtigten bejahten die Frage.

[10]  Die Frage lautete: „Halten Sie den Erhalt der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken als eine erneuerte Föderation von gleichberechtigten souveränen Republiken, in denen die Rechte und Pflichten jedes Individuums jeglicher Nationalität vollumfänglich garantiert werden, für notwendig?“ Es war nicht eindeutig, was mit „erneuerter Föderation souveräner Republiken“ gemeint war. In einigen Republiken wurden zusätzliche Fragen gestellt.

[11]  Beispielsweise lautete in der Ukraine die Zusatzfrage: „Sind Sie damit einverstanden, dass die Ukraine nach den Grundsätzen der Erklärung über die staatliche Souveränität der Ukraine Mitglied der Union Sowjetischer souveräner Staaten werden soll?“ Die Bejahung der Zusatzfrage (von 80 Prozent der Abstimmenden) konterkarierte im Grunde genommen die Bejahung der Hauptfrage (von 70,2 Prozent der Abstimmenden in der Ukraine), weil die ukrainische Souveränitätserklärung vom 16.7.1990 so weit ging, dass sie eine solche Mitgliedschaft ausschloss.

[12] Das südossetische Unabhängigkeitsreferendum genügte nicht den internationalen Standards der fairen und freien Abstimmung; hierzu Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 209–211.

[13] Ebd., zu Berg-Karabach S. 194–198, zu Tatarstan S. 203–208.

[14] Ebd., S. 181–182.

[15] Gesetz über das Verfahren zur Entscheidung von Fragen im Zusammenhang mit dem Austritt einer Unionsrepublik aus der UdSSR vom 4. April 1990, in: Vedomosti s”ezda narodnych deputatov SSSR i Verchovnogo Soveta SSSR 1990, Nr. 15, S. 252.

[16] Abkommen zur Errichtung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten von Minsk vom 8. Dezember 1991, abgeschlossen zwischen „der Republik Belarus, der Russländischen Föderation (RSFSR) und der Ukraine als Gründerstaaten der UdSSR“; abgedruckt in: International Legal Materials 31 (1992), S. 143ff.

[17]  Amtliche Ergebnisse der zentralen Wahlkommission, aufgelistet nach Oblasti und in Beziehung gesetzt zur ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung; vgl. Vidomost pro resultati Vseukrainskoho referendumu, 1 grudnja 1991, ZDAVO Ukraini, F.1, Op. 28, SPR. 144, Art.6.

[18]  Die ukrainische Souveränitätserklärung vom 16. Juli 1990, Punkt I, begann mit: „Selbstbestimmung der ukrainischen Nation.“ Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 186 mwN.

[19] Siehe den OSZE-Bericht: The December 1, 1991 Referendum/Presidential Election in Ukraine: A Report Prepared by the Staff of the Commission on Security and Cooperation in Europe, 101st Congress, 2nd Session 1992.

[20] Kremlin indicates irritation at Bush on Ukraine stand, in: The New York Times, 29.11.1991.

[21] Izvestija 4.12.1991, S. 1.

[22] Ukrainians vote for Independence. US Department of State Dispatch, Vol. 2, No. 49, 9.12.1991.

[23] Statement by an EPC Ministerial Meeting concerning Ukraine, Doc. No. 91/427. European Political Cooperation Documentation Bulletin vol. 7 (1991), Luxembourg, S. 719.

[24] Zu den früheren Krim-Referenden auch Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 190–191, S. 211–215, mit weiteren Nachweisen.

[25] Gesetz über die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Krim, Gesetz Nr. 712-XII, in: Vidomosti Verhovnoi Radi URSR, 1991, Nr. 9, S. 84.

[26]  Gesetz Nr. 2299-XII vom 29.4.1992, Vidomosti Verchovnoj Rady Ukraïny, 1992, Nr. 30, 419.

[27]  Vedomosti Verchovnogo Soveta Krima 1991–1992, Nr. 6, S. 243.

[28]  Ebd., Nr. 6, S. 244.

[29]  Ebd., Nr. 7, S. 262.

[30]  Vedomosti Verchovnogo Soveta Krima 1991–1992, Nr. 7, S. 265.

[31]  Gesetz der Republik Krim vom 25.9.1992 über die Änderungen und Ergänzungen der Verfassung der Republik Krim, in: Vedomosti Verchovnogo Soveta Krima 1993, Nr. 1, S. 10.

[32] Ukaz Prezidenta Respubliki Krym „O provedenii oprosa graždan Respubliki Krym“, <http://zakon.nau.ua/doc/?uid=1015.22770.0>. – Andrew Wilson: The Election in Crimea, in: RFE/RL Research Report, 25/1994.

[33] Vedomosti Verchovnogo Soveta Krima, 2/1994, S. 73.

[34] Das Gesetz der Republik Krim vom 20.5.1994 und die Verfassung der Krim vom 6.5.1992 wurden vom Parlament in Kiew fast ein Jahr später, am 17. März 1995, durch das Gesetz Nr. 92/95 aufgehoben; Gesetz der Ukraine vom 17.3.95 Nr. 92/95, in: Vedomosti Verchovnoj Rady Ukraïny, 11/1995, S. 67.

[35] Vedomosti S”ezda Narodnych Deputatov i Verchovnogo Soveta RF 1992, Nr. 22, S. 1178.

[36] Erklärung der Staatsduma der Russländischen Föderation Nr. 603-I vom 22.3.1995, in: Sobranie Zakonodatel’stva Rossijskoj Federacii, 13/1995, S. 1120.

[37] Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 136–165.

[38] Grundlegend Lauri Mälksoo: Illegal annexation and state continuity: the case of the incorporation of the Baltic states by the USSR. A study of the tension between normativity and power in international law. Leiden 2003, insb. S. 263f. und S. 289.

[39]  Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 85–136. – Daten und Ergebnisse auf einen Blick in: Brady, Kaplan, Eastern Europe [Fn. 7], S. 208.

[40] Gutachten Nr. 4 der Badinter Kommission, abgedruckt in: ILM 31 (1992), S. 1501–1503.

[41] Rechtsgrundlage war Art. 60 der Verfassungscharta von Serbien und Montenegro vom 4.2.2003. Auf Vorschlag der EU waren eine Mindestbeteiligung von 50 Prozent und eine Zustimmungsquote von 55 Prozent erforderlich, um eine wirksame Entscheidung über die Unabhängigkeit herbeizuführen. Die Beteiligung betrug dann 86 Prozent, 55 Prozent der Teilnehmer sprachen sich für die Unabhängigkeit Montenegros aus. Das Referendum wurde von der International Referendum Observation Mission der OSZE beobachtet. Montenegro trat den Vereinten Nationen am 28. Juni 2008 bei.

[42] Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 225–246.

[43] Rechtsgrundlage war das umfassende Friedensabkommen zwischen dem Sudan und der Sudanischen Volksbefreiungsarmee vom 9.1.2005. Bei einer Beteiligung von 97,6 Prozent sprachen sich 98,8 Prozent für die Abtrennung des Südsudan aus. Dieses Referendum wurde vom Panel des UN-Generalsekretärs über Referenden im Sudan, von der Union Afrikanischer Einheit, von der EU und der NGO „Carter Center“ beobachtet.

[44] Der argentinische Rechtswissenschaftler Marcelo G. Kohen: El referendum en Malvinas o la autosatisfacción britanica, in: El Pais, 5.3.2013, beurteilt das Referendum, das ohne Beteiligung der Vereinten Nationen stattfand, als irrelevant für den völkerrechtlichen Status der Inseln.

[45] United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara (MINURSO), Mandat zuletzt verlängert mit SR Res. 2152 (2014) bis zum 30. April 2015; Report of the Secretary General on the situation concerning Western Sahara (S/2014/258), 10.4.2014.

[46] IGH, Western Sahara, Advisory Opinion, ICJ Reports 1975, S. 12ff., Rn. 162.

[47] Hierzu Erika Conti: The referendum for self-determination – Is it still a solution? The never ending dispute over Western Sahara, in: African Journal of International and Comparative Law, 16/2008, S. 178–196. – Smail Debeche: The international legality of the Western Sahara issue – the objective and non-negotiable solution of a referendum, in: Neville Botha et al. (Hg.): Conference on Multilateralism and International Law with Western Sahara as a case study. Pretoria 2010, S. 151–166. – Siehe auch Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 279–295.

[48] Einigungsvertrag vom 31.8.1990, BGBl. 1990 II, S. 889.

[49] Vertrag vom 12. Sept. 1990, BGBl. 1990 II, S. 1318. Zur Frage der mittelbaren demokratischen Legimitation des Beitritts siehe Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 303–306.

[50]  Bundesarchiv, BArch DA 1/4042.

[51] BVerfG, Grundlagenvertrags-Urteil (Urt. vom 31. Juli 1971, BVerfG 36, 1). BVerfG, Teso-Beschluss (Beschl. v. 21. Okt. 1987, BVerfGE 77, 137).

[52] Maya Hertig: Die Auflösung der Tschechoslowakei. Analyse einer friedlichen Staatsteilung. Freiburg 2001. – Siehe auch Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 264–274.

[53] Hertig., S. 347–370, insb. S. 367f.

[54]  Ebd., S. 281–289. – Jan Rychlík: Rozdělení Československa 1989–1992. Praha 2012; zu den Wahlen S. 291–301.

[55] Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 105–108.

[56] Bericht des Generalsekretärs an den Sicherheitsrat vom 3. Januar 2008, UN Doc. S/2007/768, Rn. 3.

[57] Thomas Fleiner: The Unilateral Secession of Kosovo as a Precedent in International Law, in: Ulrich Fastenrath et al. (Hg.): From Bilaterism to Community Interest: Essays in Honour of Judge Bruno Simma. Oxford 2011, S. 877–894, hier S. 890f., S. 893f.

[58] Report of the International Committee of Jurists Entrusted by the Council of the League of Nations with the Task of Giving an Advisory Opinion upon the Legal Aspects of the Aaland Islands Question, League of Nations, Official Journal Special Supplement No. 3, Oct. 1920, S. 5 (Hervorhebung der Verf.). Die Kommission stellte aber fest, dass die Situation zwischen Russland und Finnland nicht definitiv verfestigt und Finnland noch nicht endgültig als Staat konstituiert sei. Somit handele es sich bei der Aalandfrage nicht um eine innere Angelegenheit Finnlands, so dass der Völkerbundrat eine Empfehlung abgeben dürfe.

[59] Der Enzyklopädie-Eintrag „Referendum“ enthält Ausführungen zu Völker- und Verfassungsrecht; Yves Beigbeder: Referendum. Max Planck Encyclopedia of Public International Law. Oxford 2011.

[60] Wörtlich „Nulle cession, nulle adjonction de territoire n’est valable sans le consentement des peuples intéressées.“

[61] Lediglich das Referendum zur Abtrennung Montenegros von Serbien (2006) wurde im Einvernehmen mit Serbien (auf der Grundlage der gemeinsamen Verfassungscharta) veranstaltet.

[62] Alfred Verdross, Bruno Simmma: Universelles Völkerrecht: Theorie und Praxis. Berlin 31984, §1159. – Robert Jennings, Arthur Watts: Oppenheim’s International Law, Vol. I (Peace), Teilband 2. Harlow 1992, S. 684 (§248). – Ignaz Seidl-Hohenveldern: Völkerrecht. Köln 71992, Rn. 1552.

[63] Rüdiger Wolfrum, in: Georg Dahm et al.: Völkerrecht. Bd. I/1. Berlin 1989, S. 376. – Aus dem Kontext geht hervor, dass sich dieser Befund auf Abtretungen (Zessionen) bezog.

[64] Henn-Jüri Uibopuu bejaht das „Recht auf ein Plebiszit“ nicht für Sezessionen in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts; Henn-Jüri Uibopuu: Plebiscite, in: Rudolf Bernhardt (Hg.): Encyclopedia of Public International Law. Amsterdam 1997, S. 1049–1054, hier S. 1053.

[65]  So noch James Crawford: Brownlie’s Principles of Public International Law. Cambridge 82012, S. 243; wortgleich die Auffassung von Ian Brownlie: Priniciples of Public International Law, Oxford 41990, S. 170 übernehmend.

[66] So implizit das Gutachten Nr. 4 der Badinter Commission zu Bosnien-Herzegowina, das ein Referendum als Vorbedingung für die Anerkennung des neuen Staates durch die EG forderte; abgedruckt in: ILM 31/1992, S. 1501–1503. – Cassese, Self-Determination [Fn. 6], S. 272. Im Schrifttum wird ein völkergewohnheitsrechtliches Referendumsgebot bejaht von Steven Ratner: Drawing a Better Line: Uti Possidetis and the Border of New States, in: American Journal of International Law, 90/1990, S. 590–624, hier S. 622f. – Antonello Tancredi: A Normative „Due Process“ in the Creation of States through Secession, in: Marcelo Kohen (Hg.): Secession – International Law Perspectives. Cambridge 2006, S. 171–207, hier S. 190f. – Urs Saxer: Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung. Heidelberg 2010, S. 777.

[67] Peters, Gebietsreferendum [Fn. 4], S. 499 mwN.

[68] Europarat, Parlamentarische Versammlung, Empfehlung 1704 (2005): Referendums: towards good practices in Europe, 29.4.2005. – Venedig-Kommission: Code of Good Practice on Referendums, Study 371/2005 (CDL-AD(2007)008rev) 20.1.2009. Dort Leitlinien über die Abhaltung von Referenden (Guidelines on the Holding of Referendums).

[69] Venedig-Kommission: Opinion on the Compatibility of the Existing Legislation in Montenegro concerning the organization of referendums with applicable international standards. CDL-AD(2005)041), 19.12.2005, Rn. 11.

[70] Ebd., Rn. 64.

[71] Siehe Art. 11 Abs. 5 des Entwurfs der Völkerrechtskommission über Staatennachfolge und ihre Auswirkungen auf die Staatsangehörigkeit natürlicher und juristischer Personen; ILC draft Articles on State Succession and Its Impact on the Nationality of Natural and Legal Persons, ILC YB 1999, vol. I(2), S. 23. – Yael Ronen betont, dass die Art und Weise, in der eine Staatsangehörigkeitsoption gewährt wird, völkerrechtlichen Begrenzungen unterliegen kann; Yael Ronen: Option of Nationality, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law 2009, <www.mpepil.com>, Rn. 12.

[72] EGMR, 28.5.1985, Abdulaziz, Cabales u. Balkandali v. VK, Beschw.Nr. 9214/80 u.a., Rn. 70 ff.

[73] EGMR, 12.4.2006, Stec v. VK, Beschw.Nr. 65731/01 u. 65900/01, Rn. 53.

[74]  Aus Sicht des UN-Organs war offenbar für dieses Szenario die Gefahr einer Missachtung des wahren Willens der Bevölkerung größer; aus dieser Perspektive bedurfte das Verfahren einer genaueren Regelung als der Normalfall, bei dem die UN ohnehin vermuteten, dass er dem Willen der Bevölkerung entsprach.

[75] UN GV Res. 1541 vom 15.12.960: „Principles which should guide Member States in determining whether or not an obligation exists to transmit the information called for under Article 73e of the Charter“, Prinzipien VI, VIIa) und IX b). Diese Resolution wurde einen Tag nach der Dekolonisierungsresolution erlassen.

[76] IGH: Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in respect of Kosovo. Advisory Opinion of 22 July 2010, ICJ Reports (2010) 403, Rn. 81. – Der personelle Anwendungsbereich des Gewaltverbots über die Adressierung von Drittstaaten hinaus ist allerdings ziemlich unklar: Ist es auch staatsintern an anti-koloniale Befreiungsbewegungen gerichtet? Ist es an sezessionistische Kräfte gerichtet? Vgl. Cassese, Self-Determination [Fn. 6], S. 150–155, S. 196–198. – Die Zulässigkeit einer gewaltsamen Durchsetzung des internen Selbstbestimmungsrechts bejaht Yasmine Nahlawi: Self-determination and the Right to Revolution: Syria, in: Human Rights and International Legal Discourse, 8/2014, S. 84–108.

[77] UN GV, „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“, Res. 1514 (XV) vom 14.12.1960, Ziff. 4.

[78] Sarah Wambaugh: Plebiscites Since the World War: Vol. I. Washington 1933, S. 507.

[79] Venedig-Kommission: Opinion on the Compatibility of the Existing Legislation in Montenegro concerning the organization of referendums with applicable international standards (CDL-AD(2005)041), 19.12.2005, Rn. 12.

[80] Declaration of Principles for International Election Observation, 27.10.2005, erarbeitet von den UN, anderen internationalen Organisationen und NGOs, gegenwärtig unterzeichnet von 47 Akteuren, <www.ndi.org/files/1923_declaration_102705_0.pdf>. – Susan D. Hyde: Catch Us If You Can: Election Monitoring and International Norm Diffusion, in: American Journal of Political Science, 55/2011, S. 356–369. – Dies.: The Pseudo-Democrat’s Dilemma: Why Election Monitoring Became an International Norm? Ithaca 2011. – Judith G. Kelley: Monitoring Democracy: When International Election Observation Works, and Why It often Fails. Princeton 2012.

[81] Venedig-Kommission: Code of Good Practice on Referendums. Study no. 371/2005 (CDL-AD(2007)008rev) vom 20.1.2009, Leitlinien über die Abhaltung von Referenden („Guidelines on the Holding of Referendums“), Punkt 3.2. der Richtlinien, S. 11.

[82] Gutachten Nr. 4 der Badinter Commission, Rn. 3f., abgedr. in: ILM 31 (1992), 1488ff. (1503).

[83] Erklärung der Unabhängigkeit der Autonomen Republik Krim und Sevastopol’s vom 11.3.2014; Text: <www.rada.crimea.ua/news/11_03_2014_1.

[84]  Man könnte den gesamten Vorgang auch gesamthaft (nur) als Annexion qualifizieren, weil die Abspaltung nur sechs Tage vor der Einverleibung in Russland und bereits im Klima der Gewalt stattfand.

[85] UN GV Res. 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970, Absatz 7 e contrario. Grundlegend Lee C. Buchheit: The Legitimacy of Self-determination. New Haven 1978, S. 220–223.

[86] Supreme Court of Canada: Reference Secession of Quebec, Urteil vom 20. Aug. 1998, [1998] 2 S.C.R., abgedr. in ILM 37 (1998), 1340ff., insb. Rn. 138.

[87] Ebd., Rn. 123f. Das Gericht ließ aber offen, ob die Bevölkerung von Quebec ein „Volk“ im Sinne des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts bildet.

[88] Der Staat als Völkerrechtssubjekt besteht aus einem Volk, einem Gebiet und einer effektiven Regierung.

[89] Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker: Die Domestizierung einer Illusion. München 2010, S. 65: „Man sollte von Selbstbestimmung also nur da sprechen, wo die selbstbestimmten Akte tatsächlich auf demokratischer Grundlage stehen. Das ist nur bei Verwendung subjektiver, nicht objektiver Kriterien der Fall.“ (Hervorhebung d. Verf.)

[90] Streng genommen wird das Referendum von den UN-Dokumenten als Selbstbestimmungsverfahren nur für die Fusion vorgeschrieben, nicht für die Errichtung eines unabhängigen Staates (s.o. Fn. 75). Das Verfahren für die Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts durch Völker unter Fremdherrschaft mit dem Ziel der Errichtung eines unabhängigen Staates wird in den UN-Dokumenten nicht ausdrücklich spezifiziert; Cassese, Self-determination [Fn. 6], S. 331.

[91] Supreme Court of Canada [Fn. 86], Rn. 137: „the continuing failure to reach agreement on amendments to the Constitution, while a matter of concern, does not amount to a denial of self-determination“.

[92] Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation: White book on violations of human rights and the rule of law in Ukraine (November 2013 – March 2014). Moscow 2014, S. 63, <www.mid.ru/bdomp/ns-dgpch.nsf/03c344d01162d351442579510044415b/38fa8597760acc 2144257ccf002beeb8/$FILE/White%20Book.pdf>. – Der Bericht gibt der Überzeugung Ausdruck, dass im Fall des Andauerns des Zustandes der Rechtlosigkeit die Situation in eine „Bedrohung des regionalen Friedens und der Sicherheit“ und einer „weiteren Eskalation des internationalen Konflikts in der Ukraine und in Europa im allgemein“ münden wird (S. 64).

[93] Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, Report on the human rights situation in Ukraine, 15.4.2014.

[94] Ebd., Rn. 89.

[95] Helsinki Final Act (1975), Teil 1 (a) „Declaration on Principles Guiding Relations between Participating States“, Prinzip III (Inviolability of frontiers); Prinzip IV (Territorial integrity of States).

[96]  Der internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten über die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo die Auffassung vertreten, dass dieses Prinzip nicht gegen Gruppierungen im Staat gerichtet sei. Nach dieser Logik agieren separatistische Kräfte außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Norm und können sie somit gar nicht verletzen. IGH, Accordance [Fn. 76] – Demgegenüber waren im Kosovo-Verfahren mehrere Staaten der Auffassung (meines Erachtens zu Recht), dass das Prinzip der territorialen Integrität auch eine interne Stoßrichtung hat. Es schützt demnach Staaten unter anderem vor nichtstaatlichen Akteuren, die einen Staat von innen aufbrechen wollen. Dieses Verständnis liegt z.B. Art. 8 Abs. 3 des ICC-Statuts zu Grunde. Hierzu Anne Peters: Das Kosovo Gutachten und globaler Konstitutionalismus, in: Peter Hilpold (Hg.): Das Kosovo-Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010. Leiden 2012, S. 229–258, hier S. 232 mwN.

[97]  GV Res. 11493 vom 27. März 2014, Ziff. 1.

[98]  UN Dok. 189/2014 vom 15. März 2014, Ziff. 1.

[99]  Zu diesem Ergebnis kam auch das ukrainische Verfassungsgericht, Urteil vom 14.3.2014, No. 2-rp/2014. Engl. Übersetzung des Volltexts: <http://austria.mfa.gov.ua/de/press-center/news/19880-rishennya-konstitucijnogo-sudu-ukrajini>.

[100] Resolution Nr. 1702-6/14.

[101] Venedig-Kommission: Opinion Nr. 762/2014, 21.3.2014 (Doc CDL-AD(2014)002): „Whether the decision taken by the Supreme Council of the autonomous Republic of Crimea in Ukraine to organise a referendum on becoming a constituent territory of the Russian Federation or restoring Crimea’s 1992 constitution is compatible with constitutional principles.“

[102] Art. 157 Abs. 1: „Die Verfassung der Ukraine kann nicht geändert werden, wenn die Änderungen […] auf die Beseitigung der Unabhängigkeit oder die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine gerichtet sind.“

[103] Venedig-Kommission, Opinion No. 762/2014 [Fn. 101], Rn. 15.

[104] Siehe zum Beispiel EG, Stellungnahme zu den baltischen Staaten, in: European Political Cooperation Documentation Bulletin, 7/1991, Doc. No. 91/44, S. 101.

[105] Pressemitteilung der OSZE vom 11.3.2014, <www.osce.org/cio/116313>.

[106] Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, Report on the human rights situation in Ukraine, veröffentlicht am 15. April 2014, Rn. 22 und 82.

[107] Venedig-Kommission: Opinion Nr. 762/2014 [Fn.101], Rn. 21f.

[108] Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine, veröffentlicht am 15.4.2014, Rn. 86.

[109] Die Venedig-Kommission bezeichnete den ihr vom Europarat zur Prüfung vorgelegten Gesetzesentwurf als völkerrechtswidrig. Venice Commission, Opinion No. 763/2014, 21.3.2014. CDL-AD(2014)004.

[110] Venedig-Kommission: Opinion Nr. 762/2014 [Fn.101], Rn. 21–26.

[111] Sovet pri prezidente RF po razvitiju graždanskogo obščestva i pravam čeloveka: Problemy žitelej Kryma, <www.president-sovet.ru/structure/gruppa_po_migratsionnoy_politike/materialy/ problemy_zhiteley_kryma.php>. – Der Menschenrechtsrat, dessen Mitglieder der Präsident einlädt, distanziert sich von dieser Stellungnahme. Bobrov habe sie eigenmächtig auf der Seite des Rates veröffentlicht, in dem Bericht seien ausschließlich wertende Urteile der Gesprächspartner wiedergegeben, deren Objektivität und Genauigkeit nicht geprüft worden sei.

[112] UN GV Res. A/68/L39, 27.3.2014, Rn. 5.

[113] Stellungnahme von Ecuador: Das Referendum kann keine Rechtsgrundlage für die Unabhängigkeit bilden (zitiert nach der Presseerklärung).

[114] So die Stellungnahmen von Georgien und Island.

[115] EU (Debatte in der UN-Generalversammlung, 27.3.2014, vormittags). – Venedig-Kommis­sion: Opinion Nr. 762/2014 [Fn. 101].

[116] Moldova und Türkei in der GV-Plenardebatte, 27.3.2014.

[117] UN Dokument 89/2014, 15.3.2014.

[118] Ebd., Rn. 5.

[119] Europarat, PV, Res. 1988 (2014), 9.4.2014.

[120] G-7 Leaders Statement, 12.3.2014, <http://europa.eu/rapid/press-release_STATEMENT-14-65_de.htm>.

[121] Joint statement by President of the European Council Herman Van Rompuy and President of the European Commission José Manuel Barroso on Crimea, 16.3.2014,     <http://europa.eu/ rapid/press-release_STATEMENT-14-71_en.htm?locale=FR>.

[122] Nach dem IGH bezieht sich die Pflicht zur Nichtanerkennung rechtswidriger Situationen auf „wichtige” Rechte und Pflichten. Sie ist nicht auf die Verletzung von ius cogens oder erga omnes Normen beschränkt. ICJ, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, ICJ Reports 2004, 136, Rn. 159. Vgl. auch Art. 41 der Artikel der Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortung: „2. Kein Staat erkennt einen Zustand, der durch eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des Artikels 40 [einer zwingenden Norm] herbeigeführt wurde, als rechtmäßig an oder leistet Beihilfe oder Unterstützung zur Aufrechterhaltung dieses Zustands.“ Resolution der Generalversammlung auf Grund des Berichts des Sechsten Ausschusses (A/56/589 und Corr.1) 56/83, Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen, 28.1.2002 (A/RES/56/83); Übersetzung des Deutschen Übersetzungsdienstes, Vereinte Nationen, New York, <www.un.org/Depts/german/>.

[123] GV Res. 11493, 27.3.2014, Ziff. 6.

[124] Peters, Gebietsreferenden [Fn. 4], S. 387–431. – Zum völkerrechtlichen Gebot, dass Staaten auf eine demokratische Regierungsform hinarbeiten müssen, und zur Völkerrechtsnorm, dass neu entstehende Staaten nur noch als demokratische Staaten zulässig sind: Thomas Franck: The Emerging Right to Democratic Governance, in: American Journal of International Law, 86/1992, S. 46–91. – Gregory Fox: Democracy, Right to, International Protection. Max Planck Encyclopedia of Public International Law. Oxford 2009. – Jean d’Asprémont: L’Etat non démocratique en droit international. Paris 2008. – Anne Peters: Dual Democracy, in: Jan Klabbers et al.: The Constitutionalization of International Law. Oxford 2009, S. 263–241, hier S. 273–277. – Niels Petersen: Demokratie als teleologisches Prinzip: Zur Legitimität von Staatsgewalt im Völkerrecht. Berlin, Heidelberg 2009.

[125] Russel A. Miller: Self-Determination in International Law and the Demise of Democracy? In: Columbia Journal of Transnational Law, 41/2002–2003, S. 601–648.

[126] Ebd., S. 645.

[127] Rede vom 11.11.1947 im Unterhaus, abgedruckt in: Winston Churchill. His Complete Speeches 1897–1963. New York 1974, S. 7566.

[128] Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht [Fn. 89], S. 97–103.

[129] Georges Scelle : Précis de droit des gens: Principes et systématique, Vol. II. Paris 1934, S. 294.

[130] Jean Giroud: Le plébiscite international: étude historique et critique de droit des gens. Le Puy 1920, S. 67 (zu italienischen Plebisziten im Jahr 1860).

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